In der Pause ging Alfred nach draußen und zog die zerknickte Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche, die er darin vor etwa zwei Jahren verstaut hatte. Sie war bereits geöffnet und es fehlten exakt zwei Zigaretten. Darauf war Alfred zugegeben sogar ein bisschen stolz. Wollte er diesen Triumph über sich selbst nun wirklich nur wegen Ottesen wieder zunichte machen?
Bis vor drei Jahren hatte er zwei Packungen von dieser Sorte an einem Tag leer in den Müll geworfen. Etwa ein Jahr lang hatte er überhaupt nicht geraucht, dann hatte er sich diese Packung zugelegt und seitdem überall mit hin genommen.
Er hatte keinen anderen Menschen um eine Zigarette gebeten. Er hatte in den letzten drei Jahren exakt zwei Zigaretten geraucht. Es waren eindeutig zwei zu viel, aber immerhin war es dennoch besser, als nach einem Fehltritt wieder komplett in die Sucht zurück zu verfallen.
Deswegen behielt er diese komplett zerknitterte Packung in der Tasche; so würde er es im Auge behalten können. Natürlich war er nicht davor sicher, dass sie irgendwann leer sein könnte und er die nächste kaufte – doch da würde sich eventuell wieder entweder der persönliche Ehrgeiz oder die bittere Realität bemerkbar machen.
Das hoffte Alfred zumindest. Doch in Momenten wie diesen schien ihm das Rauchen noch das kleinste Übel.
Er würde ohnehin drauf gehen. Wenn nicht an einer Zigarette, dann an dieser tückischen Krankheit und wenn nicht die Krankheit zurückkommen würde, dann am Lauf der Welt, in der jeder Mensch irgendwann sterben musste. Was machte es da schon, die Sache noch ein bisschen zu beschleunigen, wenn man dafür zumindest gefühlt ein bisschen Stress abbauen konnte.
Er würde vielleicht sogar Tagebuch über die gerauchten Zigaretten führen. Alfred war sich sicher, dass die ersten beiden jeweils einer der Launen von Ferdinand Berentz zum Opfer gefallen waren, die natürlich meist nicht nur den Direktor selbst betrafen, sondern stattdessen immer andere ausbaden mussten.
Die dritte würde mit dem Vermerk „Ottesen“ in das Buch des Versagens eingetragen werden. Aber wenn Alfred ehrlich zu sich selbst war, dann war dieses Scheitern sein eigenes und er war eindeutig zu erwachsen, um einen anderen dafür verantwortlich zu machen.
Hinter ihm öffnete sich die Tür und hinaus trat – wie konnte es anders sein – Ottesen. Alfred wandte sich zu ihm, darauf gefasst, dass er ihn entweder in Ermangelung einer besseren Alternative anschnauzen würde oder ein verzweifeltes Gespräch mit der Bitte um Hilfe suchte.
Allerdings ging er einfach nur hastigen Schrittes an ihm vorbei, den Blick gesenkt und die Hände in den Taschen seiner Hose. So als wollte er nicht gesehen werden und so als würde er schon gar nicht irgendjemand anderen sehen. Er lief in Richtung Parkplatz und Alfred fragte sich für einen Moment, ob er einfach ins Auto steigen und nach Hause fahren würde – aber dann fiel ihm wieder ein, dass Ottesen mit der Bahn gekommen war.
Alfred schaute ihm nur kurz noch hinterher, dann wandte er den Blick mit einem Seufzen wieder auf die Zigarettenschachtel in seiner Hand.
Er hatte nun zwei Möglichkeiten.
Entweder er rauchte eine Zigarette oder es ließ es bleiben. Entweder er ging Ottesen hinterher oder er bliebe hier. Entweder er versuchte, das in seiner Macht stehende zu tun, um ein großes Fiasko zu verhindern oder er sah zu, wie das Schiff ohne Marquardt als Kapitän versank.
Alfred entschied sich gegen die Zigarette.
Stattdessen sah er sich kurz um, konnte aber niemanden sonst entdecken, bevor er sich zwar fragte, was er da eigentlich tat, sich aber dennoch in Bewegung setzte und zu den Parkplätzen lief.
Dort waren viele Autos aber kein Ottesen zu sehen.
