Eigentlich hörte Alfred ja nicht zu, denn streng genommen ging dieses Telefonat ihn nichts an und er saß nur zufällig im Auto.
Eigentlich schaffte er es auch nicht, all seine Ängste und Sorgen soweit zu verdrängen, dass er sich überhaupt auf das Gespräch konzentrieren konnte.
Trotzdem hörte er jedes einzelne Wort mit.
„Hey Schatz“, begrüßte Theresa ihn, nachdem sie irgendein Knöpfchen an der Konsole gedrückt hatte.
Sie klang sanft, aber wieder erstaunlich gefasst – ganz im Gegensatz zu ihrem sogenannten Schatz, denn der klang gleichzeitig vollkommen übermüdet wie auch auf übliche Weise aufgebracht.
„Und?“, fragte er knapp, „Was ist jetzt?“
Berentz‘ Feingefühl war ebenso ausgeprägt wie er es vermutet hatte; nämlich überhaupt nicht. Alfred wollte gar nicht beginnen, darüber nachzudenken, ob er wusste, dass der Sohn vom Kurt gerade mithörte. Es war ihm gerade auch sehr egal, denn in seiner Weltanschauung war er jetzt nicht mehr der Sohn vom Kurt, sondern der Schatz vom Darius – selbst wenn das bedeutete, irgendwie mit dem unausstehlichen Direktor verschwägert zu sein.
„Ich fahre jetzt nach Hause“, informierte Theresa ihn jedoch lediglich, ohne auf seine miese Laune einzugehen, „Schläft Nina mittlerweile?“
Berentz schwieg kurze Zeit, als würde er lauschen, ob aus dem Gästezimmer noch etwas zu hören war. Alfreds Herz fühlte sich an, als würde es bluten, wenn er an das kleine Mädchen dachte, das nun doch alles mitbekommen hatte.
Wie gern würde er einfach bei ihr sein und sie in den Arm nehmen.
Ferdinand Berentz allerdings schien es nicht um die Kleine zu gehen.
„Was ist jetzt mit deinem Bruder?“, fragte er und Alfreds gesamte Phantasie reichte nicht dafür aus, es so zu hören, als würde er sich sorgen, „Wenn der Kerl morgen Abend nicht in diesem beschissenen Bus sitzt, haben wir ein großes Problem!“
Theresa holte tief Luft, als würde sie sich sonst vergessen.
Alfred starrte stur geradeaus. Er biss die Zähne aufeinander, weil er ansonsten einfach mit bloßen Händen die unschuldige Mittelkonsole zertrümmert hätte, nur weil sie die Stimme dieses herzlosen Mannes übertrug.
Irgendwo war ihm ja noch bewusst, dass er selbst ebenso in diesem beschissenen Bus sitzen musste und dass ihm danach überhaupt nicht zumute war, doch er schaffte es gerade nicht ganz, das volle Ausmaß dessen zu erfassen.
Die Probenfahrt schien unendlich weit weg. Dass das gesamte Orchester auf Darius angewiesen war, schien in diesem Moment so irrelevant.
Theresa entschied sich wohl dazu, dass sie sich gar nicht beherrschen wollte.
„Ist dir überhaupt bewusst, wie egal mir das ist?“, zischte sie nämlich noch gefährlich leise, wurde dann aber mit jedem Wort lauter, bis sie ihren Mann unter Tränen anbrüllte, „Es geht hier nicht um deine verfluchte Karriere! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es um ihn steht? Mir geht dein Orchester sonstwo vorbei. Es geht um das Leben meines Bruders!“
Sie schluchzte und Alfreds Hand verkrampfte um den Haltegriff am Beifahrersitz, weil er sich irgendwo festhalten musste.
Ihm war elend zumute. Eine Zeit dachte er noch, einer von beiden hätte das Telefonat beendet, doch dann hörte er Berentz schwer schnaufen.
„Sag was!“, schrie Theresa ihn an und nahm einem anderen Auto die Vorfahrt.
Berentz ließ sich Zeit. Ob er nach Worten rang oder ihm nichts mehr einfiel, konnte Alfred nicht einschätzen, aber es war ihm auch egal. Wie man dermaßen abgebrüht sein konnte, war ihm schleierhaft.
Eiskalt. Dieser Mann war eiskalt. Und irgendwie machte er sich gerade auch Gedanken um Theresa, die bei ihm wohl auf absolut kein Verständnis für ihre Sorgen stoßen würde.
„Ich verstehe“, sagte Berentz schließlich knapp, „Du erinnerst dich sicherlich an meine Worte bezüglich wiederholter Ausfälle?“
Theresa schluchzte.
