Mehr als eine halbe Stunde lang hatte Alfred vollkommen erfüllt von purer Glückseligkeit vor zwei dampfenden Kochtöpfen am Herd gestanden.
Und erst beim Abgießen des Nudelwassers fiel ihm auf, dass er wohl die gesamte Zeit über geistesabwesend irgendeine kleine Melodie vor sich hingesummt haben musste.
Denn als er stockte und kurz inne hielt, verbrühte er sich zwar leicht die Hand am siedend heißen Wasser, konnte aber nichts mehr hören.
Abgesehen von gedämpften Stimmen, die kaum lauter als ein Murmeln über schon abwechselnd mit kürzeren und längeren Pausen durch die Tür zum Musikzimmer in die Küche drangen.
Er musste verrückt sein. Hatte vollkommen den Verstand verloren – und das auf die schönste und wundervollste Art, die er sich überhaupt vorstellen konnte.
Eigentlich hatte er ja geplant gehabt, nur Mehl zu holen, um Pfannkuchen zu backen. Beim Gang durch den Supermarkt allerdings hatte er beschlossen, dass er ja auch gleich noch ein paar Sachen mehr einkaufen konnte, wenn er schon mal dort war.
Ein paar Mal hatte er sich dann ertappt, wie es sich trotz des Wissens um die eigentliche Situation fast so anfühlte, als würde er hier nicht stehen und zu retten versuchen, was noch zu retten war, sondern so, als wäre alles perfekt.
Als hätte er hier sein Zuhause gefunden, bei einem wunderbaren Mann, der ihm die Welt bedeutete und einem kleinen Mädchen, das erschreckenderweise beim Nachrechnen sogar gut und gern seine Tochter sein könnte.
Auch wenn er wusste, dass er notgedrungen noch einmal einkaufen gegangen war und mit dem Einkauf vom Morgen tatsächlich erst dafür gesorgt hatte, dass überhaupt etwas Essbares im Haus war – ja, auch wenn er wusste, dass die beiden immer noch diskutierten und dass Darius die kleine Maus am liebsten so schnell wie möglich wieder loshaben wollte.
Es fühlte sich an, als würde er für seine Familie kochen.
Nie hatte er gedacht, dass er diese Art von Empfindungen je haben würde. Nie hatte er geahnt, dass er sich insgeheim überhaupt danach sehnte.
Und nie war ihm überhaupt auch nur im Ansatz bewusst gewesen, wie glücklich es ihn machen würde.
Nachdem Alfred den Tisch gedeckt, die Nudeln zusammen mit der aufgrund mangelnder Kochkünste doch eher improvisierten Tomatensahnesoße und dem bunt gemischten Salat darauf nett angerichtet hatte, füllte er drei Gläser mit Orangenlimonade und betrachtete sein Werk nicht ohne ein bisschen Stolz.
Wie lange hatte er nicht mehr gekocht? Für eine Person allein lohnte es meist nicht und mit seinem Vater wurde er nie über eine warme Mahlzeit einig. Der würde sich ja ohnehin nur über den fehlenden Braten beschweren, egal wie viel Mühe er sich auch gegeben hätte.
Aber Alfred war nicht in der Stimmung, um immer noch einen Groll gegen seinen alten Herrn zu richten. Nicht nachdem sie am späten Abend zuvor mehrere Stunden beieinander gesessen und einfach nur gesprochen hatten.
Und vor allem nicht nachdem er eben noch in jener Nacht aufgebrochen war, ohne dass sein Vater neugierige Fragen gestellt hatte.
Er hatte wohl wissen wollen, was er nun vorhatte – Alfreds Antwort darauf war aber anscheinend erstaunlich einleuchtend gewesen. Nur kurz zuvor hatte er ihm noch geraten, nicht so viel zu denken, sondern zu handeln; sein Glück selbst in die Hand zu nehmen, nicht nur Pläne zu schmieden, sondern sie auch zu verfolgen.
Somit hatte ihm der Satz „Ich tue genau das, was du gesagt hast!“ zuerst auch nur ein liebevolles Lächeln und die fast zärtlich gemeinte Aussage, dass er komplett bekloppt sein musste, entlockt.
Was er dann jedoch hatte verlauten lassen, war immer noch so tief in seinem Bewusstsein verankert, dass er auch einen ganzen Tag später nun noch davon zehren konnte. Vielleicht konnte man manche Dinge nicht von einem Mann wie Kurt Wunderlich erwarten.
In einer Situation, in der bittere Tränen geflossen und in der sich sein Sohn früher hätte anhören müssen, was für ein verweichlichter Waschlappen er war, hatte er es doch irgendwie übers Herz gebracht, seine Worte weder zynisch noch auf die aktuell besprochene Entscheidung bezogen klingen zu lassen.
Ein tief ehrliches „Ich bin stolz auf dich, Alfred“ hallte noch immer in seinen Gedanken nach, ließ ihn sich gleichermaßen stark wie nie und doch so emotional wie lange nicht mehr fühlen.
Kurz überlegte er noch, ob er die Schränke nach Kerzen oder zumindest einem Teelicht durchforsten sollte, entschied sich aber dagegen.
