Während der folgenden Probenarbeit konnte sich Alfred der aufdrängenden Gedanken trotz allem nicht erwehren.
Eines stand fest: Darius Ottesen war nicht nur ein komplett anderer Mensch als Doktor Helge Marquardt, sondern hatte sich grundsätzlich wohl auch zum Ziel gemacht, alles über den Haufen zu werfen, was dieser an Routine aufgebaut hatte.
Alfred hatte sich bereits eine mentale Notiz geschrieben, nach so langer Zeit tatsächlich wieder den Koffer mit der guten Geige mit nach Hause zu nehmen und sich eingehend mit den Passagen zu beschäftigen, die ihn in gerade diesem Durchlauf kurzzeitig in nervösen Schweiß ausbrechen ließen, bevor er die Kurve wieder kriegte.
Glücklicherweise immer noch gerade so bevor er es dermaßen verpatzte, dass sie wegen ihm abbrechen mussten, aber dennoch regte er sich maßlos auf.
Drei Tage vor dem wichtigen Konzert und mit einem Mal schien die gesammelte Erfahrung seines kompletten Lebens vollkommen verschwunden?
Und auch wenn eben jene plötzliche Unsicherheit vielleicht gar nicht mit seinem tatsächlich musikalischen Können, sondern viel eher mit der durch die gedankliche Ablenkung und den verkaterten Allgemeinzustand mangelnde Konzentration zusammenhingen, war Alfred am Ende mehr als Unzufrieden mit seiner heutigen Leistung.
Was in aller Welt war mit ihm los?
Ja, es gab Erklärungen.
Aber als Entschuldigung galten sie einfach nicht!
Als Stimmführer konnte er sich solche Sachen einfach nicht mehr erlauben, selbst der sonst so schüchtern zurückhaltende Jasper hatte ihn einige Male erschrocken und fast schon tadelnd angesehen.
Seine Laune war am Ende schließlich auf einem erneuten Tiefpunkt angekommen, als Ottesen nach dem letzten Stück eine Pause ausrief und an die anschließende Registerprobe erinnerte.
Er hätte ja auch komplett taub sein müssen, damit ihm Alfreds schlechte Verfassung nicht aufgefallen wäre. Außerdem war Alfred sich sicher, dass mindestens die Hälfte der schmerzvollen Gesichtsausdrücke Ottesens während diesem Probendurchlauf allein ihm zu verdanken waren.
Dahingehend war es keine große Überraschung, aber doch eine unangenehme Situation, dass Ottesen sich an ihn wandte, als Alfred hastig zusammengepackt hatte und schon fluchtartig den Raum verlassen wollte.
Es schien glücklicherweise niemandem sonst aufzufallen, ihm aber fuhr es durch Mark und Bein, als – und vor allem wie! – ihn die mittlerweile so wohlbekannte Stimme noch auf dem Weg aufhielt:
„Alfred? Kann ich Sie eventuell noch kurz sprechen?“
Und als sie dann schließlich allein im leeren Raum standen, fühlte sich Alfred ja beinahe schon an seine sehr weit zurückliegende Schulzeit erinnert.
Wenn der Lehrer einen unfolgsamen Schüler noch nachsitzen ließ oder zumindest ihm noch klar machen wollte, was genau an seinem Verhalten nicht angebracht gewesen war; eigentlich hatte er ja geglaubt, solche Situationen längt hinter sich zu haben, geschweige denn überhaupt Gründe für derartige Standpauken zu liefern.
Nun aber stand er vor dem Mann, der ihm in der letzten Nacht im strömenden Regen ungefragt seine Jacke geliehen hatte, und fühlte sich ertappt, eine belehrende Rüge tatsächlich verdient zu haben.
Alfred. Alfred!
Wie einfältig war er eigentlich, dass er sich nun schon darüber aufregen wollte, dass Ottesen ihn tatsächlich so nannte, wie er selbst darum gebeten hatte?
Es war ausnahmsweise nicht Ottesens Schuld. Dafür war Alfred ganz allein verantwortlich und er ärgerte sich maßlos über sich selbst.
Gerade, als er sich schon für sein furchtbar mieses Spiel heute entschuldigen wollte, nahm Ottesen ihm allerdings mit nur ein paar Worten komplett den Wind aus den Segeln – und gleich dazu auch noch sämtliche Fassung, die er mühevoll erlangt hatte.
„Wie fühlen Sie sich heute? Geht es Ihnen besser?“
Die zaghaft zuckenden Mundwinkel erinnerten Alfred vielmehr an den unartigen, reumütigen Schüler als an den strengen, schimpfenden Lehrer und er vergaß für einen Moment zu atmen.