„Das ist mir scheißegal!“, ließ sie ihn wissen.
Berentz räusperte sich.
„Ich verstehe“, sagte er dann abermals, wurde aber unterbrochen.
„Nein, das tust du nicht!“, schrie Theresa und holte zu weiteren Worten aus, doch diesmal war sie diejenige, die unterbrochen wurde.
„Resa! Ich bitte dich“, schnauzte er sie an, „Der Mann hatte seine Chance- mehrere- unzählige Chancen hab ich ihm gegeben, aber wie du siehst- es ändert sich nichts! Ich habe dir den Gefallen gern getan, aber jetzt ist einfach Schluss. Ich brauche einen Dirigenten, auf den man sich verlassen kann!“
Theresa schnaubte.
„Und weißt du was ich brauche?“, fuhr sie ihn an, „Ich glaube ja nicht, dass es dich überhaupt interessieren wird, was ich denke- aber ich brauche einen Mann, auf den ich mich verlassen kann!“
Damit schlug sie mit der ganzen Hand auf den kleinen Knopf und statt Berentz‘ Stimme war wieder leise das Radio zu hören.
Ansonsten konnte Alfred nur ihr leises Schluchzen vernehmen.
Dass sie trotzdem sicher Autofahren konnte, bewunderte Alfred im Stillen.
Sie sprach erst wieder, als ihm die Umgebung draußen wieder erstaunlich bekannt vorkam und fragte ihn leise, „Meinst du, dein Vater ist noch wach?“
„Unwahrscheinlich“, meinte Alfred.
Theresa seufzte, „Ich will dich ungern allein wissen.“
„Mach dir keine Gedanken. Ich komme zurecht“, beteuerte Alfred, „Würde ich um diese Uhrzeit bei meinem Vater klingeln, wäre ich einen Kopf kürzer.“
Theresa seufzte wieder.
„Kommst du denn zurecht?“, fragte Alfred dann vorsichtig.
Theresa lächelte schwach.
„Am liebsten würde ich zurück ins Krankenhaus fahren und warten, bis ich wieder zu ihm kann“, sagte sie leise, „Ferdinand will ich jetzt gerade zwar wirklich nicht sehen, aber ich muss mich um Nina kümmern.“
Alfred schnaufte leise.
„Weißt du“, sprach er dann seine Gedanken einfach laut aus und klang selbst in seinen Ohren beinahe trotzig, „Das ist ja alles schön und gut- aber ich bin der Überzeugung, dass auch du nicht immer nur geben kannst, sondern auch jemanden brauchst, der sich mal um dich kümmert!“
Theresa parkte das Auto neben seinem Haus und sah ihn an.
Einige Momente sah sie ihm nur sehr tief in die Augen, dann zuckte ein schwaches Lächeln über ihre Lippen.
„Ach Alfred“, sagte sie leise und unter ihrem plötzlich so wahnsinnig intensiven Blick fühlte er sich mit einem Mal sehr unwohl.
Er wich ihrem Blick aus, sah kurz nach draußen, aber es war dunkel, also hatte er keine andere Wahl, als sie wieder anzusehen. In Theresas Augen glitzerten wieder neue Tränen und ihre Mundwinkel zuckten.
„Wir müssen alle Opfer bringen“, flüsterte sie erstickt, „Aber vielleicht hast du recht und ich komme mit meinem Anteil davon einfach nicht klar.“
Alfred versuchte, ihr ein Lächeln zu schenken.
Er konnte ihr nicht verübeln, dass auch sie mit den Nerven am Ende war. Es war nur natürlich, nach all den Dingen, die sie mitgemacht hatte. Nach all der Verantwortung, die sie sich dabei aufbürdete und auch er hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass sie die Situation retten musste.
Erst jetzt dämmerte ihm, dass ihre Worte von vorhin darauf schließen ließen, dass es nicht das erste Mal war, dass es Darius so schlecht ging.
Und er konnte gar nicht ahnen, wie viel dahintersteckte, was geschehen war, was womöglich alles geschehen könnte – und wie wenig Unterstützung Theresa von ihrem Mann erhielt.
Ihre zarte, eiskalte Hand suchte Halt an Alfreds Arm.
„Aber man kann es sich nicht aussuchen, nicht wahr?“, wisperte sie unter Tränen und griff nach seiner Hand, „Gegen manche Dinge ist man machtlos.“
Er nickte abwesend. Irgendetwas stimmte gerade nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht und zwar so deutlich, dass er erst reagieren konnte, als es fast schon zu spät war.
