Am nächsten Morgen traf sich das Orchester um neun vor der Oper.
Alfred hatte sich die Finger wund gespielt, mehrmals bei Luise Frey angerufen, doch außer mäßigen Erfolg bei der Musik hatte er nichts erreicht. Er bereitete sich schon mental darauf vor, die anderen zu enttäuschen, als er Theresa erblickte.
Sie winkte ihn zu sich und präsentierte ihm einen Schlüssel.
„Mein Charme ist unwiderstehlich“, meinte sie augenzwinkernd. „Ihr braucht momentan noch keine Alternative. Ihr könnt den gewohnten Raum nutzen.“
Als sich alle im Saal versammelt hatten, nahm sie ihn zur Seite und führte ihn in ein Nebenzimmer. Kurz wunderte er sich, dann entdeckte er den Kopierer und einige säuberlich geordnete Stapel Papier daneben.
„Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut“, sagte sie eindringlich. „Ich gebe diese Noten nur ungern aus der Hand!“
Alfred rang sich ein Lächeln ab.
„Ich für meinen Teil hoffe doch, dass die Freude über eine kleine Darbietung der Sinfonie alle misstrauischen Zweifel überdecken kann“, meinte er zerknirscht.
Theresa seufzte, „Ich hoffe es ebenso. Mit Sicherheit weiß er die Mühe zu schätzen. Der Gedanke ist ja auch sehr liebenswert. Trotzdem fühle ich mich ein bisschen schlecht, das hinter seinem Rücken zu machen.“
Zum Abschied reichte sie Alfred den Stapel und holte tief Luft.
„Es geht mich nichts an, was bei euch los ist. Ich bekomme nur Teile davon mit und möchte mich nicht weiter einmischen. Trotzdem wollte ich dich um etwas bitten, Alfred“, begann sie.
Er nahm die Noten behutsam an sich und legte den Kopf schief, „Ja?“
„Du ahnst sicher sowieso, dass wir über dich reden“, seufzte sie, „Aber nach allem, was ich mitbekommen habe- Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, dir selbst jemanden zu suchen, mit dem du im Vertrauen sprechen kannst?“
Alfred stutzte. Was genau wollte sie ihm damit sagen?
Dachte Theresa, dass Alfred keine Freunde hatte? Sein Freundeskreis war mit der Zeit recht überschaubar geworden, ohne Zweifel. Aber ihm das so unter die Nase zu reiben? Musste das sein?
„Mhm“, machte er, „Mein Vater ist vielleicht nicht der beste Zuhörer, aber meist komme ich trotzdem recht gut klar.“
Theresa musste lachen.
„Entschuldige, das war missverständlich. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, ohne dass es verletzend klingt- das sollte es nicht, aber ich war mir nicht sicher, wie du es auffassen würdest“, sie klang verlegen, „Ich meinte keinen netten Gesprächspartner, sondern fachliche Hilfe.“
Alfred hob eine Augenbraue.
Es war schwer, nicht persönlich zu nehmen, dass ausgerechnet Theresa ihm dazu riet, er solle einen Therapeuten aufsuchen. Wirkte er auf sie, als brauche er Hilfe? Er würde es gern dem allgemeinen Konsens zuschreiben.
So als würde Theresa sich gerade in den Kopf gesetzt haben, dass jeder in ihrem Umfeld momentan dazu neigte, therapeutische Hilfe zu brauchen. Also galt diese kleine Ansprache gar nicht ihm persönlich. Er brauchte so etwas nicht und es war anmaßend, es ihm vorzuschlagen. Oder?
Lieber wollte er sich mit dieser Fragestellung überhaupt nicht auseinandersetzen. Lediglich eine kleine, schüchterne Stimme in seinem Kopf flüsterte, dass es bestimmt gut gemeint war. Sie wollte ihn nicht bloßstellen, sondern ihm helfen.
„Mhm“, machte er also verstehend, dann versuchte er sich an einem Scherz, „Aber das trifft sich gut, mein Vater ist ja nur bedingt ein netter Gesprächspartner.“
„Ach Alfred“, Theresa seufzte, musste aber doch schmunzeln, „Ich meine das nicht böse. Es tut jedem gut, einen Ansprechpartner zu haben.“
Sie schien zu bemerken, dass er nur betreten schwieg, also beendete sie diese skurrile Situation und Alfred war ihr zutiefst dankbar, „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht drängen. Du kannst es dir ja durch den Kopf gehen lassen!“
„Danke trotzdem“, meinte er und lächelte, „Ich nehme es dir nicht übel.“
Während der Probe herrschte vollkommene Konzentration bei allen Beteiligten.
