Als sie kurze Zeit später gemeinsam auf dem Sofa saßen, verschwendeten sie gar nicht allzu viele Gedanken an das neue Mobiltelefon.
Tatsächlich hatte Darius eine Vase gefunden, in der die eigentlich wirklich erstaunlich hübschen Blumen nun auf dem Tisch standen. Für Alfred hatte er neben dem versprochenen Handtuch auch noch etwas Trockenes zum Anziehen gesucht.
Nachdem dieser ihn allerdings sehr peinlich berührt darauf hingewiesen hatte, dass er in das nächstbeste Hemd garantiert nicht hineinpassen würde und dass er es auch nicht einmal anprobieren müsse, um das zu wissen, gestaltete sich das Unterfangen eher schwierig.
Letzten Endes hatte er Alfred nach einigen Verwirrungen das Badezimmer überlassen – zusammen mit einem Paar warmer Socken, einer gemütlich weiten Jogginghose, die Darius kein einziges Mal in seinem Leben getragen hatte, und einer ganz besonderen Kuriosität: dem durch ein Versehen beim Maschenzählen dank mangelndem Handwerkstalent wirklich überdimensional geratenen selbstgestrickten Winterpullover von Theresa.
Als Alfred sich dann in diesem doch recht notdürftig zusammengestellten Outfit zu ihm gesellte, mussten sie beide lachen.
Darius stellte durchaus ebenso peinlich berührt fest, dass seine Wahrnehmung mancher Dinge nicht genau den Tatsachen entsprach. Immerhin hätte er nie vermutet, dass Alfred und ihn wirklich so viele Kleidergrößen trennten. Theresa war damals beim Herstellen des Strickpullis verzweifelt und das war der einzige Grund, warum Darius ihn nach der Fertigstellung niemals heimlich hatte verschwinden lassen, obwohl er komplett darin versank.
Eben dieser riesenhafte Wollpullover spannte Alfred sogar ein bisschen um den Bauch, dennoch ließ der Anblick Darius‘ Herz höher schlagen.
Alfred. Alfred Wunderlich bei ihm zuhause, in seiner Wohnung, ohne Krawatte, ohne Schuhe, nur mit Socken an den Füßen und seiner Kleidung am Leib, ganz privat. Mit komplett zerzaustem, frisch geföhnten Lockenkopf, rotgefärbten Wangen und fröhlich strahlenden Augen. Ohne all die Konventionen und Einschränkungen, auf die sie in der Öffentlichkeit achten mussten.
Einfach nur Alfred, wie er mit einem verlegenen Lächeln aus dem Badezimmer trat, sich neben ihn auf das Sofa setzte und grinsend meinte, dass er ja auch einfach seine eigene Jacke hätte anziehen können.
Sie lachten beide und Darius war sich sicher, dass seine Wangen vor lauter Aufregung ebenso rosarot verfärbt sein mussten – und das, obwohl er ja nicht einmal durchgefroren gewesen war und sich nun erst langsam wieder aufwärmen musste.
Eigentlich hatte er Alfred einen Kaffee anbieten wollen.
Aber nun, da sie beieinander waren, geriet sogar das eigentlich fest als Programmpunkt eingeplante Telefon in Vergessenheit.
Darius hatte Alfred zwar durchaus eine kurze Unterweisung in die wichtigsten Funktionen gegeben, doch das Interesse hielt sich wohl momentan in Grenzen. Vielleicht lag das nicht nur an der Uhrzeit.
Immerhin brauchte er es ja gerade auch nicht, wenn der für ihn relevanteste Sinn des Geräts für ihn darin bestand, Darius jederzeit erreichen zu können.
„Die wichtigste Funktion besitzt es ja ohnehin schon-“, hatte er nämlich mitten in der Erklärung schmunzelnd gemeint, „Wenn ich es also hin bekomme, deine Nummer damit auszuwählen, wird es mir sicherlich sehr gute Dienste leisten!“
Und dann hatte er ihm das Telefon einfach aus der Hand genommen, es sehr vorsichtig auf den Tisch zur Seite gelegt und ihn mit ebenso bedachten Bewegungen sanft in seine Arme gezogen.
Darius schloss selig die Augen.
Er atmete tief den Duft ein, über dem nur leicht sein eigenes Waschmittel lag. Den allgegenwärtigen Lavendel nahm er sonst nicht bewusst wahr, nur dass der Geruch nun auch an Alfred haftete, entlockte ihm ein sanftes Schmunzeln.
Ansonsten umgab ihn einfach nur Wärme und Alfred.
Seine starken Arme, die Sicherheit die er immer ausstrahlte und sein ganz eigener Duft, der sich bestimmt aus verschiedensten Komponenten zusammensetzte, in der Kombination aber einfach nur diese Assoziation weckte: Alfred.
