Ab einer gewissen Uhrzeit am Abend war es mit der Konzentration immer so eine Sache – besonders wenn es darum ging, kreative Fähigkeiten zu aktivieren.
Es gab gute Tage, da versank Darius komplett in seiner einsamen Arbeit und bemerkte nicht einmal, wie die Stunden vergingen; und dann gab es schlechte, an denen schon allein das leise Geräusch des weiterrückenden Minutenzeigers ihn drohend daran erinnerte, dass er heute noch gar nichts zustande gebracht hatte.
Manchmal unterbrach ihn zusätzlich der Gedanke, dass er eigentlich längst zu Bett gegangen sein sollte, aber wenn der Tag mit Terminen und Verpflichtungen gefüllt war, blieb gar keine andere Möglichkeit als die Nacht zu nutzen.
Die für alle weiteren Aufgaben benötigte Zeit an alltägliche Aktivitäten anzuhängen und von den Ruhephasen abzuziehen, mochte manchen Menschen vielleicht töricht vorkommen.
Wenn Darius jedoch mit einem Stapel teilweise beschriebener Blatt Papier und einem fein gespitzten Bleistift am Klavier saß und nach den anfänglichen Schwierigkeiten doch wieder in die richtige Stimmung fand, schien es eher undenkbar, stattdessen die kostbare Zeit mit Schlaf zu vergeuden.
Es war selten, dass er brauchbare Träume hatte. Noch seltener waren die Inspirationen, die er im Schlaf für bahnbrechend hielt, nach dem Aufwachen noch für irgendetwas nützlich.
Darius wusste ja, dass er am nächsten Tag wieder zur üblichen Zeit aufstehen musste, auch wenn es ihn erst in den frühen Morgenstunden dann doch erschöpft ins Bett trieb. Derartig übermüdete Erkenntnis änderte trotzdem nicht das Geringste an dieser schlechten Angewohnheit.
Nicht jetzt zumindest; vielleicht irgendwann einmal.
Irgendwann, wenn alles anders sein würde. Irgendwann, auch wenn er selbst nicht so recht wusste, was er sich unter dieser sehr weitläufigen Zeitangabe vorstellen sollte.
Vielleicht dann, wenn man sich so um ihn reißen würde, dass er mehr Geld für eine geringere Stundenzahl an Arbeit bekommen würde. Vielleicht dann, wenn er genügend Bekanntheit erlangt hatte, dass er hauptberuflich komponieren konnte.
Irgendwann würde er vielleicht mehr freie Zeit haben, aber es war eher unwahrscheinlich, dass diese manchmal doch süß erscheinende Vorstellung in der Realität umsetzbar war.
Vielleicht dann, wenn er alt und grau und ausgelaugt war – und es dann sowieso niemanden mehr interessierte. Darum blieb ihm nichts anderes übrig, als die aufkommende Müdigkeit und nicht zuletzt auch das störende Magenknurren mit Kaffee zu bekämpfen.
Für die Gesundheit war diese Vorgehensweise zwar nicht sonderlich zuträglich, aber man musste Prioritäten setzen.
Nur selten hatten es kerngesunde Menschen in der Vergangenheit auf kreativer Ebene zu etwas gebracht.
Wobei man die Kausalität dieser Tatsache wohl stundenlang debattieren konnte und sich fragen, ob man mit bester Gesundheit allgemein ganz andere Interessen hatte oder ob das Leiden erst den Schaffensprozess in Schwingungen versetzte,
Und eben solche abdriftenden Gedanken verhinderten regelmäßig, dass Darius mit seinem persönlichen Schaffen zufrieden war.
Mehr Kaffee. Vielleicht war die aufkommende Müdigkeit einfach noch nicht zu Genüge im Zaum gehalten.
Dabei hatte er sich vorhin auf dem Heimweg mit der Bahn noch so inspiriert wie selten zuvor gefühlt und nun, wo er seine Ruhe hatte und endlich hier im Musikzimmer saß, schien alles wieder so weit weg und kaum noch greifbar.
