Es dauerte wohl einige Momente, bis Darius es schaffte, genügend Fassung wieder zu erlangen, dass er längere Zeit am Stück sprechen konnte. Alfred ließ ihn nicht los, vor allem als er während seinen Ausführungen wieder bitterlich zu weinen begann.
Wie in Trance lauschte Alfred den Worten, die immer mehr wie eine Horrorgeschichte klangen, aber mehr und mehr erstaunlich viel Sinn ergaben.
„Ich habe solche Angst um dich“, wisperte Darius, als er geendet hatte.
Alfred streichelte ihn und schüttelte vehement den Kopf.
Er musste erst einmal verarbeiten, was er gerade erfahren hatte, doch das volle Ausmaß davon würde er vermutlich nie begreifen. Er war schockiert. Was sich noch zuerst wie eine plausible Erklärung für Darius‘ Verhalten angehört hatte, schien nun mehr und mehr eine akute Bedrohung für diesen, die Alfred nicht einfach durch das Klären dieser Situation von ihm nehmen konnte.
Es ging hier nicht um Eifersucht, sondern um eine vergangene Zeit voller Angst und Gewalt. Das war keine Erleichterung, doch Alfred hatte das Gefühl, dass es Darius auf irgendeine Weise auch gut tat, darüber zu sprechen. Einfach alles nach draußen zu lassen, was ihn so lange gequält hatte. Sich jemandem anzuvertrauen, und sei es nur, um ihn davor zu warnen, dass dieser furchtbare Mensch in Alfred ein neues Ziel gefunden haben könnte, eben weil Darius so viel für ihn empfand.
„Mir wird nichts geschehen“, beteuerte Alfred, den Tränen nahe, doch er wollte stark sein.
Er hatte keine Angst vor Dahl. Er hatte Angst um Darius.
„Und ich weiß zwar noch nicht wie, aber irgendwie-“, begann Alfred erneut und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, „Irgendwie werde ich dafür sorgen, dass auch dir nichts mehr geschehen wird!“
Es dauerte einige weitere Zeit, bis Darius‘ Tränen getrocknet waren.
Noch mehr davon verstrich, bis sie sich wieder voneinander lösen konnten, um den Schutz der Dunkelheit aufzugeben und wieder ins Innere des Cafés zu treten.
„Möchtest du lieber nach Hause gehen?“ fragte Alfred besorgt, „Ich begleite dich gern.“
Darius schüttelte den Kopf, „Unsinn. Es geht schon wieder.“
„Ich bin mir sicher, wir nehmen ohnehin dieselbe Bahn in eine ähnliche Richtung“, meinte Alfred mit einem zaghaften Lächeln.
Darius schmunzelte leicht, „Nein.“
Alfred hob fragend eine Augenbraue.
„Ich bin mit dem Auto da“, erklärte Darius.
„Theresas Auto, aber ich fahre dich gern nach Hause. Gib mir nur ein paar Minuten, ich wollte dir noch etwas anvertrauen. Und außerdem-“, er lachte verlegen und nickte zum Tisch hin, „Ich hatte uns etwas zu essen bestellt. Es wäre doch sehr unhöflich, jetzt einfach zu gehen, wenn wir dem armen Mann schon solche Umstände bereiten, nachts frühstücken zu wollen.“
Alfred musste von Herzen lächeln.
„Darf ich dich denn einladen?“, fragte er fast schüchtern.
Darius schnaufte amüsiert, „Nur wenn du nochmals einen Chihuahua bestellst!“
Sie lösten ihre Hände voneinander, als sie sich wieder an ihren Tisch setzten. Dort standen bereits frische Kaffeetassen und es dauerte nicht lang nach der Rückkehr, dass der Kellner sie entdeckte und die aufgebackenen Croissants servierte.