Neben einem Rest Privatsphäre hatte er nämlich kein Feuerzeug mehr.
Und auch wenn er vermutete, dass sich eben seine eigenen Rauchutensilien womöglich noch in genau dieser Wohnung befanden, würde er vermutlich auch so viel Zeit dabei verlieren, dass das Essen kalt wurde.
Das würde es wohl auch werden, wenn er über diese Entscheidung noch länger nachgrübelte, darum beschloss Alfred, dass es für ein improvisiertes Abendessen mehr als ausreichend war und klopfte an der Tür zum Musikzimmer.
Keine Antwort.
Es war still darin, als hätten sie ihr Gespräch nun abrupt unterbrochen, weil er sie so unverhofft dabei störte. Vielleicht hatte sie über all die wichtigen Grundsatzdiskussionen komplett die Zeit vergessen und er wollte es ihnen gönnen, miteinander zu reden und die Situation zu thematisieren.
Immerhin hatte Darius sehr aufgelöst gewirkt, er konnte es ihm nicht verübeln.
Weil er aber nicht einmal eine abweisende Reaktion vernahm, öffnete Alfred nach einem weiteren zaghaften Anklopfen doch ganz vorsichtig die Tür.
Sein Herz hatte sich kurz noch mit Sorge verkrampft, als ihm diverse Möglichkeiten durch den Kopf schossen, warum es plötzlich so still geworden war.
Dann erblickte er die beiden am Schreibtisch, gemeinsam auf Bürostuhl und Klavierhocker über irgendwelchen Papierblättern brüten und er war nicht nur erleichtert. Es fühlte sich viel eher an, als würde sein Herz dabei schmelzen.
Er wollte ungern stören, aber als Darius einen kurzen Blick über seine Schulter warf, der mehr entschuldigend als hilfesuchend wirkte, räusperte sich Alfred doch.
„Das Essen ist fertig“, meinte er etwas verlegen.
Nina sah nicht einmal zu ihm, so vertieft schien sie.
„Nur noch eine einzige Aufgabe?“, wandte sie sich stattdessen an Darius.
Der lächelte ein bisschen schief und zuckte mit den Schultern. Er wirkte kurz sehr unsicher, darum nahm Alfred ihm die Entscheidung ab und trat zu den beiden.
„Da bin ich ja neugierig, was ihr da so wichtig habt“, sagte er mit einem Schmunzeln und versuchte, einen Blick über Ninas Schulter zu erhaschen.
Unerwarteterweise waren auf den mit mehreren Notensystemen bedruckten Blättern allerdings keine Noten, sondern hauptsächlich Zahlen zu lesen.
„Hausaufgaben?“, fragte Alfred.
Darius schmunzelte, „Nur improvisiert. Immerhin wissen wir nicht mal, was wir auf haben. Dafür wollten wir beide spontan noch einmal unser Wissen über Mathematik auf Neuntklässlerniveau auffrischen.“
Alfred musste lachen.
„Wie gut, dass ich etwas anderes zu tun hatte“, meinte er grinsend.
Nina schien beim Lösen der Gleichung irgendeiner komplizierten Funktionsformel allerdings immer noch gut zuhören zu können.
„Wieso denn?“, fragte sie gleich und klang wie eine Lehrerin, „Hast du etwa alles vergessen, was du in der Schule gelernt hast?“
Alfred räusperte sich verlegen.
„Das hätte ich bestimmt schon längst getan-“, gab er zu, „Wenn ich es denn jemals verstanden hätte!“
Nina kritzelte hastig noch ein paar Zahlen, dann legte sie den Stift weg, sah zu Alfred und grinste vom einen Ohr zum anderen.
„Kennst du denn wenigstens noch die Mitternachtsformel auswendig?“, wollte sie ihn wissen und brachte ihn gewissermaßen damit in die Bredouille.
Denn auch Darius sah ihn fast herausfordernd an, zu seiner Schande musste Alfred aber gestehen, dass er sich zwar an die Existenz eines solchen Begriffs erinnerte, jedoch nicht einmal mehr wusste, wofür diese Formel gebraucht wurde, geschweige denn wie sie zumindest vom Grundprinzip her aufgebaut war.
„Das war- ähm“, begann er und wurde rot, „Wenn um Mitternacht das Telefon klingelt und der Lehrer dich danach fragt, musst du sie auswendig können?“
„Ja, das stimmt“, sie nickte heftig, „Das beantwortet aber meine Frage nicht!“
Alfred kratzte sich am Kinn, dann blieb er bei der Wahrheit:
„Da muss ich offen gestehen: Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung!“
Nina lachte fröhlich und wirkte ganz und gar nicht mehr verdrossen.
Was auch immer Darius gesagt oder getan hatte, scheinbar besaß er die Intuition, die er sich selbst noch explizit abgesprochen hatte, doch sehr wohl. Alfred ging das Herz auf, als er seine Nichte fast schon ein bisschen stolz betrachtete und schmunzelnd seine Hand auf ihre Schulter legte.
