„Sag amal, Alfred“, die Stimme seines Vaters riss ihn aus dem angenehm dumpfen Halbschlaf, in den er grundsätzlich fiel, wenn er sich zum Fernsehen auf dem Sofa niederließ.
Da konnte das gesendete Programm noch so mitreißend sein – eine warme Wolldecke, das vertraute Gefühl des durchgelegenen Lederpolsters sowie das konstante Flackern und eine nichtssagende Geräuschkulisse ließen Alfred sofort abdriften ohne wie in der kompletten Stille gleich ins Grübeln zu verfallen.
„Mhm“, machte Alfred und tat sich schwer, die Augen zu öffnen.
Kurt schaute zwar interessiert auf die Mattscheibe, hatte aber bei der seichten Unterhaltung irgendeiner zweitklassigen Talkshow noch genug gedankliche Kapazität übrig, um Alfred vom Schlafen abzuhalten und gleichzeitig noch in der Zeitschrift auf seinem Schoß zu blättern.
„Morgen Abend ist doch der Brahms“, begann er.
Alfred und zog die Decke fester um seine Schultern und machte „Mhm“.
„Da kommst aber schon mit“, sagte Kurt.
Es war keine Frage, mehr eine Feststellung.
„Oh Vater“, brummte Alfred missmutig, „Ich wäre durchaus sehr froh, wenn ich mal einen einzigen Tag lang mal nicht Berentz‘ Anblick ertragen müsste“
„Jetzt aber!“, Kurt sah ihn mit nach oben gezogenen Brauen an.
„Du sollst ja nicht in einer Tour den Ferdinand anstarren sondern mit mir das Konzert anhören! Allein gehen mag ich nicht, da glotzen die Leute immer so blöd.“
Alfred seufzte und schloss wieder die Augen.
Er würde sich einfach schlafend stellen, damit er keine Antwort geben musste. Das war immerhin auch eine Art, zu antworten. Wenn er nicht zusagte, dann würde sein Vater sowieso davon ausgehen, dass er keine Lust hatte – was komplett der Wahrheit entsprach, und das nicht nur weil Berentz anwesend sein würde.
Es reichte vollkommen, dass in ein paar Tagen ein eigenes Konzert anstehen würde. Da musste er sich den Stress eines gesellschaftlichen Ereignisses nicht auch noch in der Freizeit zu Gemüte führen.
Sich wieder in den mittlerweile doch recht eng sitzenden besten Anzug zwängen, inmitten von einer Menschenmasse das Husten unterdrücken weil man sonst schief angeschaut wurde. Dann das ewige Lächeln und die aufgesetzte Höflichkeit, wenn man mit einem Dutzend wichtiger Leute redete, die man eigentlich gar nicht leiden konnte.
Würde er diese Argumente jedoch anführen, würde sein Vater wieder einiges über seine verbesserungswürdige Lebenseinstellung zu sagen haben und das wollte Alfred sich selbst lieber ersparen.
Er konnte ihn förmlich schon zetern hören, dass er mal die „Arschbacken zusammenkneifen“ und sich nicht so gehen lassen sollte. Dann würde er ihm einen Vortrag halten, ihm lang und breit erklären, weshalb er die Chance, die ihm gegeben worden war, nun nutzen und nicht der tristen Vergangenheit nachhängen sollte.
Ihm fielen mit Sicherheit unzählige kluge Redewendungen ein, die er zumindest halbwegs mit der Situation in Verbindung bringen konnte und am Ende würde er in seinem nach all den Jahren noch immer lächerlich stark akzentuierten Englisch sagen: „The show must go on, Alfred!“
Nein, da lehnte er doch im Voraus schon dankend ab.
Kurt stellte fast beiläufig noch einige weitere Fragen, die Alfred weder hören noch beantworten wollte.
Zum ersten: „Hast der Renate mittlerweile zurückgeschrieben? Die hat doch wieder einen Brief geschickt!“
„Mhm“, machte Alfred.
Zum zweiten: „Wenn du dann schon mal frei hast, gehst aber schon zum Doktor zur Kontrolle? Das ist lang wieder fällig!“
„Mhm“, machte Alfred.
