Am nächsten Tag wurde Darius erst wach, als der Arzt das Zimmer betrat.
Er zog sich einen Stuhl heran und Darius wusste sofort, dass es ein längeres Gespräch werden würde. Natürlich hatte die Schwester ihn über die ganze Situation mit Kristian in Kenntnis gesetzt und er schlug vor, dass Darius die Zeit bis zum planmäßigen Aufenthalt in der Spezialklinik noch auf der Akutstation einer anderen Psychiatrie verbringen würde, damit er sich stabilisieren konnte.
Darius lehnte sofort ab und beteuerte ihm, dass er sich zuhause um einiges besser würde erholen können. Der Arzt redete ihm zwar ins Gewissen, meinte dann aber nach der regulären Untersuchung dem Studieren der letzten erhaltenen Werte, dass er ihn ja nicht festhalten oder ohne richterlichen Beschluss irgendwo einsperren könnte.
Beinahe musste Darius lachen, als er ihm noch mit auf den Weg gab, dass er auf sich aufpassen solle, ehe er beim nächsten Mal auf diese Methode zurückgreifen müsse oder ihn gar nicht mehr lebendig zu Gesicht bekommen würde.
Dennoch ließ er sich das alles gern gefallen, wenn er dafür gehen konnte. Als er jedoch fragte, um wie viel Uhr man ihn denn würde abholen können, war es der Arzt, der lachen musste.
„Immer langsam, eins nach dem anderen“, sagte er und Darius starrte ihn schockiert an, „Ich würde Sie gern noch eine Nacht dabehalten, immerhin können Sie die Magensonde nicht mit nach Hause nehmen. Deshalb liegt es jetzt an Ihnen, ob ich Sie morgen entlassen kann, denn heute sollten Sie mir zuerst beweisen, dass Sie in der Lage sind, eine Woche zuhause zu überleben.“
Darius musste ihn wohl ansehen, als wolle er ihn umbringen, denn er sprach schnell weiter, „Wir reden nicht von einem Gängemenü zu jeder Mahlzeit, sowas überlasse ich den Spezialisten. Mir geht es darum, dass Sie die Zeit bis dahin zumindest so kooperativ überbrücken können, dass die Therapieklinik Sie nicht sofort wieder nach Hause schickt!“
Mit einem tiefen Seufzen stimmte Darius schließlich zu, als der Arzt ihn zumindest zur regelmäßigen Einnahme von Trinknahrung verdonnerte und damit schien er wenigstens dieses Gespräch hinter sich gebracht zu haben. Der Arzt versprach, die Entlasspapiere mit allen nötigen Unterlagen bis zum nächsten Tag fertig zu haben, wenn Darius sich an die Abmachung hielt.
Nicht auf den Kopf gefallen, handelte er noch aus, dass er aufstehen, das Badezimmer benutzen und sich ein wenig innerhalb des Geländes bewegen durfte, wenn er ja nicht mehr ans Bett gefesselt war und sowieso wieder selbstständig werden musste. Darauf ließ sich der Arzt bereitwillig ein, die Frage nach einem weiteren Rezept für die Schmerzmittel kommentierte er jedoch nur mit einem leidlich amüsierten Schnauben.
„Jetzt ist aber gut, wir sind hier nicht auf dem Basar, wo Sie feilschen können! Ich frage mich sowieso, was mein Kollege sich bei diesem Medikament überhaupt gedacht hat, aber ich verschreibe Ihnen das nicht“, meinte er, „Wenn Sie solch starke Schmerzen an Ihrem längst verheilten Knie haben, wäre es besser, sich auszuruhen, anstatt auf diese Chemiekeule zurückzugreifen – nur für alle Fälle oder derartige Scherze hat man solche Tabletten nicht zuhause!“
Darius musste sich wohl oder übel geschlagen geben.
Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck, der Arzt wünschte ihm alles Gute und setzte ihn davon in Kenntnis, dass er am nächsten Tag nicht da sein würde. Dann versprach er ihm noch, dass wenn in den folgenden Tagen oder Wochen irgendjemand nach ihm fragen würde, niemand Informationen jeglicher Art über ihn herausgeben würde.
Nachdem er sich bedankt und dem Arzt noch eine Weile nachdenklich hinterhergestarrt hatte, beschloss Darius kurzerhand, dass er nun auch offiziell berechtigt war, erst einmal eine Dusche zu nehmen und sich etwas ordentliches anzuziehen.
Als die Schwester ihn glücklicherweise erst nach getaner Arbeit auf dem Gang entdeckt und wieder ins Bett gescheucht hatte, fiel sein eigentlicher Plan, ungelesene Nachrichten auf dem Telefon zu beantworten, einer plötzlichen Leere in seinem Kopf zum Opfer.