Alfreds Augen weiteten sich vor Schreck, als Theresa ihre schloss und sich zaghaft zu ihm beugte. Geistesgegenwärtig schaffte er es allerdings, seinen Kopf noch fast im selben Moment zur Seite zu drehen, in dem ihre Lippen durch seine Reaktion nun sanft seine Wange streiften. Nur kurz.
Dann schluchzte Theresa und sackte kraftlos gegen ihn.
Er legte seine Arme um sie und streichelte unbeholfen ihren Rücken.
Sie vergrub das Gesicht in seine Schulter und schüttelte den Kopf, immer und immer wieder, während ihre Worte nur erstickt an seine Ohren drangen, „Oh Gott, Alfred- Es tut mir so leid- ich- ich hätte nicht- ich weiß doch auch nicht- Es tut mir leid. Ich weiß gar nichts mehr!“
Alfred hatte es gerade geschafft, sich auf ihren Zustand zu berufen, in dem sie einfach komplett durch den Wind war, als sie sich regte und ihn mit tränenüberströmtem Gesicht ansah.
Vielleicht sollte er nun wahrnehmen, wie hübsch sie war.
Vielleicht sollte er nun denken, dass ihr Mann sie nicht verdient hatte. Es wäre unter anderen Umständen womöglich sogar durchaus angebracht, sich nun dessen bewusst zu werden, wie passend alles sein könnte, wenn ganz viele Dinge anders gewesen wären.
Doch alles, was er in ihrem Anblick erkennen konnte, waren die kleinen, aber unverkennbaren Ähnlichkeiten zu Darius. Sie hatte beinahe so dunkle Augen wie er, dieselben fein geschnittenen Züge, wenngleich ihre um einiges weicher wirkten.
Und das einzige was er dachte war, dass eben dieser Mann, den er wohl zumindest annähernd so sehr liebte wie sie es tat, diese Situation hier gerade nicht verdient hatte, während er auf der Intensivstation lag und womöglich gerade in diesem weißen Bett um sein Leben kämpfte.
„Als wäre alles noch nicht kompliziert genug, nicht wahr?“, schluchzte Theresa, „Aber ich dachte, es gibt mir wenigstens Frieden, wenn du es weißt- wenn du weißt, dass mir sein Glück mehr am Herzen liegt, als mein eigenes- wenn du weißt, dass ich ihn liebe- mehr noch als ich dich liebe, Alfred.“
Sie wischte sich energisch über das Gesicht.
„Und es ist gemein, dich damit zu belasten, nicht wahr? Du kannst ja auch nichts dafür, dass die dumme verwöhnte Diva so frustriert ist, dass sie trotz ihrer Ehe seit Jahren immer wieder Gefühle für einen anderen hat“, ihre Stimme klang bitter.
Sie nahm einige hektische Atemzüge und schüttelte den Kopf.
Dann strich sie sich mit zittrigen Händen die Haare aus der Stirn.
„Es tut mir wirklich leid“, hauchte sie, „Du bist ein guter Mensch, Alfred. Ich danke dir. Ich danke dir für alles!“
Alfred spürte, wie ihm eine einzelne Träne über die Wange lief. Theresas Lippen zuckten zu einem traurigen Lächeln.
„Vergiss das bitte einfach wieder“, sagte sie leise und versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbergen, „Ich wünsche mir nur eins, Alfred- Ihr zwei sollt glücklich sein. Das bedeutet mir mehr als alles andere!“
Einige Momente sahen sie einander noch an und Alfred spürte ihren Schmerz. Nie hätte er das erwartet. Niemals hätte er auch nur im Ansatz etwas dergleichen vermutet und es tat ihm leid, wie wenig Worte er gerade fand.
„Sehen wir uns morgen?“, fragte Theresa zaghaft, als wollte sie alles wieder gut oder zumindest ungeschehen machen, „Ich kann dich abholen, dann fahren wir zusammen ins Krankenhaus? Ich muss sowieso noch in die Richtung, wie gesagt wollte ich ihm noch eine Tasche packen und-“
Alfred bemerkte, wie peinlich ihr dieses tiefe Geständnis mit einem Mal schien, wie sie das Thema wechseln wollte und schaffte es endlich, seine Sprache wiederzufinden.
„Gern“, sagte er schnell, ehe sie sich genötigt fühlte, noch mehr nach Worten zu ringen, dann konnte er sich nicht mehr an sich halten, „Kann- kann ich dich noch etwas fragen?“
Theresa stockte kurz, nickte aber dann.
Alfred knetete die Hände ineinander und konnte sie nicht ansehen.