Kurz sah Alfred in Richtung des Weges zur Straßenbahnhaltestelle, aber auch dort kein Ottesen. Ein Glück, Berentz hätte sicher einen riesigen Aufstand gemacht, hätten sie ihn gleich am ersten Tag vertrieben.
Tatsächlich fand Alfred den Mann am nächsten Zigarettenautomaten und fühlte sich mit einem Mal ertappt. Wie sollte er ihm überhaupt erklären, warum er ihm nachgelaufen war? Sollte er sagen: Entschuldigen Sie, Herr Ottesen, aber ich dachte Sie wollen das Handtuch werfen, was ich unbedingt verhindern musste, weil mir doch tatsächlich etwas an diesem Orchester liegt?
Als Ottesen das Rückgeld und die Packung aus dem Automaten nahm und sich danach wieder umdrehte, sahen sie sich für einen Moment lang gegenseitig an. Er öffnete kurz ganz leicht den Mund, wohl um etwas zu sagen, schloss ihn aber unverrichteter Dinge wieder. Und Alfred? Alfred zog den Geldbeutel aus seiner Jackentasche und kaufte sich eine weitere Zigarettenpackung, nur um nicht aufzufallen.
Lieber gab er unnötig Geld aus, als sich dieser Rechenschaft stellen zu müssen. Es wäre doch sehr peinlich, Ottesen von seiner Sorge zu berichten.
Nun besaß er eine noch komplett verschlossene und eine bereits geöffnete Packung minus exakt zwei Zigaretten. Dafür, dass er eigentlich nie wieder hatte rauchen wollen, waren es erstaunlich viele in seinem Besitz.
Zurück vor der Tür zum Gebäude angekommen, hatte Alfred schon bemerkt, dass er nicht einmal Streichhölzer, geschweige denn ein Feuerzeug eingesteckt hatte. Immerhin rauchte er ja sonst nicht. Aber sein Entschluss stand sowieso längst fest:
Er würde sich nicht einfach so von den Umständen unterkriegen lassen. Er würde nicht einfach aufgeben, für was er all die Jahre gekämpft hatte. Weder das Vorhaben, mit dem Rauchen aufzuhören, noch das Orchester.
Ein leises Räuspern war zu vernehmen, dann umgab ihn trotz der frischen Luft wieder der prägnante Geruch von Lavendel. Alfred sah auf und blickte direkt in die schwarzen Augen von Ottesen, der sich ein kleines, zuckendes Lächeln auf’s Gesicht zwang und zögerlich fragte:
„Entschuldigen Sie bitte - Aber haben Sie Feuer für mich?“
Alfred sah ihn an, musterte die schönen Gesichtszüge und das zaghafte Lächeln, das die strengen Sorgenfalten fast verschwinden ließ. Und in diesem Moment wurde ihm fast schon schmerzlich bewusst, dass vor ihm eigentlich nur ein Mensch wie jeder andere stand.
„Nein“, sagte Alfred wahrheitsgemäß und fühlte sich ein bisschen dämlich.
Ottesen musste schmunzeln und gestikulierte vage in die Luft.
„Ich habe kein Feuerzeug bei mir“, sagte er, „Ich rauche für gewöhnlich nicht!“
Alfred musste kurz auflachen. In dieser skurrilen Situation schien es, als wären sich die beiden in dieser Hinsicht gar nicht so unähnlich.
Merklich entspannten sich Alfreds Gesichtszüge ebenfalls zu einem Lächeln. Es fühlte sich wie eine Erleichterung für seine Muskulatur an – da wollte er gar nicht wissen, wie er zuvor dreingeschaut hatte.
„Für gewöhnlich rauche ich ebenfalls nicht“, sagte Alfred erneut die Wahrheit.
Nun war es Ottesen, der amüsiert schnaufte.
Da standen sie nun beide mit Zigaretten, aber ohne Möglichkeit diese anzuzünden.
„Das nächste Mal-“, begann Ottesen und zögerte.
Alfred hob erwartungsvoll eine Augenbraue, lächelte aber sanfter als geplant.
„Das nächste Mal bringen Sie ein Feuerzeug mit und ich biete Ihnen eine Zigarette an?“, schlug Ottesen vor und wirkte mit einem Mal viel weniger wie eine Bedrohung.
