Es war ein seltsames Gefühl, wenn man plötzlich wach wurde, ohne sich überhaupt daran zu erinnern, jemals eingeschlafen zu sein.
Das Erste, was Darius wahrnehmen konnte, waren Schmerzen.
Ruhe sanft, mein holdes Leben –
Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er drei Flaschen Wein getrunken, aber so etwas würde er nicht in Erwägung ziehen. Sein Hals wiederum fühlte sich an, als hätte er Rasierklingen geschluckt, aber daran konnte er sich ebenfalls nicht erinnern.
Schlafe, bis dein Glück erwacht –
Beides änderte es nichts an der Tatsache, dass sich seine Augenlider zu schwer anfühlten, um sie zu öffnen. Trotz vergeblicher Versuche blieb es dunkel.
Das Zweite, was in sein Bewusstsein drang, war die Musik.
Womöglich hatte jemand eine Platte aufgelegt, aber das war unwahrscheinlich. Niemand würde einen Tonträger derartig schlecht abmischen, dass das gesamte Orchester sich anhörte, als würde es aus einem Handy-Lautsprecher ertönen, während die Sopranistin jedoch klang, als würde sie neben ihm sitzen.
Er war müde. Unendlich müde.
„Ihr süßen Träume, wiegt ihn ein.
Und lasset seinen Wunsch am Ende
zu reifer Wirklichkeit gedeihn.“
In diesem Delirium träumte er sich vollkommen zusammenhangslos in einen orientalischen Palast, sah wallende bunte Gewänder und angekettete Löwen vor seinen Augen und er spürte die Hitze der Wüstensonne.
Was für ein riesengroßer Unsinn. Und so unendlich wunderschön, dass Darius fast die Tränen kamen. Vermutlich hatte Mozart die genannten drei Flaschen Wein getrunken, als er mittendrin beschlossen hatte, dieses wunderschöne Werk in ein Mittelmäßiges umzuschreiben, weil die Welt damals noch nicht bereit dafür gewesen war.
Sein Musiklehrer hatte ihn nach der Stunde noch durchaus besorgt unter vier Augen sprechen wollen, als er für sein Referat in der neunten Klasse Zaide und die Entführung aus dem Serail gegenüber gestellt und akribisch alles an Gemeinsamkeiten und Unterschieden erörtert hatte.
Ruhe – schlaf –
Als sie sich unsterblich ineinander verliebten, hatten die beiden keinen blassen Schimmer davon, dass sie Geschwister waren. Manchmal fragte sich Darius, wie sich ein einziger Kopf so viel Kauderwelsch zusammenspinnen konnte. Sein eigener, nicht der von Mozart.
Mozart war ein Genie gewesen. Darius hingegen war einfach nur müde und erschöpft. Langsam dämmerten ihm die Zusammenhänge der Situation, auch wenn er einige Fragen noch nicht hatte klären können. Die Stimme der Sängerin erstarb noch mitten in diesem Stück voller Liebe und Zärtlichkeit kläglich in einem erstickten Schluchzen.
Das Orchester spielte ungerührt weiter. Rascheln. Dann verstummte es.
Darius spürte einen sanften Kuss auf seiner Stirn, ehe er jedoch reagieren konnte, war die Berührung aber schon wieder verschwunden.
Als es still und ruhig um ihn wurde, vermisste er Theresa schmerzlich.
Wie gern hätte er ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Wie gern hätte er ihr versichert, dass es ihm gut ging. Dass alles halb so wild war und er aus irgendeinem Grund nur zu müde war, um die Augen zu öffnen.
Dass sie noch da war, bemerkte er erst, als sie seine Hand in ihre eigene nahm, die sich unsagbar warm und gut anfühlte. Lange Zeit hielt sie einfach nur seine Hand und eigentlich wollte er sie ebenso fest umfassen und ihr zu verstehen geben, dass er da war, dass er wach war, aber er schaffte es nicht. Lediglich sein kleiner Finger zuckte unter seinen Bemühung, seine Muskeln zur Bewegung zu zwingen. Sie hielt seine Hand fester umfasst und hauchte einen warmen Kuss auf seinen Handrücken.
„Schhh“, machte Theresa sanft, „Es ist alles gut, mein Schatz.“
Und egal wie wenig Sinn das ergab, wenn er die Situation in Betracht zog-egal wie unwahrscheinlich es war, dass alles je wieder gut werden würde.
Er glaubte ihr in diesem Moment.
Wie eine Ewigkeit fühlte es sich an, bis ihm langsam, aber dafür umso schmerzlicher bewusst wurde, was geschehen sein musste. In seine Erinnerung drangen immer mehr Details, die er der hoffentlich einigermaßen unmittelbaren Vergangenheit zuordnen konnte und auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, ob das alles der Wirklichkeit entsprach oder er sich die Hälfte zusammenreimte, war ihm irgendwo doch bewusst, dass er nicht mehr zuhause sein konnte.