Zum dritten: „Sagst mir dann wie du dich bezüglich vom Brahms entschieden hast?“
„Mhm“, machte Alfred schläfrig.
„Also was jetzt“, hörte er die fordernde Stimme dann wieder, „Kommst mit?“
„Mhm“, machte Alfred.
Er bekam die Augen schon gar nicht mehr auf und hatte nicht einmal die Kraft übrig, überhaupt gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
Sollte sein Vater sich doch selbst aussuchen, ob das ein Ja oder ein Nein war.
Die Reaktion bekam er nicht mehr mit, denn Alfred fiel in einen unruhigen Schlaf und wurde nun selbst in seinen Träumen schon vom Lavendelduft und den tiefschwarzen Augen Ottesens eingeholt.
Am nächsten Morgen wurde er auf dem Sofa wach, anstatt wie sonst irgendwann mitten in der Nacht im Halbschlaf ins Gästezimmer geschlurft zu sein. Die Frühlingssonne blinzelte schon durch die Vorhänge und das fröhliche Gezwitscher der Vögel ließ Alfreds trübsinnige Gedanken auf einmal so nichtig wirken.
Vielleicht hatte sein Vater ja doch recht. Das Leben war ein Geschenk und bis vor ein paar Jahren hatten sie nicht einmal vermutet, dass er seinen vierzigsten Geburtstag überhaupt erleben würde. Er sollte wirklich seine eigene Chance nutzen und auch anderen die ihre gönnen.
„Sag amal, Alfred!“, erst als Kurt bereits vollständig angezogen ins Zimmer stürmte und die Hände in die Hüften stemmte, fiel Alfred auf, dass er gar nicht auf die Uhr geschaut hatte, „Es ist jetzt dreiviertel neun, magst du nicht endlich aufstehn?“
Dass sich im Schlaf die Wolldecke um seine Beine verheddert hatte war alles, was Alfred davon abhielt, in seinem Schreck einfach vom Sofa zu fallen.
„Und da hattest du nicht die Güte, mich ein bisschen früher zu wecken, Vater?“, schnauzte er ihn an, als er die Decke zurückschlug und hastig aufstand, um seine Sachen zusammenzusuchen.
„Na“, sagte Kurt knapp, „Erstens bist du ein erwachsener Mann, zweitens ist heute immer noch dein freier Tag – ich dachte nur dass du mir vielleicht ein bisschen im Garten hättest helfen können!“
Alfred sandte Stoßgebete gen Himmel, um nicht einfach die Fassung zu verlieren.
„Und drittens war ich schon mindestens viermal drin, aber du hast einen Schlaf wie ein Toter – da könnt eine ganze Blaskapelle neben dir stehen und du würdest dich nur geschwind auf die andere Seite drehen und weiterschnarchen!“
Alfred rieb sich das Gesicht, um endlich ein bisschen zu sich zu kommen und ging ohne ein weiteres Wort am Vater ins Badezimmer vorbei.
„Sag amal, Alfred!“, hörte er noch Kurts Stimme durch die Tür, „Seit wann bist du denn so ein Griesgram?“
Eine mentale Notiz, die gemeinsamen Fernsehabende mit seinem Vater so schnell nicht mehr in einen Übernachtungsbesuch auszudehnen, und eine ausgiebige Dusche später zog sich Alfred hastig an und ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass nicht einmal mehr Zeit für einen Kaffee war, ehe er zur Bahn musste.
„Wo willst denn jetzt so wichtig hin?“, fragte Kurt, als Alfred an ihm vorbei zur Tür hastete und fast über die eigenen Schuhe stolperte.
„Zur Arbeit. Die Bahn kommt gleich“, brummte Alfred.
„Na“, sagte Kurt, „Hast du heute nicht frei?“
Alfred atmete tief durch.
„Wenn ich heute frei hätte“, begann er ruhig, „dann würde ich es jetzt nicht so eilig haben! Vielleicht hast du über Brahms und Gartenarbeit ja vergessen, dass wir gerade kurz vor unserem eigenen Konzert eventuell ein paar zusätzliche Probeeinheiten gebrauchen könnten, wenn sich schon die Grundvoraussetzungen für alles mit einem Schlag so drastisch verändert haben.“
Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn mit nach oben gezogenen Augenbrauen kopfschüttelnd an, „Manchmal frag ich mich echt woher du die durchweg miese Laune hernimmst! Jetzt werd nicht gleich ausfallend, steig lieber schon mal in den Benz eh ich’s mir anders überlege.“
Im Auto schaltete Alfred komplett auf Durchzug.