„Ich empfehle das nächste Mal eine andere Uhrzeit“, scherzte er noch augenzwinkernd, „Morgens zum Beispiel ist unser Frühstück immer frisch!“
Alfred musste lachen und schrieb sich eine mentale Notiz für ein großzügiges Trinkgeld. Darius unterbrach das geschäftige Kramen in seiner Tasche, um sich höflichst für die Ausnahme im regulären Betriebsablauf zu bedanken und nochmals für die Umstände zu entschuldigen.
„Ach, Umstände sind das keine“, winkte der Kellner grinsend ab, „Ich hoffe nur, ich muss später keine Rezension lesen, in der man behauptet, wir servieren immer das übrig gebliebene Frühstück vom vergangenen Tag!“
Nachdem er die beiden allein gelassen hatte, trafen sich ihre Blicke wieder.
Alfreds Herz klopfte bis zum Hals, als Darius ihn so intensiv ansah.
Seine Augen schimmerten feucht im Kerzenlicht und Alfred konnte sich nicht dazu bewegen, sich aufgrund seiner unbedachten Entscheidung von zuvor schlecht zu fühlen. Sie holten Versäumtes nach, lernten einander besser kennen und auch wenn die Zukunft in den Sternen stand, auch wenn die eben gehörten Worte schmerzhaft waren und es nicht einfacher machten, würde er sich nun um keinen Preis anders entscheiden.
Seine Angst, Darius zu verlieren, hatte sich nicht in Luft aufgelöst, doch es lag nicht daran, dass er die Wahrheit über die Umstände erfahren hatte.
Es schien eher, als wären sie durch diese Sache wieder ein Stück näher zusammengerückt und Alfred konnte sich nicht dagegen wehren, dass wieder hoffnungsvolle Gefühle in ihm hochsprudelten.
Erst recht nicht, als Darius tief Luft holte, als wolle er etwas sagen, stattdessen aber fast herausfordernd das Croissant auf seinem Teller anstarrte.
Alfred beschloss instinktiv, ihn nicht zu beobachten, sondern sich seinem eigenen nächtlichen Frühstück zu widmen. Nur aus dem Augenwinkel erhaschte er ab und an einen kurzen Blick auf die für Außenstehende wenn überhaupt nur schwer zu erfassende Kampfszene.
Mit spitzen Fingern zupfte Darius das Croissant auseinander, mehrmals wandte er sich wieder davon ab, um stattdessen fast hektisch einige Schlücke Kaffee hinunterstürzen. Immer wieder huschten seine Augen zu Alfred, wie um sicherzugehen, dass er ihm nicht zusah und natürlich tat Alfred ihm diesen Gefallen.
Auch als er selbst längst fertig war, tat er so, als würde er immer wieder noch einen Schluck aus der leeren Tasse nehmen, um Darius Zeit zu geben.
Erst als dieser wohl mit dem Griff zur Serviette die Mahlzeit für beendet erklärte, besah sich Alfred zaghaft das Schlachtfeld. Zusammengesetzt hätten die Überreste sicherlich noch das halbe Croissant ergeben, doch das war gerade sehr nebensächlich. Viel wichtiger war der Mann, der sich selbst überwunden hatte, ohne dass irgendjemand ihn dazu gedrängt hatte.
Es dauerte einige Momente, bis Darius ihn mit einem fast herausfordernden Blick ansah und mit den Schultern zuckte, „Siehst du, genau das habe ich dir die Male zuvor lieber ersparen wollen!“
Alfred jedoch sah ihn einfach nur fasziniert an und schüttelte langsam den Kopf. Er konnte nichts Schlechtes daran finden, dass Darius sich Mühe gab.
Dass es nicht einfach war, konnte sich mit Sicherheit jeder Mensch denken, der auch nur einen Funken Empathie besaß. Darius hingegen wirkte frustriert.
„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte Alfred.