In der Pause ging Alfred nach draußen und nahm sein Telefon zur Hand.
Natürlich konnte er jederzeit einfach Darius‘ Nummer wählen. Natürlich konnte er jederzeit eine weitere Nachricht schreiben. Es war seine eigene Entscheidung, es eben nicht zu tun, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Er konnte seine guten Vorsätze jederzeit brechen und das tun, wonach ihm war.
Doch würde es helfen? Würde er sich damit besser fühlen?
Er vermisste ihn.
Alles in ihm schrie nach Darius. Er wollte ihn bei sich wissen, in Sicherheit. Und doch war Sicherheit nicht nur das, was er am meisten brauchte, sondern auch das, was er ihm allen Anschein nach nicht geben konnte.
Es kam Alfred mit einem Mal wieder komplett töricht vor, zu glauben, dass das Konzert, das er sich so in den Kopf gesetzt hatte, etwas an Darius‘ Entscheidung ändern würde. Aber vielleicht ging es darum gar nicht mehr.
Vielleicht ging es darum, seine Mühen zu würdigen. Ihm etwas zurückzugeben, was er sich verdient hatte und ohne diese Aktion nicht bekommen konnte.
Eigentlich sollte es ihm Auftrieb geben. Ihm die Kraft schenken, weiterzumachen, alles zu geben, damit er dieses Ziel erreichen würde, das er sich selbst gesteckt hatte. Zumindest schaffte er es, das Telefon wegzupacken und unverrichteter Pläne wieder nach innen zu gehen.
Dennoch fühlte sich Alfred nach der zweiten Hälfte der Probe nur zutiefst erschöpft und über alle Maßen kraftlos.
Vielleicht hatte er sich überschätzt. Die Umsetzung war schwieriger als gedacht. Die ganze Organisation schien komplizierter als befürchtet. Es war ernüchternd. Alfred wollte nur noch nach Hause.
Er war schon im Begriff, das Telefon zu zücken und seinen Vater zu anzurufen. Er wollte fragen, ob er ihn abholen könnte und sich dann einfach nur im Sitz zurücklehnen. Darauf hoffen, dass sich all die Probleme von allein lösten.
Eine Pause schien ihm jedoch nicht vergönnt. Im selben Moment, in dem er an die frische Luft trat, erblickte er Jasper. Er schien auf ihn zu warten. Erwin wiederum war nirgendwo zu sehen.
„Was hat Frau Berentz gesagt?“, wollte Jasper wissen.
Alfred lächelte müde, „Sie bringt die Kopien morgen vorbei. Bis dahin mache ich uns den Probenraum klar. Was sagten wir, neun Uhr?“
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Jasper stirnrunzelnd. „Vorhin sahst du noch um einiges glücklicher aus!“
Alfred winkte ab.
„Mir geht es gut“, beteuerte er. „Ich habe heute Nacht nur wenig geschlafen. Das rächt sich gerade, ich bin hundemüde.“
Jasper gab sich damit zufrieden. Er bedankte sich nochmals, fiel Alfred um den Hals und machte sich dann eiliger als erwartet auf den Heimweg.
Mit dem Telefon in der Hand ging Alfred einige Schritte über den Hof und wählte schließlich die Nummer seines Vaters. Es klingelte einmal, zweimal, dann nahm er ab. Fast so, als wartete er bereits auf ihn.
„Wo bist du?“, fragte er ohne jegliche Begrüßung.
Alfred bereute den Anruf sofort. Er verdrehte die Augen und schnaufte tief.
„Jetzt tu mal nicht so genervt, wir hatten doch eh noch was vor“, blaffte sein Vater ihn an. „Bist du schon startklar?“
Alfred biss die Zähne zusammen. Sein Vorhaben schien mit einem Mal so unendlich töricht. Wollte er sich wirklich darauf einlassen?
Wollte er bis an sein Lebensende das Vatersöhnchen sein?
„Nein“, sagte er knapp, doch sein heftiges Herzklopfen ließ ihn wissen, dass er nicht so kalt war, wie er sich gab. „Die Pläne haben sich geändert.“
Diesmal war es Kurt, der tief ein und aus atmete.
„Möchtest du mich davon in Kenntnis setzen?“, fragte er ungeduldig.