Manchmal fragte er sich, ob sein Vater dem Schreien und der Kraftausdrücke beim Fahren nicht irgendwann überdrüssig werden würde, aber ihm fielen mit den Jahren immer kreativere Wege ein, die anderen Autofahrer von seiner Meinung über sie ungehört in Kenntnis zu setzen.
Vielleicht war das ja sein Ventil, sich mit seiner Wut sofort Luft zu verschaffen, anstatt wie Alfred die Zähne zusammenzubeißen und stets gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Eventuell würde er es einmal versuchen, ihm das gleich zu tun.
Aber nicht heute. Dafür war er eindeutig immer noch zu müde.
Auf der Suche nach einem Halteplatz zwang sich Alfred aus der trübsinnigen Trance aufzuwachen und sich mental auf die Probe vorzubereiten.
Sein Vater hupte einer Frau hinterher, die ihm die Vorfahrt genommen hatte:
„Ja du blede Funsn kimmst mer grad recht. Ge drah di!“
Dann fand er eine Parklücke und eroberte sie meisterhaft, schnaufte kurz durch und sah zu Alfred.
„Stehst um halb sieben bereit, ich hol dich dann von zuhause ab!“, sagte Kurt.
Alfred seufzte. Er hatte fast schon gehofft, er würde um den Brahms herum kommen. Vielleicht aber hatte sein Vater ja doch recht und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Alleine gehen lassen konnte er ihn ja auch nicht.
„In Ordnung“, sagte Alfred und rang sich ein Lächeln ab, „Danke für’s Fahren.“
Kurt klopfte ihm auf die Schulter, „So gefällst mir schon besser! Kopf hoch, Alfred – das wird schon wieder. Und jetzt auf in den Kampf, Torero!“
Alfred konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er seinem Vater zunickte und aus dem Auto stieg. Er musste sich trotz allem sputen, aber mit ein bisschen Glück würde er exakt zum Weiterrücken des Minutenzeigers in den Saal hasten.
Die Ampel wurde schnell grün, den Schlüssel fand er gleich und nicht einmal der fragende Blick von Jasper konnte Alfred dazu veranlassen, ein Gespräch zu beginnen und jetzt zu erklären, wieso er so knapp erst eintraf.
Er war nicht zu spät, er saß auf seinem Platz und hatte sogar noch Zeit, sich wieder einmal kurz Jaspers Kolophon auszuleihen, weil er immer noch nicht daran gedacht hatte, neues zu kaufen, ehe die Tür aufging.
Fast schon theatralisch betrat Ottesen den Raum mit langen, federnden Schritten und es wurde sofort still. Alfred vermutete mit ein bisschen Genugtuung, dass er gerade aus Berentz‘ Büro kam – wie sonst konnte er sich das leichenblasse, verkniffene Gesicht erklären, mit dem der neue Dirigent den Musikern heute gegenübertrat?
Ottesen wirkte weitaus älter mit den tiefen Sorgenfalten auf der Stirn und bemühte sich nicht einmal um ein halbes Lächeln. Der Koffer hatte schon am Pult mit der aufgeschlagenen Partitur gelegen und schon bevor er den Taktstock in der Hand hielt, hatten sämtliche Musiker Haltung eingenommen.
Sie kamen diesmal gut voran und zum ersten Mal seit einiger Zeit konnte Alfred an manchen Stellen tatsächlich den Klang genießen, der in den Jahren zu einer solchen Selbstverständlichkeit – ja, fast ein notwendiges Übel – geworden war.
Es klang wunderschön. Die Müdigkeit war verflogen und Alfred hatte das Gefühl, dass ihm jeder Griff mit einem Mal so viel leichter von der Hand ging, ja als würden seine Finger sich von allein bewegen, als müsse er gar nicht mehr viel dazu tun.