Der Versuch, sich mit gewaltsamer Anstrengung zu mehr Konzentration zu zwingen, bewirkte natürlich genau das Gegenteil.
Als ihm in seiner fast schon wütend verkrampften Hand auch noch die Bleistiftspitze abbrach, war Darius kurz davor, den gesamten Stapel Papier einfach vom Klavier zu schleudern und das Komponieren den Menschen zu überlassen, die eine höhere Frustrationstoleranz besaßen.
Stattdessen stand er auf und setzte eine weitere Kanne Kaffee auf.
Während er darauf wartete, dass das Wasser durch den Filter gelaufen war, rieb er sich entnervt die verspannten Schläfen und starrte Löcher in die Luft.
So wurde das nichts. Es musste einfach so aus ihm herausfließen, sonst war alles nichts wert. Wie sollte ein Stück leicht und beschwingt klingen, wenn er um jede weitere Note kämpfen musste?
Früher war es ihm leichter von der Hand gegangen.
Da hatte er nie um Inspiration gerungen, da hatte er sich gar zwingen müssen, irgendwann mal eine Pause einzulegen.
Aber was nützten ihm die etlichen angefangenen Stücke aus dieser Zeit, die an keiner Stelle zusammenpassten? Irgendwie musste er sie zu einem großen Ganzen zusammenfügen, auch wenn dieser Arbeit manch unpassende Passage zum Opfer fallen würde oder sich auch ganze Stücke im Prozess als unbrauchbar herausstellten.
Jahrelange Arbeit wäre andernfalls umsonst.
Was er hatte, konnte er so nicht präsentieren. Es war ein einfach nur ein Haufen Blätter mit gedruckten Linien und selbst gezeichneten Kritzeleien darauf, wenn er es nicht langsam auf die Reihe kriegen würde.
Dann hätte er nichts vorzuweisen, gar nichts.
Aber auch diese Gedanken halfen ihm nicht weiter. Vielleicht sollte er sich wirklich auf die Arbeit konzentrieren, für die er bezahlt wurde – und nicht das, was er sich nebenbei noch selbst aufgehalst hatte.
Drei Tage intensive Probenarbeit würden bevorstehen. Vielleicht sollte er wirklich einfach zu Bett gehen und seine hanebüchenen Wunschträume vom Komponistendasein endlich aufgeben.
Auf dem Boden der Realität ankommen, würde Theresa vielleicht sagen.
Die hatte ja aber auch gut reden!
Darius warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Um halb zwei am Morgen konnte er Theresa nicht mehr anrufen. Die würde sich wieder das Schlimmste ausmalen und dann wütend werden, wenn er meinte, dass er ja nur plaudern wollte.
Das Ticken der Uhr hallte von den Wänden der kleinen Küchenzeile, die nur durch den gefliesten Boden vom restlichen Raum abgetrennt war, der mit dem kleinen Tisch und einem großen Ausziehsofa sowohl Schlaf- als auch Essbereich darstellte.
Wenn man meinte, in einer doch sehr bescheidenen Wohnung ein Musikzimmer einrichten zu müssen, sollte man eben mit anderen Abstrichen rechnen. Aber es war schon in Ordnung, immerhin verbrachte er sowieso mehr Zeit mit der Musik als mit Schlafen und Essen zusammen.
Vielleicht würde er sich irgendwann eine andere Wohnung mieten.
Irgendwann, wenn alles anders sein würde. Vielleicht dann, wenn er sich entschieden hatte, wo auf der Welt er sich überhaupt häuslich niederlassen würde.
Wenn er irgendwann mal einen Ort finden würde, an den ihn mehr band als eine berufliche Anstellung, bei der er prinzipiell sowieso austauschbar war.
Er hatte ja irgendwie gehofft, dass es Wien sein würde, was genau diesen Ort darstellen konnte. Jetzt war er sich gar nicht mehr so sicher, Theresa hin oder her.
Der Kaffee war noch nicht fertig, als Darius schon wieder auf dem Weg zurück ins Musikzimmer war.