Sprachlos brachte er nur ein Nicken zustande und öffnete noch unentschlossen über eine Antwort den Mund, als Ottesen schon weiter sprach:
„Ich- ich wollte Sie fragen, ob“-
Er holte tief Luft und Alfred musste sich schon sehr täuschen, um falsch mit der Vermutung zu liegen, dass Ottesen noch immer ebenso gestresst wie nervös war.
„-ob Sie vielleicht ein Feuerzeug dabei haben?“
Und damit zog er Alfred nun komplett den Boden unter den Füßen weg.
Unmöglich.
Er war einfach nur unmöglich.
Aber Alfred befand sich noch immer nicht in der Lage, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen und so stand er nur kurze Zeit später draußen vor dem Gebäude und rauchte eine Zigarette mit diesem unmöglichen Mann.
Aus seiner eigenen Packung fehlten immer noch vier davon.
Zwei waren Ferdinand Berentz‘ Launen zuzuschulden, eine seiner eigenen Einfältigkeit zum Opfer gefallen, eine hatte Ottesen am Brunnen geraucht.
Die Zigarette, die er nun allerdings in der Hand hielt und von der er nur paffend ein paar vorsichtige Züge nahm, um sich nicht in Gesellschaft die Seele aus dem Leib zu husten, hatte er von Ottesen bekommen.
Vielleicht waren sie damit ja dann quitt und diese seltsamen Situationen zwischen ihnen beiden hätten endlich ein Ende.
Während Ottesen scheinbar unruhig von einem Bein auf das andere trat und Alfred ein nervös zuckendes Lächeln schenkte, ertappte er sich allerdings bei dem Gedanken, dass ihm das vielleicht doch nicht so recht wäre, wie er es sich ausgemalt hatte.
Einen gewisse Ironie lag ja durchaus darin, dass ausgerechnet Alfred den Mann, der sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte, ebenso leicht aus der Fassung bringen konnte.
Und davon abgesehen, dass Ottesen diese Zweisamkeit mittlerweile schon aktiv zu suchen schien, hatte es doch etwas für sich, nach Jahren der mühevollen und teilweise vergeblich versuchten Pflege von langjährigen Kontakten doch mal eine neue Bekanntschaft zu machen.
Dass es bei allen möglichen Leuten ausgerechnet der neue Dirigent seines Orchesters sein musste, hatte er sich nun mal nicht ausgesucht.
„Ich muss mich entschuldigen“, sagte Alfred schließlich in die Stille hinein.
Ottesen sah ihn überrascht an.
„Wofür?“, fragte er direkt, als könne er es sich nicht denken.
Alfred zögerte nur kurz, ehe die Worte von allein zu fließen schienen:
„Heute habe ich wahnsinnig schlecht gespielt – aber eigentlich spreche ich von meinem Verhalten in der letzten Nacht. Es war sehr unangebracht, um einiges mehr zu trinken als ich vertrage. Und vielleicht sollten wir- ich meine, vielleicht sollten wir besser nicht“-
Nun geriet er doch ins Stocken.
Es war weniger, dass er sich seines Vorhabens unsicher war, die Sache wieder ins Reine zu bringen.
Es war vielmehr der Ausdruck in den schwarzen Augen, der beinahe Enttäuschung wiederspiegelte, noch bevor Alfred den geplanten Satz beenden konnte. Dann senkte er den Blick und musterte eingehend seine Schuhe.
„Das wäre bedauerlich“, sagte Ottesen leise.
Alfred schnappte kurz nach Luft.
„Hören Sie“, begann er und fühlte sich elend, „Ich weiß, dass ich gestern vermutlich einige sehr unangebrachte Dinge von mir gegeben habe. Und höchst bedauerlich wäre es, wenn unter dieser Sache die Stimmung und das allgemeine Betriebsklima des Orchesters leiden würde; deswegen, deswegen-“
Er brach ab und schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Ich mache mich gerade komplett lächerlich, nicht wahr?“, fragte Alfred mit einem Mal nicht nur generell unsicher, sondern auch unsicher über das, was er eigentlich sagen wollte.
Ottesen sah sofort auf und lächelte sanft.
„Wissen Sie“, fing er wiederum auch nicht besonders zielgerichtet an, „Diese Frage stellte ich mir selbst in den letzten drei Tagen bereits sehr oft.“
Alfred fühlte sein Herz einen Schlag lang aussetzen, bevor es vollkommen aus dem gleichmäßigen Rhythmus zu geraten schien. Die Zigarette war vergessen, sie rauchte unbeachtet vor sich hin.