Dafür fühlte sich das Bett zu fremd an, dafür sprachen einige ziemlich eindeutige Indizien von einem ganz anderen Fall. Und auch wenn er nicht die Kraft hatte, es als einen Vertrauensbruch zu werten, wollte er am liebsten gar nicht wach werden. Nein, er wollte nicht wahrhaben, dass er auf vollster Linie versagt und jegliches Vertrauen enttäuscht hatte.
Was für eine Hölle musste Theresa durchgestanden haben. Was für einen Schock musste Alfred erlitten haben. Er konnte lediglich hoffen, dass Nina nicht allzu viel mitbekommen hatte.
Zuerst interessierte es ihn, wie spät es war und ob er es noch rechtzeitig zum Bus schaffen würde. Dann war plötzlich wieder alles, was in seinem Bewusstsein noch einen Stellenwert hatte, Alfreds Herz, das in Scherben auf dem Boden lag.
Das musste das Letzte sein, was geschehen war.
Danach wurde nämlich alles dunkel.
Er hatte Alfreds Herz gebrochen und sich dann dieser Verantwortung entzogen, indem sein Körper ihn wieder einmal im Stich gelassen hatte, wenn es eigentlich doch darauf angekommen wäre, alles ins Reine zu bringen. Vielleicht war doch nicht alles gut. Vielleicht würde nie wieder alles gut werden und es war seine eigene Schuld.
So sehr er sich auch vorgenommen hatte, endlich aufzuwachen und Theresa zu verstehen zu geben, dass es ihm gut ging, er schaffte es nicht.
Eigentlich wollte er als Alternative dazu auch einfach wieder einschlafen oder das Bewusstsein verlieren, damit er wenigstens nichts mitbekam. Es war jedoch, als hätten Geist und Körper beschlossen, gegeneinander zu arbeiten und so wach er sich eigentlich fühlte, so wenig konnte er damit etwas anfangen, denn er konnte sich weder rühren noch etwas sagen oder anderweitig auf sich aufmerksam machen. Selbstverständlich dachte Theresa, dass er noch gar nicht richtig da war. Unter Umständen hätte er ihr einiges an Kummer ersparen können, wenn er ihr dies zu verstehen hätte geben können, doch es lag nicht in seiner Macht.
Er konnte nichts sehen, denn er schaffte es nicht, die Augen zu öffnen. Alle anderen Sinne funktionierten jedoch tadellos und das war vielleicht das Schlimmste an der momentanen Situation. Wenigstens war er nicht allein.
Denn Theresa hielt weiterhin seine Hand, hin und wieder sprach sie mit ihm und was hätte er darum gegeben, antworten zu können. Es waren hauptsächlich liebevolle Nichtigkeiten, die sie an ihn wandte. Dann weinte sie und begann, unter Tränen aufzuzählen, was sie in Zukunft ganz ganz sicher besser machen würde, den Himmel auf Erden versprach sie ihm, wenn, ja, wenn er doch bloß endlich wieder aufwachen würde.
Sie küsste ihn. Sie streichelte ihn. Irgendwann entkleidete sie ihn, um ihn zu waschen, und Darius meinte, vor Scham im Boden versinken zu müssen.
Sie zog ihm frische Sachen an, sie bettete ihn sanft auf dem Kissen, dann weinte sie einfach nur weitere verzweifelte Tränen.
Darius wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.
Wie eine weitere Ewigkeit fühlte es sich an, bis er es schlussendlich doch schaffte, die Augen zu öffnen und sich wie erwartet nicht zuhause befand.
Theresa war immer noch da. Ob sie zwischenzeitlich irgendwann aufgestanden und danach wiedergekommen war, konnte er nicht einschätzen. Wie viel Zeit überhaupt vergangen war wusste er ebenso wenig, doch es schien gerade auch nicht wichtig. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt. Zwar hielt sie noch immer seine Hand umfasst, doch sie hatte die Augen geschlossen und bewegte lautlos die Lippen.
Eigentlich wollte er etwas sagen. Aber er wusste nicht, wo er überhaupt mit all seinen Fragen ansetzen und wie er mit seiner Entschuldigung für das erneute Versagen und all die Umstände per se beginnen sollte.
Sein Mund fühlte sich ausgetrocknet an, er brachte kaum ein Wort heraus. Als er es schließlich schaffte, klang es nurmehr kläglich.
„Theresa“, begann er leise und sie zuckte zusammen, ehe sie überrascht die Augen öffnete und ihn mit von Tränen verschleiertem Blick ansah.
Sie wirkte nicht halb so erleichtert, wie er es sich erhofft hatte. Noch immer sah sie todtraurig aus, doch ihre Stimme klang unendlich sanft.
„Schh- Alles ist gut, mein Schatz“, hauchte sie nur und beugte sich zu ihm, um sein Gesicht zu streicheln. „Du bist in Sicherheit. Dir geschieht nichts.“
Darius sank erschöpft zurück ins Kissen und schloss die Augen.