Da war eine ganz bestimmte Nachricht - eigentlich zwei davon - die er niemals beantwortet hatte. Und so sehr er auch einiges loswerden wollte, so sehr er die Nachricht einfach vergessen und die Nummer für einen Anruf stattdessen wählen wollte - er schaffte es nicht.
Lange Zeit starrte er nur auf die Buchstaben, ohne einen Sinn dahinter zu erkennen, dann gab er auf und hörte stattdessen leise Musik.
Darius war so vertieft, dass er das zaghafte Klopfen an der Tür erst beim wohl zweiten oder dritten Mal wahrnahm, denn ehe er wirklich reagieren konnte, öffnete sich diese schon zögerlich einen Spalt. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass Theresa sicherlich bald auftauchen würde, doch stattdessen streckte ein ganz anderer Blondschopf vorsichtig den Kopf in den Raum und Darius blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
Als Jasper Sundström ihn erblickte, strahlte er über das ganze Gesicht und trat ein, wobei er nicht nur seinen üblichen Rucksack geschultert hatte, sondern auch den Geigenkoffer in der einen und einen Briefumschlag in der anderen Hand mitschleppte. Darius fragte sich kurz, ob er hier übernachten wollte, doch er konnte sich eines erfreuten Lächelns nicht erwehren und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, du hast dich in der Tür geirrt!“, scherzte Darius, dann rappelte er sich ein bisschen auf, um zumindest einigermaßen wie eine halbwegs ernst zu nehmende Person zu wirken, „Was treibt dich hierher? Nein, Verzeihung. Ich meine- Schön, dass du da bist.“
Jasper gluckste freudig und zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ich wollte dich besuchen“, meinte er nur, „Wir dachten, du könntest ein bisschen Aufmunterung gebrauchen- Und dann habe ich gesagt, dass ich dich ja besuchen könnte und so kam das Eine zum Anderen und, ja- Das ist für dich!“
Dabei überreichte er ihm den Umschlag schon fast feierlich und sah ihn auffordernd an, als würde er wollen, dass er ihn gleich öffnete.
Wie vom Donner gerührt betrachtete Darius das Papier in seinen Händen.
Jasper stellte kurzerhand den Rucksack neben das Bett und setzte sich ohne zu fragen neben Darius auf die Bettkante, wobei er den Geigenkoffer keine Sekunde lang losließ, sondern wie ein Baby auf seinem Schoß hielt.
„Kommst du jetzt direkt von der Oper?“, wollte Darius wissen.
Irgendwie konnte er nicht so recht fassen, dass das alles hier gerade wirklich geschah. Eigentlich war er ja fest davon ausgegangen, dass sämtliche Musiker des Orchesters ihn nun hassten, weil er sie dermaßen unverzeihlich enttäuscht hatte, dass er sich nicht einmal würde erklären können.
Jasper allerdings deutete nur fast drängend auf den Umschlag und wurde ein bisschen rot im Gesicht, „Wir haben ein bisschen früher Schluss gemacht und ich dachte, du würdest dich freuen- Und ich- ich wollte dich nochmal sehen, bevor du gehst und- außerdem ist das für dich.“
Darius zog eine recht nett gestaltete Grußkarte mit der Aufschrift „Gute Besserung!“ heraus, betrachtete sie einen Moment ungläubig und klappte sie dann auf. Darauf stand in einer Handschrift, die so wirkte, als wäre sie um einiges unleserlicher, wenn der Verfasser sich nicht die größte Mühe zur Schönschrift gegeben hätte:
„Musik ist die Sprache, die wir alle verstehen.
Mit der richtigen Musik kannst du entweder alles vergessen oder dich an alles erinnern. Es gibt Menschen, die hören Musik.
Und es gibt Menschen, die leben Musik. Hören Sie niemals auf, ein eben solcher Mensch zu sein, wir wünschen gute Genesung und freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen! Gezeichnet-“
Und dann folgte eine Liste, die so lang war, dass Darius sie nicht zu Ende lesen konnte, bevor die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen.
Jasper schien ihn etwas zerknirscht zu beobachten.
Darius wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.
Alles mögliche hatte er sich ausgemalt, was im Orchester geredet wurde.
Dass er sie im Stich gelassen hatte, dass er immer nur an sich selbst dachte, dass sie glaubten, er hätte sie alle nur benutzt und nun, wo es daran ging, die Früchte der gemeinsamen Arbeit zu ernten, tauchte er nicht mehr auf.
Er hatte ihnen eine Fahrt nach Deutschland und eine Aufnahme des dortigen Konzerts versprochen und war nie zum Abfahrtstermin aufgetaucht. Er hatte nicht einmal persönlich absagen können, sondern war einfach nur sang- und klanglos untergetaucht, einfach verschwunden.