Er erwischte sich dabei, wie ihm bei der ein oder anderen Harmonie gar ein wohliger Schauer über den Rücken lief. So sollte das sein. So und nicht anders.
Wer je einmal behauptete, dass Musik eine heilende Wirkung haben würde, hatte wohl doch nicht ganz so falsch gelegen. Auch wenn er sich an manchen Stellen dann doch höllisch konzentrieren musste, weil eben doch nicht Doktor Marquardt vor ihm stand und er Ottesen wirklich noch nicht ganz einzuschätzen vermochte, konnte Alfred geradezu spüren, wie sich der vergangene Stress langsam in der Musik verlor und mit jedem Ton weiter dahinschmolz.
Lange war er nicht mehr so zufrieden mit sich und der Gesamtheit des Orchesters gewesen. Lange hatte er nicht mehr so viel Freude beim Spielen empfunden, so lange hatte er seine Pflicht ohne großes Murren getan und nun war es, als würde er dafür belohnt werden.
Hatte er manchmal schon verdrossen geglaubt, dass das Berufsleben seine Begeisterung komplett zerstört und der Musik für ihn sämtliche Leidenschaft genommen hatte, wurde er nun eines Besseren belehrt.
Er dachte gar nicht mehr nach, er gab sich der Musik hin und versank komplett in diesem wundervollen Stück, schien zu schweben, mit der Melodie mitzuschwingen und sich beinahe in den Klängen in andere Sphären aufzulösen.
Nein, Alfred saß hier nicht mehr auf dem unbequemen Stuhl und verkniff sich das Husten. Er war längst nicht mehr in dem schlecht belüfteten Saal, in dem seit gestern eine der Deckenleuchten leicht flackerte.
Alfred war eins mit der Musik und es fühlte sich an, als könne er fliegen.
Als wäre kein Hindernis zu groß, als wäre kein Weg zu weit, als könne er alles schaffen, wenn er diese Erkenntnis nur verinnerlichte und es ihm gelingen würde, dieses Hochgefühl zu jeder anderen Zeit aus seiner Erinnerung abzurufen.
Nichts war zu spät, nichts war vergebens, alles konnte sich zum besseren wenden, solange er noch die Musik hatte.
Alfred vergaß Zeit und Raum, er sah nicht einmal auf die Uhr.
Erst als Ottesen mittendrin und ohne jeglichen Anlass abbrach, riss die plötzliche Stille Alfred aus diesem berauschten Gefühlszustand. Es war wie ein plötzlicher Aufprall auf dem harten Boden der Realität. Das Licht flackerte ein bisschen. Die Kante der Sitzfläche schnitt unangenehm in sein Gesäß. Und es war so ruhig auf einmal.
Schnell warf Alfred einen prüfenden Blick auf die Partitur, ob er irgendetwas übersehen hatte. Ob er sich so sehr verloren hatte, dass er irgendetwas nicht mitbekommen hatte. Aber nein, es stimmte alles, sie alle hatten tadellos gespielt.
Was zum Henker war Ottesens Problem?
Als Alfred verwirrt wieder aufblickte, fiel gerade die Tür ins Schloss.
Stille.
Entgegen seiner Vermutung brach nicht sofort das große Gemurmel aus. Selbst Erwin ließ kein Wort verlauten; ein Blick nach hinten verriet Alfred, dass auch er einfach nur verwirrt auf das verlassene Pult starrte. Dabei nahm zumindest Erwin Gebauer sonst nie ein Blatt vor den Mund.
Es war schließlich Jasper, der betreten murmelte „Ich hab ja auch vermutet, dass ich zu laut war, aber er hätte ja einfach-“
„Unsinn“, unterbrach Alfred ihn stirnrunzelnd, „Du warst nicht zu laut.“
Ein paar Momente wartete er, als würde er hoffen, dass sich die Tür jeden Moment wieder öffnen würde. Tat sie aber nicht und er seufzte schwer.
Sie warteten fast eine Viertelstunde vergeblich.
Dann gab Alfred sich einen Ruck und stand auf. Was auch immer in Ottesen gefahren war – er würde es herausfinden, schon allein um den nahenden Auftritts willen.
Und wenn das Schiff ohne Marquardt eben doch sinken würde, sollte es zumindest nicht Alfreds Schuld sein.