„Wann- Wie lange-“, begann er kläglich, „Wie spät ist es?“
Theresa seufzte leise.
„Kurz vor sieben“, antwortete sie ihm aber dennoch, „Am Abend.“
Darius schlug sofort wieder die Augen auf und sog scharf Atem ein, als er versuchte, sich aufzusetzen. Davon abgesehen, dass es ihm schwer fiel und sich all seine Muskeln anfühlten, als wäre er wochenlang gelegen, kamen ihm auch einige Kabel und Schläuche in die Quere, die er nur halbherzig zuordnen konnte.
Es war unwahrscheinlich, dass noch derselbe Tag war. Mit Sicherheit war Sonntag und wenn er sich jetzt nicht schleunigst in Bewegung setzte und sich beeilte, würde er zu spät zur Abfahrt kommen.
„Schh“, machte Theresa wieder und fast alarmiert beugte sie sich näher, um seine kläglichen Versuche im Keim zu ersticken.
Er hatte nicht einmal genügend Kraft, sich gegen ihre sanfte Führung zurück auf die Matratze zu wehren. Mit schwerem Atem blieb er liegen und verfluchte die gesamte Welt, vor allem allerdings sich selbst für diese ständigen Aussetzer.
„Bleib liegen, Schatz“, flüsterte Theresa.
„Aber-“, Darius erkannte seine eigene Stimme kaum, „Aber der Bus- ich muss um neun an der Oper sein, spätestens!“
Theresa sah ihn schweigend an.
„Ich würde zuvor gern auch noch duschen und einen Kaffee trinken- ich- ich habe noch nicht einmal gepackt und- und-“, versuchte er sich zu erklären, aber Theresa schloss ihn so gut es in dieser Lage eben ging in ihre Arme und hielt ihn fest umfasst.
„Nein. Nein, nein“, ihre Stimme klang mittlerweile erstickt, „Darius, bitte beruhige dich. Ich bin doch da. Es ist alles gut.“
Nichts war gut, wenn sie ihn davon abhielt, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, nur weil sein Körper sich einmal mehr die Ruhe geholt hatte, die er ihm verwehrte. Er war im Begriff, all seine Kraft zusammenzunehmen, und sich aus der liebevollen Umarmung zu kämpfen, egal wie gut es sich anfühlte und wie sehnlich er sie einfach nur genießen wollte.
Aber scheinbar reichte seine Kraft nicht einmal dafür aus.
„Du musst liegen bleiben“, flüsterte Theresa und küsste sein Haar.
„Aber-“ beschwerte er sich wieder, doch diesmal konnte er ihren todtraurigen Blick in seine Augen besser deuten.
„Darius“, sagte sie ernst, „Bitte beruhige dich. Du kannst gerade nirgendwo hin. Du bist schwach, du brauchst Ruhe, ich bleibe hier, es ist alles in Ordnung, aber bitte- bitte, ruh dich noch etwas aus.“
Er schüttelte verzweifelt den Kopf und konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen traten.
„Aber der Bus- die Fahrt- das Orchester-“, schluchzte er.
Theresa streichelte ihn.
„Darius, hör mir zu“, sagte sie und klang so verzweifelt, als würde sie auch jeden Moment in Tränen ausbrechen, „Es ist Montag Abend. Es fährt kein Bus, das Orchester kann warten. Du musst dich ausruhen. Du musst gesund werden, Darius. Alles andere kann warten. Alles andere ist nicht wichtig!“
Weinend vergrub er das Gesicht in ihrer Schulter.
„Aber- Aber Alfred!“, brachte er noch heraus, dann schluchzte er bitterlich.
Theresa hielt ihn fest und küsste seine Stirn.
„Er kommt sicherlich morgen wieder, Schatz“, flüsterte sie. „Vorhin war er eine ganze Weile bei dir. Er war vorgestern da und auch als du hierher gekommen bist. Er lässt dich nicht allein, mein Kleiner. Er kommt doch wieder, mach dir darüber keinen Kopf. In Ordnung?“
Darius schaffte es nicht, dazu irgendetwas zu sagen.
Theresa bettete ihn sanft wieder auf dem Kissen, küsste sein Gesicht und streichelte sein Haar, bis er es schaffte, zumindest wieder normal zu atmen.
„Es wird alles gut, Darius“, flüsterte sie erstickt. „Es wird alles gut, aber du musst zulassen, dass man dir hilft. Ansonsten-“
Theresa schluchzte. Dann lehnte sie ihre Stirn an seine und musste selbst weinen. Seine Finger suchten nach ihrer Hand und hielten sie fest umfasst.
Diesmal gab es keine zweite Chance. Es war einfach alles längst zu spät. Aber Theresa blieb. Es fühlte sich wie eine ganze Ewigkeit an, die sie lediglich damit verbrachten, dass Theresa weiterhin an seinem Bett saß, sie einander an den Händen hielten und einfach nur zusammen weinten.