Aber trotz allem- trotz allem dachten diese Menschen an ihn, wünschten ihm nur das Beste und ließen ihn wissen, dass sie ihm nicht übel nahmen, wenn er sich um sich selbst kümmern musste. Es war auf eine ganz und gar positive Art und Weise überwältigend – er konnte nichts mehr sehen.
Als Darius sich über die Augen wischte, meldete sich Jasper unsicher zu Wort.
„Freust du dich denn nicht? Wir haben extra alle unterschrieben, weil-“, er stockte und seine Stimme wurde leiser, „Wir vermissen dich. Du fehlst allen sehr.“
Dann plapperte er schon wieder weiter, aber Darius konnte nicht reagieren.
Er war einfach nur überwältigt von dem Verständnis, das die Musiker ihm entgegenbrachten und der Chance, dass er sich vielleicht doch noch einmal bei ihnen blicken lassen durfte – und wer wusste schon, was die Zukunft bereithalten würde.
„Sogar Frau Sigmund meinte, dass wir dir doch Grüße zukommen lassen sollten. Da waren wir uns einig und weil wir aber nicht alle zusammen hierher kommen konnten, habe ich gesagt, dass ich zu dir fahre und das ausrichte“, erklärte er, dann umklammerte er den Koffer etwas fester.
„Eigentlich wollten wir noch ein kleines Geschenk besorgen, aber ich hatte keine gute Idee, deswegen habe ich gedacht- Also wenn magst, ich habe meine Violine dabei, weil ich dachte, in einem Krankenhaus ist es immer so still!“
Er strich gedankenverloren über den festen Stoff des Koffers.
„Also wenn du möchtest, spiele ich dir etwas vor“, bot er grinsend an.
Darius konnte nichts weiter tun, als ihn wie vom Donner gerührt anzustarren.
Dann musste er lächeln.
„Gern“, sagte er sanft, „Sehr gern.“
Immerhin sollte Jasper sich die Mühe nicht umsonst gemacht haben und davon abgesehen war es hier wirklich meist totenstill.
Ob die Krankenschwester etwas gegen musikalische Untermalung der traurigen Szenerie einzuwenden hatte, wusste er natürlich nicht – doch die würde sich schon zu Wort melden, wenn es sie stören würde.
Fast so vorsichtig und liebevoll als würde er mit einem kleinen Kind umgehen, packte Jasper seine Violine aus dem Koffer, widmete sich der Pflege des Bogens, stimmte das Instrument sorgfältig und wandte sich dann fröhlich an Darius:
„Hast du einen besonderen Wunsch? Ich habe natürlich in jedem Fall schon etwas vorbereitet, aber falls du etwas bestimmtes hören magst-“
„Ich lasse mich gern von dir überraschen“, meinte Darius schmunzelnd.
Als Jasper die Violine ansetzte und ihr die ersten sanften Töne entlockte, sank Darius mit einem leisen Seufzen zurück ins Kissen und schloss für ein paar Momente die Augen. Die Grußkarte hielt er noch immer umfasst und drückte sie unwillkürlich fest an seine Brust.
Auch wenn es vielleicht zu spät war, an der Situation noch etwas zu ändern, auch wenn er wahrscheinlich keine zweite Chance bekommen würde – Es bedeutete ihm die Welt, dass die Musiker ihn dennoch in guter Erinnerung behalten würden. Dass er zumindest einen von ihnen auch nach so vielen Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, noch immer als guten Freund bezeichnen konnte.
Und auch wenn ein anderer von ihnen für immer in seinem Herzen sein würde, hinterließ es doch einen bittersüßen Beigeschmack in seinem Bewusstsein, den Namen „Alfred Wunderlich“ auf dieser Liste so inmitten von allen anderen zu lesen, als wäre er einfach einer von vielen.
Das war er nicht.
Das würde er nie sein und auch wenn es in diesem Fall ebenso wenig eine zweite Chance geben würde, so weckte es in Darius doch den Wunsch, dass auch Alfred ihn in guter Erinnerung behalten würde.
Vielleicht war doch nicht aller Tage Abend. Vielleicht würde er tatsächlich nach Wien zurückkommen können, wenn er aus der Klinik entlassen wurde. Und vielleicht würde er Alfred wieder unter die Augen treten können, ohne sich in Grund und Boden zu schämen.
Vielleicht würden sie einfach Freunde bleiben können.
Und so sehr Darius versuchte, sich einzureden, dass das vollkommen genügte und er eigentlich auch gar nicht mehr von seinem Schicksal verlangen durfte, so flossen doch ein paar Tränen, als Jasper den Bogen weiterhin beinahe zärtlich über die Saiten gleiten ließ und nur für ihn so wunderschöne, doch von so viel Melancholie gezeichnete Klänge in die triste Stille des Krankenzimmers brachte.