„Kennst du denn wenigstens die Formel, mit der man berechnen kann, wie lange eine Tomatensoße warm bleibt, wenn die Nudeln schon auf dem Teller liegen und niemand sie isst?“, fragte Alfred vorsichtig.
„Ach“, Nina zuckte mit den Schultern und winkte ab, „Die kommt im Test bestimmt nicht dran. Bis dahin hab ich die Nudeln nämlich auch kalt gegessen.“
„Kompromiss“, schlug Darius vor, „Du isst warme Nudeln und wir machen später weiter, wenn du so scharf auf Mathematik bist?“
Nina rollte theatralisch mit den Augen.
„Immer halten die Erwachsenen einen vom Lernen ab!“, meckerte sie.
Dann musste sie aber selbst lachen und stand tatsächlich auf.
„Ich hätte das wahrscheinlich nie verstanden, wenn du es mir nicht erklärt hättest“, gab sie an Darius gewandt zu bedenken, „Also bist du selbst schuld, wenn es mir plötzlich Spaß macht!“
Dieser nickte sehr ausgiebig und übertrieben verständnisvoll.
Dann deutete er aber doch sehr eindringlich auf die Tür, „Los jetzt, raus hier- Es gibt Essen. Alfred hat extra für dich gekocht!“
Als sie schlussendlich dann alle gemeinsam am gedeckten Tisch saßen, war Alfred wieder so unendlich warm ums Herz. Es hatte nie aufgehört, sich vollkommen butterweich anzufühlen und schlug vor lauter Glück und Harmonie ganz beflügelt in seiner Brust.
Er erwischte sich bei dem Gedanken, dass es doch immer so sein könnte.
Vermutlich war das irgendein emotionaler Ausfall, in dem er nicht mehr bedachte, wie kompliziert die Situation eigentlich war, dass ein schlimmer Familienstreit ihre zugrunde lag und er sich lächerlich machen würde, dieses Wunschdenken laut auszusprechen.
Dennoch konnte er nicht leugnen, dass er dieses eigentlich ziemlich unmögliche Mädchen innerhalb kürzester Zeit erstaunlich lieb gewonnen hatte. Womöglich lag es nicht nur daran, wie erfrischend ihre freche und aufgeweckte Art war. Am Ende spielte in diese durch und durch unangebrachten Gefühle noch mit hinein, wie liebevoll ihr Onkel trotz der überforderten Grundstimmung mit ihr umging und wie tief allein die Vorstellung einer kleinen glücklichen Familie Alfred berührte.
Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass er einfach den Verstand verloren hatte.
Dass er sich dem Traum hingab, irgendwann doch ein glückliches Leben führen zu können und je länger er hier war, desto mehr fühlte er, dass seine Vorstellung von einem solchen immer konkretere Ausmaße annahm.
Darius wirkte recht blass, nun bei Tisch aus unerfindlichen Gründen aber auch ebenso aufgeregt wie er selbst bei der Erinnerung daran, dass sie trotz einiger Verwirrungen vorhin etwas sehr Wichtiges geklärt hatten.
Sicher konnte er keine Gedanken lesen, aber vielleicht konnte er diese Erkenntnis auch nicht mehr vergessen, weil sie ihm ebenso viel bedeutete.
Sie tappten nicht länger im Dunkeln, die Ungewissheit aller Spekulationen wie ihre Bindung zueinander zu deuten war, war längst nicht mehr Thema.
Und als Alfred beiden einen guten Appetit wünschte und das Besteck zur Hand nahm, erhaschte er noch einen Blick in die mittlerweile so wohlbekannten Augen, in denen wieder einmal so viel mehr zu liegen schien, als er jemals ergründen können würde. Aber dazu hatte er hoffentlich noch sehr, sehr viel Zeit.
Davon abgesehen, dass sie einander ohnehin täglich bei der gemeinsamen Arbeit sahen – und er traute es sich noch kaum still und für sich zu formulieren, so überwältigend fühlte sich schon der bloße Gedanke daran an.
Darius war nicht mehr der Vorgesetzte, mit dem er erstaunlich viel Zeit verbrachte. Nicht mehr der Herr Kapellmeister, der ihn auch im täglichen Leben nicht mehr losließ und heimlich im Park nur in der Gesellschaft von Schubert küsste.
Er war noch immer derselbe faszinierende und unmögliche Mensch, ja.
Aber Alfred hingegen war nicht mehr der mürrische Geiger, der ihn dazu aufforderte, doch bitte seine Tasche vom Sitz zu nehmen. Er war nicht mehr der Herr Wunderlich, der sich irgendwelche Dinge einbildete und mit dem er ab und an eine Zigarette rauchte. Er war mehr als eine zufällige Bekanntschaft, die unverbindlich, immer professionell und angebracht bleiben würde.
Er war mehr als ein Freund. Er war sein Freund, sein fester Freund, sie waren ein Paar. Er war sein Partner.
Der Mann, der an seiner Seite stehen würde, solange er es wollte.
Und wenn es nach Alfred ginge- wenn er ein Mitspracherecht in dieser Sache hätte, so würde er doch hoffen- Vielleicht-
Vielleicht sogar für immer.