Darius Ottesen hingegen zog fast schon verzweifelt an der seinen und seine Züge schienen wieder so angespannt, als würde er auch nach den richtigen Worten suchen, ehe er welche fand, die Alfred im Leben nicht eingefallen wären.
„Vielleicht ist die Frage nach der Angebrachtheit gerade nicht die Entscheidendste, die wir uns stellen sollten. Es war unangebracht von Helge Marquardt, das Orchester so kurz vor dem Konzert zu verlassen. Es war unangebracht von Ferdinand Berentz, niemandem von dem Wechsel in Kenntnis zu setzen.“
Er atmete tief durch und Alfred sah ihn noch immer sprachlos an.
„Vielleicht war es unangebracht von Ihnen, sich nahezu bewusstlos zu trinken und sicherlich ist es unangebracht von mir, Ihnen permanent das Gefühl zu geben, irgendetwas falsch zu machen“, Ottesen schien kurz zu überlegen und fügte hinzu, „Wobei ich die Sache mit dem Alkohol eher als verantwortungslos sowie gefährlich bezeichnen würde und ich mich wirklich um Sie gesorgt habe.“
Alfred musste kurz auflachen und winkte hastig ab.
„Nicht doch, es geht mir gut.“
Ottesen schmunzelte ebenfalls, ehe er kaum hörbar seufzte.
„Was ich damit eigentlich sagen wollte“, meinte er und sah Alfred an, als würde er um Erlaubnis bitten, sprechen zu dürfen.
Alfred lächelte schief, um ihn irgendwie zu ermuntern, ohne selbst etwas sagen zu müssen.
„Ein weiser Mann hat erst kürzlich zu mir gesagt: Die Leute werden nicht aufhören zu reden“, begann Ottesen und ließ Alfred wieder einmal an seinem Verstand zweifeln, „Und ich für meinen Teil hätte unangebrachterweise kein Problem damit, wenn sie darüber reden würden, wieso und weshalb welche Personen auch immer einander beim Vornamen nennen.“
Alfred schnaubte amüsiert.
„Dieser Mann klingt nicht besonders weise“, sagte er, lächelte aber gütig.
Sowieso schien diese Konversation in einer seltsamen Parallelwelt stattzufinden, in der alles irgendwie anders war.
Eine Welt, in der sich dieses absurde Gespräch so anfühlte, als teilten sie gerade einen sehr intimen Moment der Ehrlichkeit miteinander.
Eine Welt, in der eben diese Absurdität Alfred den Drang verspüren ließ, doch ein paar Prinzipien über den Haufen zu werfen und sich auf eine so tiefgreifende Weise berührt zu fühlen, die er schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte.
Eine Welt, in der es für einen Moment so irrelevant schien, wer von ihnen welchen Beruf ausübte und in welcher Position im Raum sie sich während der Arbeit zueinander befanden.
Und genau diese seltsame Wahrnehmung des Moments verleitete Alfred dazu, ganz ohne Alkohol Dinge auszusprechen, die er ansonsten für sich behalten hätte.
„Sie machen sich alles andere als lächerlich“, sagte er nun direkt.
„Ich gebe zu, ich gehöre zu den Menschen, die Veränderungen im Leben nicht gerade auf die leichte Schulter nehmen. Aber spätestens seit dem Requiem denke ich, dass zumindest Doktor Marquardts Handeln gar nicht so unangebracht war. Ich meine damit-“
Alfred stockte kurz, fasste sich aber ein Herz, seine Ansprache auch zu beenden, „Vielleicht ist die ganze Sache etwas unglücklich abgelaufen, aber ich bin sehr froh, dass Sie hier sind.“
Darius Ottesen sah Alfred die gesamte Zeit über an und es schien, als läge wieder dieser besondere Ausdruck in seinem Blick.
„Zweifeln Sie nicht an sich. Ich habe das Gefühl, dass wir genau in dieser Konstellation mehr erreichen können als je zuvor“, fuhr Alfred fort.
Und während er sich selbst lauschte, desto mehr war er von den eigenen Worten nicht nur überrascht, sondern mit einem Mal auch vollkommen überzeugt.
Diese Möglichkeit hatte Alfred bisher gar nicht in Betracht gezogen.
Sie machte aber durchaus Sinn und das vielleicht nicht einmal ausschließlich in der Parallelwelt der Zweisamkeit.
Vielleicht waren so manche Dinge plötzlich jenseits der vergangenen Auffassung des Möglichen, wenn man sie Darius Ottesen anvertraute, der ja schon für sich ein derartig unmöglicher Mensch war.
„Ich bin froh, dass wir uns kennen gelernt haben, Darius“, sagte Alfred.
Womöglich konnte gerade so jemand das Unmögliche doch möglich machen.
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