Vor Alfreds innerem Auge liefen verschiedene Szenen wie ein Film ab. Er konnte nicht wieder bei seinem Vater einziehen, nicht einmal für ein paar Tage. Es wäre die schlechteste Idee, die er seit langer Zeit gehabt hatte.
„Ich bleibe zuhause“, hörte Alfred sich selbst sagen.
Seine Bitte um eine Autofahrt würde sich unter diesen Umständen albern anhören, also beschloss er im selben Moment, die Bahn zu nehmen.
„Wir können gern wieder einen Tag in der Woche verabreden, an dem wir uns sehen. Aber dabei bleibt es vorerst, außer natürlich du brauchst bei etwas Hilfe“, erklärte er mit zittriger Stimme.
„Ich?“, fragte Kurt tonlos, „Ich bin nicht derjenige, der Hilfe braucht. Aber gut, wir machen das so, wie du es möchtest.“
Alfred traute seinen Ohren nicht. Perplex blieben ihm einige Momente lang alle Worte im Hals stecken.
Dann hakte er vorsichtig nach, „Ja? Das ist in Ordnung für dich?“
„Jetzt tu nicht so, als würd ich dich zuhause festbinden“, meckerte sein Vater, „Du bist derjenige, der jeden Abend bei mir sitzt! Ich komme zurecht. Und wenn du das auch tust, soll’s mir recht sein!“
Es dauerte eine Weile, bis Alfred sich verabschieden konnte.
So sehr er sich freute, machte er sich gleichermaßen Vorwürfe. Wie konnte er seinem Vater unterstellen, grundsätzlich alles kompliziert zu machen? War nicht er derjenige, der das tat? Das Gespräch was besser verlaufen als erwartet. Er musste nicht alles schlecht reden.
Sein Vater hatte offensichtlich mehr Verständnis, als er ihm zutraute.
Eigentlich wollte er sich freuen. Bis Alfred jedoch reagieren und sich in Bewegung setzen konnte, trat Renate nach draußen.
Als sie ihn erblickte, gesellte sie sich zu ihm. Alfred wollte sich schleunigst aus dem Staub machen, doch das brachte er nicht übers Herz.
„Und?“, fragte sie lächelnd, „Hast du es dir überlegt?“
Alfred seufzte. So schnell würde er Renate nicht loswerden. Er kannte den Blick, mit dem sie ihn ansah. Entschlossenheit lag darin. Und eine tiefe Sorge, die er sich kaum erklären konnte.
„Mhm“, machte er unschlüssig.
Renate sah ihn auffordernd an. Alfred zuckte mit den Schultern. Er wollte ausweichen, aber sie fasste ihn sanft am Arm.
„Das klingt nicht überzeugend“, meinte sie tadelnd. „Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht. Mir ist bewusst, dass ich dich nicht zu deinem Glück zwingen kann. Trotzdem sträubt sich alles in mir, dich in Ruhe zu lassen.“
Alfred schnaubte, ließ sich aber widerwillig von ihr zum Parkplatz führen.
„Ich wollte längst zuhause sein“, beschwerte er sich. „Die nächsten Tage werden stressig- wir sehen uns morgen. Ich habe noch einiges zu erledigen!“
Renate schüttelte den Kopf, „Davon möchte ich dich gar nicht abhalten.“
„Sondern?“, Alfred sah sich verwirrt um, als würde der Grund für ihr Verhalten auf der Straße liegen.
Sie blieb stehen, kramte kurz in ihrer Handtasche und schloss das Auto auf.
Renate musste den Verstand verloren haben.
„Steig ein“, sagte sie knapp. „Ich habe mir das zu lange angesehen.“
Alfred lachte schallend. Es war absurd. Er konnte sie nicht ernst nehmen.
„Was wird das?“, fragte er amüsiert. „Eine Entführung? Ziehst du eine Waffe, wenn ich nicht freiwillig zum Kaffeetrinken mitkomme?“
Sie verdrehte die Augen, schmunzelte aber.
„Nein“, meinte sie nur. „Trotzdem möchte ich, dass du mich begleitest.“
Kurze Zeit später saß Alfred auf dem Beifahrersitz und beobachtete Renate aus den Augenwinkeln. Sie blickte aufmerksam auf die Straße. Er seufzte leise.
„Möchtest du mir verraten, wohin wir fahren?“, meldete er sich vorsichtig zu Wort.
Renates Lippen zuckten zu einem kurzen Schmunzeln.
„Nein“, sagte sie dann knapp.