Einfach nur Alfred.
Schon kurze Zeit danach hatten sie es sich gemütlich gemacht.
Noch immer in einer innigen Umarmung gegen die Rückenlehne des Sofas gestützt war es nur knapp noch ein Sitzen nebeneinander. Ja, fast schon lagen sie gemeinsam aneinandergekuschelt auf dem weichen Polster, einfach nur beieinander, als würde gar nichts anderes mehr zählen.
Darius öffnete die Augen, als Alfred sich regte, um sich nur ein klein wenig zu lösen. Genug, um ihre Position ein wenig zu verlagern, dass er sich selbst gegen die Lehne sinken lassen konnte, ehe er seine Arme wieder um Darius legte.
Mit einem zärtlichen Schmunzeln legte Darius sich seitlich auf dem Sofa ab und schmiegte seine Wange an Alfreds Brust.
Seinem Herzschlag lauschend war ihm nach einiger Zeit gar, als würde sein eigener, aufgeregter Puls sich seinem unwiderstehlichen Rhythmus anpassen und langsam zur Ruhe kommen. Als würde die euphorische Nervosität allmählich einer tiefen Geborgenheit weichen, denn es war genauso, wie es sein sollte.
Hier gehörte er hin. So war es richtig.
Nichts stand mehr zwischen ihnen.
Dass er die Augen längst abermals genießend geschlossen hatte, bemerkte Darius erst, als Alfred einen zarten Kuss auf sein Haar hauchte und er sie wieder öffnete, um sich fast schon widerwillig zu Wort zu melden.
Ein bisschen unhöflich kam er sich ja schon vor, ein solch schlechter Gastgeber zu sein und den Besuch einfach so innig für sich zu beanspruchen, ohne ihm irgendeine Form von Unterhaltung zu bieten.
„Möchtest du fernsehen?“, fragte er leise.
Alfred schnaufte amüsiert und schüttelte den Kopf.
„Wie kommst du darauf?“, stellte er eine Gegenfrage, „Läuft etwas Interessantes, was du anschauen willst?“
Darius lachte, „Nein. Für gewöhnlich sehe ich so gut wie nie fern. Ich dachte nur, dir wäre vielleicht langweilig.“
„Unsinn“, Alfred schmunzelte, „Ich genieße, dass ich hier bei dir bin.“
Bei diesen Worten musste Darius lächeln, dann kuschelte er sich wieder näher.
„Ich könnte wenigstens Musik anmachen, wenn du möchtest“, meinte er noch, aber Alfred zog ihn mit einem amüsierten Kopfschütteln in einen zärtlichen Kuss.
„Mach dir nicht so viele Gedanken“, wisperte er gegen seine Lippen und küsste ihn wieder, „Ich habe alles, was ich brauche.“
Damit hatte Alfred recht, da musste Darius ihm zustimmen. War es nicht das, wonach sie sich all die Zeit gesehnt hatten?
Nach einigen Küssen lagen sie wieder beieinander und während Darius‘ Hand neben seinem Kopf auf Alfreds Brust ruhte, streichelte dieser seinen Rücken.
Es war alles, was er brauchte.
Alles, was er sich gewünscht hatte und so viel mehr.
Und doch lagen ihm noch so viele Fragen auf dem Herzen, so viele unausgesprochene Dinge. Vielleicht konnte keine Antwort der Welt etwas an seinen Gefühlen ändern und darum waren sie eigentlich gerade irrelevant – trotzdem war ihm, als würde es zumindest die Umstände etwas einfacher gestalten, über manche Sachverhalte einfach zu reden.
Vor allem solche, über die man eben normalerweise nicht sprach.
Denn was ihm am meisten auf der Seele lastete, war eigentlich die Frage danach, was nun war, was nun sein würde. Aber solche Fragen stellte man eben nicht im Alltag und eigentlich war Darius bislang auch durchs Leben gekommen, ohne es je explizit zu thematisieren, aber-
Ja, was war nun eigentlich mit ihnen?
Waren sie zwei Arbeitskollegen, die gern Zeit miteinander verbrachten und dabei Dinge taten, die man mit anderen Leuten nicht tat? War es unverbindlich und würde sich eben so entwickeln, wie es sich eben entwickelte?
Er hatte ja selbst gesagt, sie sollten es langsam angehen lassen.
Und außerdem hatte Darius auch nicht vor, eine etwaige Verbindlichkeit mit irgendwelchen Taten erneut infrage zu stellen, aber dennoch nagte es an ihm, nicht zu wissen, woran er war.
Die Frage würde sicherlich seltsam klingen und doch wollte er sie so gern einfach stellen, um zumindest ahnen zu können, wohin es führen würde, wenn er es nicht zuvor kaputt machte.