Nachdem er den Papierstapel zur Seite gelegt hatte, ließ er Arbeit einfach Arbeit sein und spielte Klavier. Einfach nur was ihm in den Sinn kam, um zumindest die ablenkenden Gedanken loszuwerden.
Die nächsten Nachbarhäuser waren nah genug an der großen Straße gelegen, um gut abgedichtete Fenster zu besitzen und die schwerhörige ältere Dame im Erdgeschoss unter ihm hatte ihn bereits zweimal zum Tee eingeladen, als sie sich im Treppenhaus begegnet waren.
Wenigstens darum, andere mit nächtlicher Musik zu stören, musste sich Darius keine Gedanken machen. Er schloss die Augen und ertappte sich selbst dabei, einige bekannte Melodien in seine Improvisation einfließen zu lassen, doch wenigstens saß er nicht tatenlos herum und brütete über der Nichtigkeit seines kreativen Versagens.
Gerade, als ihm war, als hätte er Mozart endgültig hinter sich gelassen, um wirklich etwas eigenes aus dem spontanen Klavierspiel zu gestalten – ja, es schien sogar fast, als wären einige Stellen es wert, zumindest kurz notiert zu werden – durchbrach ein ganz und gar markerschütterndes Geräusch die sanften, nach all dem Frust so hoffnungsvollen Klänge.
Darius fuhr zusammen, riss die Augen auf und musste sich erst einmal kurz besinnen, um wieder in der Realität anzukommen.
Dann stellte er mit einem verwirrten Blick durch den Raum fest, dass er selbst eben jenes furchtbare Geräusch als Klingelton auf seinem Smartphone ausgewählt hatte, damit er keinen Anruf aus Versehen verpasste.
Verärgert griff er nach dem störenden Gerät und warf nur einen halbherzigen Blick auf die Anzeige, während er den Anruf mit einer energischen Wischbewegung schon ganz automatisch ablehnte.
Erst als die angezeigte Nummer einen Moment danach noch eingeblendet wurde, durchfuhr es ihn heftig. Eine mobile Nummer ohne zugeordneten Namen, und doch kam sie ihm erschreckend bekannt vor.
Allein die Vorwahl +1 ließ ihn zumindest erahnen, wer ihn da zu erreichen versuchte – und bei geschätzt fast zehn Stunden Zeitverschiebung nach Kalifornien war es gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass der Anruf mitten in der Nacht kam.
Der anfängliche Schreck über die automatische Ablehnung des Anrufs verflog schnell, als Darius bedachte, dass er bei bestem Wissen um die Situation ebenso abgelehnt hätte.
Wenn nicht aus der Motivation heraus, dass er gerade beschäftigt war, dann zumindest aus dem Grund, dass er einfach nicht mit eben dieser Person sprechen wollte. Nicht nach all den Jahren. Und schon gar nicht nach allem, was sich damals ereignet hatte.
Vollkommen aus dem Konzept gebracht, schaltete Darius das Telefon stumm und legte es außer Sichtweite, um in Ruhe weiterspielen zu können. Aber schon nach den ersten Griffen wurde klar, dass er das nun erst recht unmöglich konnte.
Wütend stand er auf und ging zurück zur Küchenzeile, um sich mit zittrigen Händen wieder frischen Kaffee in den leeren Becher zu gießen.
Was fiel Gabriel eigentlich ein?
Als wenn auf einmal alles vergessen war, nur weil er sich ausnahmsweise so großzügig zeigte, dass er sich dazu herabließ, tatsächlich mal wieder Darius‘ Nummer zu wählen?
Von allen Anrufen, die er möglicherweise hätte empfangen können, hatte er mit diesem am allerwenigsten gerechnet. Allein deswegen konnte Darius nun weder an seine kreative Arbeit noch an eventuellen Schlaf denken.
Es würde eine lange Nacht werden.
Und sie würde ihm auf produktiver Ebene wieder kein winziges Bisschen nützlich sein.