Alfred seufzte wieder und wandte den Blick aus dem Fenster. Sie fuhren mitten durch die Stadt, der Verkehr war katastrophal, aber im Gegensatz zu seinem Vater wirkte Renate dabei wie die Ruhe selbst.
„Hast du einen Ort gefunden, an dem das Konzert stattfinden kann?“, fragte Alfred, weil ihn das vielsagende Schweigen wurmte.
„Nein“, sagte Renate abermals.
„Oder gehen wir jetzt wirklich einen Kaffee trinken und ich muss mich bei dir ausheulen, obwohl ich das nicht einmal möchte?“, versuchte es Alfred nochmals.
Renate warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.
„Nein“, sagte sie dann wieder.
Alfred blickte auf seine Hände, die er im Schoß ineinander verkrampft hatte. Eine ganze Weile lang herrschte betretenes Schweigen.
„Denkst du wirklich, ich würde dich entführen?“, durchbrach Renate die Stille, „Womöglich fahren wir zu einer leerstehenden Fabrikhalle und ich locke dich mit einem kreativen Vorwand hinein. Niemand wird dich schreien hören.“
Alfred schnaubte.
„Das ist albern“, meinte er, „Und nicht lustig. Wohin fahren wir, Renate?“
Renate rollte mit den Augen.
„Du hast mit der Entführung angefangen“, begann sie, „Aber eigentlich habe ich nur mit Theresa Berentz gesprochen und zugestimmt, dass man dir ein bisschen auf die Sprünge helfen muss.“
Alfreds Herz setzte für einen Moment aus.
„Bitte was?“, fragte er.
Sie konnte ihn unmöglich einfach zu Darius bringen. Schon gar nicht, wenn dieser nicht einmal davon wusste. Und erst recht nicht, wenn er selbst gar nicht darauf vorbereitet war, ihn zu sehen.
Es war unwahrscheinlich, dass sie dies vor hatte. Vor allem, weil sie dafür in die falsche Richtung fuhren.
Alfred war sich nicht sicher, ob diese Erkenntnis ihn erleichterte oder enttäuschte. Womöglich hatte er insgeheim doch gehofft. Beim Gedanken an das letzte Gespräch mit Theresa, drängte sich aber eine andere Vermutung auf.
Renate schnaufte amüsiert.
„Keine Sorge, ich werde dich nicht umbringen. Ich möchte dich lediglich jemandem vorstellen“, meinte sie leichtfertig.
„Mhm“, machte Alfred mürrisch, „Jemanden, mit dem ich reden soll?“
Renate öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Im selben Moment allerdings drang ein brummendes Geräusch aus Alfreds Jackentasche und er fuhr erschrocken zusammen.
Noch immer hatte er sich nicht ganz an das neue Telefon gewöhnt. So selten wie er Anrufe bekam, würde er sich wohl nie darauf gefasst machen können, dass es jederzeit Laute von sich geben konnte, egal wo er sich befand.
Darius, schoss es ihm durch den Kopf und mit zittrigen Fingern griff er nach dem kleinen Gerät und nahm den Anruf sofort entgegen.
„Ja?“, fragte er fast außer Atem.
Einige Momente herrschte Stille.
„Alfred?“, fragte dann eine kleine schüchterne Stimme.
Die Enttäuschung, dass es sich nicht um Darius handelte, hielt nur kurz an.
Wieso hatte er denn überhaupt damit gerechnet? Die Hoffnung starb wohl zuletzt, doch Alfred hatte sich ebenfalls nicht träumen lassen, dass er dieses in so kurzer Zeit so lieb gewonnene Persönchen überhaupt nochmal wiedersehen würde.
„Ja, genau der!“, sagte er deswegen schnell und konnte geradezu spüren, wie sich seine zuvor noch verkrampften Gesichtszüge entspannten.
„Ich bin’s, Nina“, erklärte sie ihm überflüssigerweise, „Theresa hat mir deine Nummer gegeben! Ich hoffe, ich störe dich nicht-“
„Nein, ganz und gar nicht“, Alfred musste von Herzen lächeln, „Das ist aber lieb, dass du anrufst. Wie geht es dir?“
Sie kicherte leise, „Mir geht’s super, und dir?“
Renate warf ihm einen fragenden Blick zu, aber Alfred hatte keine Lust, sich ihr zu erklären. Stattdessen wandte er den Blick aus dem Fenster und telefonierte ungerührt weiter.