Man fragte nicht einfach mal so, ob man denn jetzt ein Paar war oder nicht.
Es klang entweder anmaßend und fordernd, wenn es nicht so war – oder aber zweifelnd und als würde man es infrage stellen, wenn es denn so war.
Eigentlich war es kein Problem, darüber einfach zu sprechen.
Denn auf der einen Seite machte ja gerade das eine feste Beziehung aus – wenn es denn eine war – dass man über alles miteinander redete.
Andererseits war es aber auch schon verdammt spät.
Vielleicht sollten sie die ernsthaften Gespräche besser vertagen, denn zumindest Alfred schien in diesem Kokon aus warmer Geborgenheit mit der Zeit schläfrig zu werden. Seine streichelnde Hand wurde immer langsamer, die sanften Bewegungen schwerfälliger, bis sie ruhend auf seiner Seite zum Stillstand kamen und Darius seinen tiefen Atemzügen lauschen konnte.
Mit einem Schmunzeln schloss er abermals die Augen und war sich sicher, dass die Fragen nicht nur warten mussten, sondern auch nicht davonliefen.
Denn auch wenn es noch dauern würde, bis es soweit war oder bis er es nicht mehr nur erahnen konnte, war Darius sich sicher, dass es genau das war, was er tief im Inneren wollte: Eine feste Beziehung mit Alfred.
Diese Situation sollte nicht einmalig bleiben. Sie sollte zum Alltag gehören, ohne alltäglich zu werden, ohne etwas von diesem Zauber einzubüßen.
Jeden Abend wollte er mit Alfred auf dem Sofa aneinandergekuschelt liegen, ohne die Angst, dass es nur ein schöner Zufall sein könnte.
Darius brauchte keinen zusätzlichen Nervenkitzel in seinem Leben mehr.
Er wollte Sicherheit. Geborgenheit.
Wo auf der Welt würde er diese Dinge finden, wenn nicht bei Alfred?
Und während er noch überlegte, wie er nun aus seiner Position die Zudecke erreichen sollte, ohne Alfred aus Versehen zu wecken, drifteten seine Gedanken allerdings auch schon in einen leichten Halbschlaf ab.
Alfred hatte recht.
Sie hatten alles, was sie brauchten.
Zumindest dann, wenn sie beieinander waren.
Als Darius wieder zu sich kam, schlief Alfred schon so tief und fest, dass er nicht einmal bemerkte, wie er sich vorsichtig aus seiner Umarmung löste.
Eigentlich hatte er ja nur aufstehen wollen, um das Licht zu löschen, doch nun hielt ihn der Anblick von allem anderen ab.
Wie wundervoll die Situation war, zog ihn einfach so sehr in seinen Bann, dass er sich diesem Zauber nicht erwehren konnte. Alfred Wunderlich schlafend auf seinem Sofa.
Friedlich schlummerte er, auch wenn er mit einem Mal nicht nur fast verletzlich, sondern auch unendlich erschöpft wirkte. Was ihn dazu gebracht hatte, mitten in der Nacht seine Adresse ausfindig zu machen, konnte Darius nicht wissen.
Es dürfte zwar nicht schwer gewesen sein, nachdem er zumindest die Straße kannte und sein Name am Klingelschild stand, aber dennoch wirkte es unüblich.
Natürlich hatte er ihn einige Stunden zuvor noch eingeladen, doch fragte sich Darius, was Alfred dazu getrieben hatte, sich mitten in der Nacht wieder darauf zu berufen, nachdem er selbst den Rückzieher gemacht hatte.
Dass es nur die Sehnsucht gewesen war, hoffte er.
Und auch wenn für jede Antwort so viele neue Fragen auftauchten, die noch ungeklärt blieben, erfüllte es Darius mit einem tiefen Frieden, dass Alfred hier nun bei ihm in dieser ansonsten fast trostlosen Wohnung war.
Er war da. Und damit war er in Sicherheit. Was auch immer ihn umtrieb, die Gesellschaft von Darius hatte ihn anscheinend wieder so ruhig werden lassen, dass er schlafen konnte und das war die Hauptsache.
Eine ganze Weile lang betrachtete er ihn auf der Kante des Sofas sitzend, unschlüssig, ob er sich nicht lieber wieder zu ihm legen wollte.
Während er Alfred aber beim Schlafen zusah, füllte jedoch nicht nur ein so innig wärmendes Gefühl seine Brust, sondern auch mehr und mehr Inspiration seine Gedanken. Immer drängendere Ideen fluteten sein Bewusstsein. Kreative Einfälle, die so schnell aufgeschrieben werden wollten, dass er es kaum aushielt.
Sachte zog er die Wolldecke um Alfreds ruhenden Körper, deckte ihn damit zu, küsste seine Stirn und schlich sich auf leisen Sohlen ins Musikzimmer.