Mehr schien er plötzlich wie jemand, der sicherlich seine ganz eigenen Gründe hatte, so zu sein wie er nun mal war. Und jemand, der nun allein gegen eine ganze Gruppe von Leuten stand, die sich alle schon ewig kannten und bei denen er sich erst einmal beweisen musste.
Vielleicht brauchte er da zumindest eine Person, die sich dazu herabließ, nach den anfänglichen Schwierigkeiten erst einmal unvoreingenommen an die Sache heranzugehen.
„Gern. Da nehme ich Sie doch beim Wort!“, scherzte Alfred.
Ihm war bewusst, dass er ablehnen sollte und das auch würde – immerhin hatte er das Rauchen aufgegeben – aber das ging Ottesen weder etwas an, noch war es gerade von Belang.
Das leichte Schmunzeln lag weiterhin auf Ottesens Gesicht, auch als er längst den Blick etwas unbeholfen umherschweifen ließ. Kurze Zeit herrschte Stille.
Diese Art von peinlicher Stille, wenn eine Unterhaltung ihre Pflicht getan hatte und beendet war, man aber irgendwie noch beieinander stand und nicht recht wusste, ob ein weiteres Gespräch Sinn machen würde oder überhaupt erwünscht war.
Alfred wägte Vor- und Nachteile ab, die es bringen würde, sich eingehender mit Ottesen zu unterhalten.
Als dieser jedoch unerwartet mit etwas ganz anderem herausplatzte, entglitt Alfred selbst ein bisschen die Fassung, die notwendig war, um logische Konsequenzen zu ziehen und die Kontrolle über eine Begegnung zu behalten.
„Alfred Wunderlich, nicht wahr?“, fragte Ottesen und sah wohl interessiert auf Alfreds Schuhe, um ihm nicht in die Augen blicken zu müssen.
„Das ist dann wohl mein Name“, sagte Alfred und war doch etwas peinlich berührt von dieser plötzlichen Wendung.
Ottesen schien konzentriert einen unsichtbaren Fleck von seinem Hemdärmel zu reiben und verlagerte das Gewicht vom einen Bein aufs andere.
„Man sagte, Sie hätten die Musik aufgegeben“, rückte er schließlich mit der Richtung heraus, in die diese Unterhaltung seiner Absicht nach wohl gehen sollte.
Alfred lachte kurz und schüttelte den Kopf, „Niemals. Ich kann zwar nicht mit reinem Gewissen behaupten, mich als geborener Stimmführer für die Ersten Geigen zu fühlen, aber aufgegeben habe ich trotzdem noch lange nicht!“
Als Ottesen dann den Kopf hob, fühlte sich Alfred für einen Moment von seinen tiefschwarzen Augen fast schon irritiert.
„Sie singen nicht mehr“, stellte Ottesen knapp doch treffend fest.
Nun war es Alfred, der seinem Blick auswich, „Das ist richtig.“
Ottesen blickte auf seine Armbanduhr.
Alfred räusperte sich leise.
Ottesen sah ihn an und Alfred neigte dem Kopf gen Eingangstür.
„Wollen wir wieder?“, fragte er.
Ottesens Lippen zuckten erneut zu einem kurzen Lächeln und er nickte.
Und Alfred fühlte sich seltsamerweise gar nicht so sehr wie ein Verräter an seinem Orchester wie er möglicherweise sollte, als er zur selben Zeit wie Ottesen den Raum wieder betrat. Ein paar Blicke ruhten auf ihnen und als er sich setzte, sah Jasper fragend zu ihm auf.
Aber Alfred lächelte nur still vor sich hin, während er nach seiner Geige griff.
Viel eher fühlte er sich, als hätte er heute in dieser absurden Situation zumindest mal eine gute Tat vollbracht, anstatt einfach wie sonst in solchen Härtefällen üblich frustriert eine Zigarette zu rauchen.
Der Rest der Probe verlief überraschend friedlich und als Alfred schlussendlich zuhause ankam, ging er ohne Abendessen gleich erschöpft zu Bett.
Vor dem Einschlafen sinnierte er über den Sinn und den Unsinn vieler Dinge nach, doch als er die Augen schloss, um diesen ganzen skurrilen Tag endlich hinter sich zu lassen, tauchte hinter seinen Lidern ungefragt das Gesicht von Ottesen auf. Nein, sagte er zu sich selbst. Soweit kam es noch!
Dann schlief er ein und träumte von Beethoven.