Darius wandte beschämt den Blick ab, „Was für ein Unsinn.“
„Nein, gar nicht“, beteuerte Alfred, „Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich exakt einschätzen kann, was für ein großer Schritt in die richtige Richtung das sein muss, aber ich fand es sehr mutig – und wie viel Überwindung es dich gekostet hat, habe ich dir an der Nasenspitze angesehen!“
Mit einem resignierten Seufzen sank Darius zurück gegen die Lehne des Stuhls und gestikulierte in die Luft, „Manchmal klingt eine Idee im Kopf wahnsinnig gut und dann in der Realität fragt man sich, wieso man so bescheuert ist!“
Alfred lächelte sanft, „Möchtest du noch einen Kaffee trinken?“
„Nein“, meinte Darius knapp, „Es tut mir leid, aber ich würde lieber noch ein paar Schritte gehen.“
Alfred nickte verständnisvoll. Dann fasste er sich ein Herz.
„Darf ich dich denn begleiten?“, fragte er zögerlich.
Darius lächelte, „Sehr gern.“
Tatsächlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, dass Alfred schließlich bezahlte. Der nette Angestellte wünschte ihnen noch einen schönen Abend und draußen angekommen empfing sie die milde Nachtluft.
Hand in Hand liefen sie am Ufer entlang, lange Zeit sagte keiner von beiden ein Wort. Darius wirkte nervös und angespannt, Alfred traute sich nicht, danach zu fragen, ob er ein Ziel hatte oder wie weit sie im Stockfinstern überhaupt noch gehen sollten um diese Uhrzeit. Es fiel ihm schwer, sich in einen Kopf hineinzudenken, in dem ein halbes Croissant den zugehörigen Menschen derart aus dem Konzept brachte, doch irgendwann wurden Darius‘ Schritte langsamer und er warf Alfred einen fast entschuldigenden Blick zu.
„Ich hätte ja gern noch unserem Freund Schubert einen Besuch abgestattet, aber ich befürchte, dafür habe ich das Auto an der falschen Stelle geparkt“, meinte er.
Alfred schmunzelte, „Na, wenigstens hast du kein Klavier dabei!“
Darius lachte verlegen und nickte in die Richtung des Weges, auf dem sie hergekommen waren, „Ich würde gern behaupten, dass wir am Parkplatz angekommen sind. Aber wir müssen doch nochmals ein gutes Stück zurücklaufen.“
„Ist dir kalt?“, fragte Alfred mit aufgeregt klopfendem Herzen.
„Nein“, Darius hob verwirrt eine Augenbraue, „Ist dir denn kalt?“
„Nicht im Geringsten“, meinte Alfred verlegen und sah sich nervös um, „Ich meinte nur- Also, wenn du nichts dagegen hast, ich würde gern noch- Noch nicht nach Hause gehen.“
Der Blick, mit dem Darius ihn ansah, ließ ihm das Herz in die Hose rutschen.
Erst jetzt fiel ihm auf, wie ein anderer Mensch diese Worte auffassen konnte. Erst jetzt begriff er, wie vermutlich jeder normale Mensch solche Worte deuten würde. Immerhin kamen durchschnittliche Bürger nicht auf die Idee, dass man gemeinsam im Dunkeln an einem Flussufer ganz unverbindlich die Zeit verbringen konnte, nur weil man Angst davor hatte, dass alles plötzlich vorbei sein könnte, sobald sich ihre Wege wieder trennen würden.
Kurze Zeit herrschte peinlich berührte Stille.
„Hier?“, fragte Darius ungläubig.
Alfred verschluckte sich beinahe an der Luft, nach der er schnappen musste.
„Was?“, fragte er schockiert.
„Du willst wirklich hier-“, begann Darius und wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so abgeneigt, wie Alfred es zunächst gehofft hatte.
Irgendwo war er noch froh, dass man sein hochrotes Gesicht in den schlechten Lichtverhältnissen hier sicherlich nicht ausmachen konnte. Aber wie er diese Situation nun wieder retten sollte, ohne Darius vor den Kopf zu stoßen und sich selbst komplett lächerlich zu machen, wusste Alfred nicht.