„Es hieß, er wird Montag verlegt- ich verstehe nicht viel von solchen Sachen, aber denkst du, dass damit gemeint war, dass er-“, versuchte er einen ordentlichen Satz herauszubringen, scheiterte aber kläglich.
Theresas Lächeln wirkte noch immer unendlich traurig.
Ihre Stimme hingegen klang sanft:
„Eine Fachklinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin, spezialisiert auf Essstörungen- ja, Alfred. Daran ist nichts, wofür sich irgendjemand zu schämen bräuchte.“
Alfred nickte und schluckte weitere Tränen hinunter.
„Dort werden sie ihm helfen, nicht wahr?“, fragte er leise, „Die Leute dort kümmern sich um ihn und- Er wird wieder gesund, nicht wahr?“
Theresa zog ihn nochmals kurz in eine Umarmung, anscheinend musste er wirken, als würde er wieder gleich in Tränen ausbrechen.
„Natürlich“, hauchte sie, „Es wird alles gut, Alfred.“
Schließlich löste er sich notgedrungen und hielt die Hand an sein Ohr.
„Du kannst mich anrufen morgen- ich hab ja jetzt so ein Telefon. Mit etwas Glück schaffe ich es sogar, den richtigen Knopf zu finden, um ranzugehen!“, meinte er mit einem schiefen Lächeln.
Theresa lachte kurz.
„Zur Not stehe ich einfach vor deiner Tür!“, versuchte sie sich an einem immer noch traurig klingenden Scherz, dann wurde sie ernst.
„Pass auf dich auf, Alfred“, sagte sie leise.
Er nickte und griff nach seiner Jacke, die Theresa ihm mitsamt dem Telefon in die Hand gedrückt hatte, als sie die Wohnung verlassen hatten.
„Pass auch gut auf dich auf, Theresa“, bat er sie, „Wir sehen uns morgen.“
Sie lächelte zaghaft und nickte.
Als Alfred schon im Begriff war, auszusteigen, hielt sie ihn aber noch kurz auf und sah ihm nochmals fest in die Augen.
„Gib ihn nicht auf, bitte“, es klang wie als würde sie ihn anflehen, „Er braucht dich- aber mehr als das, er- Er liebt dich. Es fällt ihm schwer, so etwas auszudrücken, das weiß ich. Aber er liebt dich, Alfred.“
Alles in seiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen und Alfred nickte nur knapp, verabschiedete sich nochmals und stieg schlussendlich aus, damit sie nicht sah, wie ihm wieder die Tränen kamen.
Ihm war, als würde er die einnehmende und vor Jahren schon immer wieder verurteilte Person der Theresa Berentz besser verstehen können. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, nach allen Situationen, in denen sie souverän reagieren musste, nach all diesen Belastungen und persönlichen Problemen, blieb sie stark. Sie setzte ihre Prioritäten, doch in manchen Momenten war sie eben auch nur ein Mensch. Natürlich hinterließ es Spuren. Sie musste sich ihrer Rolle fügen, im Privatleben mehr als auf jeder beliebigen Bühne dieser Welt.
Aber mehr als sie ihm leid tat, bewunderte er sie dennoch.
Den Weg in seine leere, stille Wohnung überbrückte Alfred wie in Trance.
An der Garderobe erblickte er die schmal geschnittene schwarze Jacke, die er aus dem Auto seines Vaters gerettet und wieder dort aufgehängt hatte.
Alfred streichelte im Vorbeigehen sanft darüber, dann blieb er stehen, betrachtete sie traurig und nahm sie vom Haken, um die Arme um den feinen Stoff zu schließen und die Jacke fest an seine Brust zu drücken.
Sie roch noch immer nach Lavendel und unzählige Tränen tropften ungehindert auf den schwarzen Stoff, bis Alfred mit der Jacke im Arm auf seinem Sofa eingeschlafen war. Wie ein kleines Kind hielt er sie im Arm.
Liebevoll. Behütet. Sicher. Geborgen.
Er würde nicht aufgeben.
Und wenn er daran verzweifeln würde, niemals wirklich eine Hilfe sein zu können – er würde es versuchen. Er würde für Darius Ottesen bis ans Ende der Welt gehen, zur Hölle würde er fahren für ihn.
In dieser Nacht träumte Alfred nicht von seinem Onkel Ralf.
Statt der angsterfüllten Alpträume malte er sich die Zukunft mit Darius aus. Und als er nach einigen Stunden wieder wach wurde, war er fest entschlossen, dass alles gut werden würde.
Denn er würde nicht mehr einfach nur darauf hoffen.
Er würde dafür kämpfen.