„Ich kann nicht klagen“, log er gewissermaßen, „Aber dein Alltag ist bestimmt um einiges spannender. Wie war die Schule heute? Hast du dich mit deinem Vater wieder vertragen?“
„Ach“, Nina lachte, „Die Schule mach ich mit links! Wenn du magst, bring ich dir auch ein bisschen Mathe bei. Über Papa reden wir besser nicht, der ist so nervig wie eh und je. Aber wir raufen uns schon zusammen!“
Alfred musste schmunzeln, „Na, das klingt doch gar nicht schlecht. Wenn es wieder Probleme geben sollte und du Hilfe brauchst, kannst du dich aber natürlich jederzeit bei mir melden. Das weißt du hoffentlich, ja?“
Sie prustete laut los und meinte dann kichernd, „Klar, ich werd mich melden. Momentan glaube ich allerdings, dass vielleicht eher du Hilfe brauchst, was?“
„Hilfe?“, Alfred runzelte die Stirn, „Was meinst du damit?“
Ihm war, als könnte er geradezu hören, dass Nina über das ganze Gesicht strahlte, als sie schließlich den Grund für ihren unerwarteten Anruf preisgab:
„Ich hab den vierten Teil der Partitur!“, flüsterte sie, als wüsste sie ganz genau, wie der Plan lautete, und Alfreds Herz setzte einen Schlag lang aus.
Wieso war er nicht sofort darauf gekommen?
Natürlich kam Nina nicht nur als Darius‘ Nichte, sondern auch als Musikerin infrage, der letzte, noch fehlende Besitzer eines Satzes zu sein. Alfred schaffte es jedoch gar nicht, etwas dazu zu sagen.
„Papa hat gesagt, ich darf ihn dir heute Abend persönlich vorbeibringen!“, fuhr sie aufgeregt fort, „Dass wir zum Restaurant kommen, weil er sowieso noch was mit Tante Theresa besprechen wollte – aber ich bestehe darauf, dass ich auch zum Konzert eingeladen bin! Immerhin würde es ohne mich nicht funktionieren.“
Alfred musste von Herzen lächeln und konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.
„Das stimmt“, sagte er sanft und wischte sich verhalten übers Gesicht, „Natürlich bist du eingeladen. Ohne dich wären wir immerhin ganz schön aufgeschmissen gewesen!“
Als er auflegte, stellte Renate keine weiteren Fragen, sondern stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab und sah Alfred auffordernd an.
Er sah vorsichtig aus dem Fenster und versuchte noch zu scherzen, „Das ist aber keine leerstehende Fabrikhalle!“
Renate verdrehte lächelnd die Augen, dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und er musste beschämt den Blick abwenden.
„Na komm schon“, meinte sie leise, „Ich hab dir damals schon gesagt, dass kein Weg daran vorbeiführt, das Trauma aufzuarbeiten. Vielleicht warst du damals noch nicht bereit, aber jemand, der fast allein die Uraufführung einer komplett unbekannten Sinfonie auf die Beine stellt, schafft das doch mit links!“
Alfred musste schmunzeln. Dann schaffte er wieder, sie anzusehen und eine Weile haftete sein Blick in ihren Augen.
Renate hatte nicht gelogen. Sie meinte es wirklich gut, in ihrem Blick war keine Spur von unterschwelliger Missgunst oder Eifersucht zu erkennen, sondern nur ehrliches Wohlwollen.
Vielleicht sollte er langsam wirklich damit beginnen, ein paar lang gehegte Glaubenssätze aufzugeben und sich von der Überzeugung zu verabschieden, dass alle Menschen ihm Böses wollten.
Es war viel Zeit vergangen. Sie hatte sich verändert. Er hatte sich verändert. Vermutlich würden sie niemals dorthin zurückkommen, wo sie auseinander gegangen waren, doch warum sollten sie auch?
Alfred meinte, in Renates Blick so vieles lesen zu können, was er niemals für möglich gehalten hatte. Sie war nicht verbittert, weil er sie damals verletzt hatte. Sie würden einander niemals heiraten, so viel war sicher.
Doch noch immer waren sie Freunde.
„Danke“, sagte er sanft.
Renate lächelte beinahe liebevoll, dann rollte sie mit den Augen.
„Genug mit der Zeitschinderei!“, tadelte sie ihn, „Die Warteliste wird ohnehin lang genug sein. Ich kann dich gern begleiten, aber ich werde dich als meine Geisel erst freigeben, wenn du einen Termin zum Erstgespräch vereinbart hast!“