„Das meinte ich gar nicht“, versuchte er es kläglich, „Ich möchte einfach nur noch ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“
Darius räusperte sich und wirkte mit einem Mal selbst sehr pikiert.
„Entschuldige, ich dachte-“, murmelte er und wandte beschämt den Blick ab, „Es war wohl auch durchaus unangebracht von mir, überhaupt daran zu denken. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass wir aktuell keine feste Beziehung führen.“
Alfred schluckte.
„Dass wir- Ich meine, würdest du denn-“, begann er komplett verunsichert.
Darius sah ihn mit einem so durchdringend intensiven Blick an, dass Alfred ganz anders wurde und er sich eine Antwort eigentlich sparen konnte.
So wahnsinnig viel Sehnsucht und Verlangen lag in seinen dunklen Augen, dass Alfred den Blick senken musste und hastig den Kopf schüttelte, „Entschuldige, das war ebenso äußerst unangebracht.“
Er wollte Darius wirklich nicht auf solche Gedanken bringen, wenn er selbst gerade nicht im Geringsten auch nur daran denken konnte. Dass er nie darauf hinaus gewollt hatte, konnte Darius ja nicht ahnen. Aber die Frage, ob er wirklich so spontan mit ihm schlafen würde, auch wenn explizit im Raum stand, dass sie kein Paar waren – es ließ Alfred keine Ruhe.
„Nicht hier“, sagte Darius bestimmt.
Dass er nur nach einem anderen Platz suchen würde, sprach er nicht aus, aber Alfred hatte die fast panische Vermutung, dass es sich von selbst verstehen würde.
Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass Darius nun tatsächlich etwas dergleichen von ihm erwartete, als sie sich wieder in Bewegung setzen und den restlichen Weg in fast gespenstischer Stille verbrachten.
Immer wieder warf Darius ihm nervöse Blicke zu, sein Lächeln wirkte aufgeregt, ja noch immer ein bisschen verlegen und doch schien so viel mehr dahinter zu stecken. So viel, dass Alfred die gesamte Strecke über mit sich selbst haderte.
Es schien weniger peinlich berührtes Schuldbewusstsein als freudige Erwartung zu sein. Alfred spürte Beklemmungsgefühle in seiner Brust und aufsteigende Panik.
Warum eigentlich nicht, wollte er sich selbst einreden.
Er hatte so viele seiner ehemaligen Prinzipien bereits über Bord geworfen und geschadet hatte es ihm nicht, im Gegenteil. Viele Perspektiven hatten sich ihm nur dadurch eröffnet, dass er Neues wagte und die alten Pfade verließ.
Aber allein der Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu.
Was ist denn schon dabei, dachte er verbissen, um sich selbst zu überreden.
Selbst wenn es unverbindlich war, selbst wenn es nicht mehr als ein Abschied sein würde, in Darius‘ Armen zu liegen, ihm nahe zu sein- Alfred musste husten.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Darius unsicher.
Alfred nickte hastig und schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
Erst als sie gemeinsam in Theresas Auto saßen, fühlte Alfred die Erleichterung über sich hereinbrechen. Er hatte sich umsonst gesorgt, Darius war gar nicht erpicht darauf, eine intime Nacht mit ihm zu verbringen. Alfred hatte die ganze skurrile Unterhaltung und all das Unausgesprochene dabei einfach nur falsch gedeutet.
Dass er sich zu früh in Sicherheit gewiegt hatte, dämmerte ihm wiederum aber erst, als Darius den Wagen auf dem Parkplatz vor Alfreds Wohnhaus anhielt, den Motor abstellte und den Anschnallgurt löste – nicht aber die Tür öffnete, sondern sich zu ihm wandte und ihn in einen innigen Kuss zog.