Alfred hatte ja schon erwartet, dass er sich mies fühlen würde, wenn er der Versuchung nachgeben würde. Dass er sich aber schon beim ersten Zug die Seele aus dem Leib hustete, hatte er über diesen Gedanken fast wieder vergessen.
Während er nach Luft rang und das glühende Ding feindselig anstarrte, als wäre es der Teufel persönlich, ärgerte er sich nicht nur über seinen schwachen Willen und seine mangelnde Selbstbeherrschung, sondern haderte vor allem auch wieder mit den allgemeinen Umständen.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte seine Vermutung – sie hinkten im Zeitplan komplett hinterher, ausgerechnet heute, wo sein Vater ihn pünktlich mit dem Auto abholen wollte. Hätte Alfred so ein wunderbar neumodisches Telefon wie Ottesen eins besaß, hätte er ihm zumindest bescheid geben können, dass es später werden würde.
So hatte er keine Möglichkeit, seinem Vater wenigstens kurz mitzuteilen, dass er wohl oder übel eine Weile auf ihn warten musste.
Alfred lief zum Aschenbecher an der Ecke und drückte die Zigarette unverrichteter Dinge wieder aus, als er sich etwas vom Husten beruhigt hatte. Wie hatte er so etwas jemals genießen können? Oder war einfach die Sucht so drängend gewesen, dass er die Nebenwirkungen in Kauf genommen hatte?
Jetzt fehlten drei Zigaretten aus der Packung, wobei er eine davon nicht einmal ganz geraucht hatte. Sei’s drum; er hatte jetzt wenig Lust auf diese philosophischen Gedanken.
Statt zu rauchen entschloss er sich also dazu, ein paar Schritte zu gehen, um bei den kühlen Temperaturen draußen wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Er kam nicht weit, bevor der Wind einen Hauch Lavendel zu ihm trug und er zum ersten Mal ein Lachen vernahm, das Ottesens sonst so ernste Stimme fast komplett fremd klingen ließ. Alfred haderte schon gar nicht mehr mit dem Zufall, der die beiden erstaunlich oft zusammenführte; er blieb nur vorsichtshalber hinter einem der schön in Form gehaltenen Büsche auf dem Grünstreifen stehen, um nicht zu wirken, als würde er lauschen.
Was genau Ottesen so angeregt verlauten ließ, konnte er sowieso nicht verstehen, doch es war eindeutig seine Stimme, die sich um einiges lebhafter anhörte als sonst. Und als sich Schritte näherten, stellte Alfred nicht nur fest, dass es die klackernden Geräusche waren, die normalerweise Frauenschuhen mit hohem Absatz zuzuschreiben waren, sondern auch, dass Ottesen mittlerweile Deutsch sprach – und Alfred somit doch nach ein paar Augenblicken wirklich jedes Wort vernehmen konnte.
Verflucht sei er mit seiner Neugierde! Nun stand er hier zwar noch nahezu unsichtbar, doch würde es auffallen, wenn er nun einfach weiterlaufen oder zurückgehen würde.
„--dass du so spontan noch ein wenig Zeit gefunden hast!“, sagte Ottesen.
„Aber ich bitte dich, Darius!“, antwortete eine klangvolle Frauenstimme, die Alfred im nächsten Moment sogar ein bisschen bekannt vorkam, „Nach so langer Zeit kann ich mir doch nicht die Chance entgehen lassen, dich endlich wiederzusehen.“
Alfred war unbehaglich zumute, aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Zwar hatte er das Gefühl, in dieser doch sehr vertraut anmutenden Situation komplett fehl am Platz zu sein, aber er hielt gar kurz den Atem an, als die beiden hinter der Hecke verschwanden, durch die er glücklicherweise genausowenig sehen konnte wie Ottesen und die geheimnisvolle Dame.
„Erzähl mir doch, wie es dir ergangen ist!“, forderte Ottesen auf und sie lachte.
„Ich bitte dich, mein Lieber“, sagte die helle Frauenstimme, „Zuerst erzählst du mir alles – dein Leben ist sicherlich um einiges spannender!“
Die Frauen in Alfreds Bekanntenkreis konnte er an einer Hand abzählen und ihm fiel auf Anhieb auch keine von ihnen ein, die mal eben spontan am Opernhaus vorbeischauen würde. Noch weniger, um sich „nach so langer Zeit“ mit einem achtundzwanzigjährigen Mann „endlich“ wieder zu treffen – den sie dann noch mit Vor- und Kosenamen ansprach, obwohl er am Tag zuvor seinen ersten Arbeitstag gehabt hatte?
Dann waren die beiden aber an den Büschen vorbei und Alfred erhaschte einen Blick auf die beiden aus einem sicheren und diskreten Winkel von hinten.
Zu seinem größten Erstaunen erkannte Alfred in der Frau schon an ihrem Gang und nicht zuletzt an den langen honigblonden Locken keine geringere Dame als Theresa Berentz – nicht nur die vergleichsweise junge und überraschend hübsche Ehefrau des Direktors, sondern auch als gefeierte Sopran-Solistin eine ehemalige Kollegin von Alfred.
Er hatte zwar privat noch nicht viel mit ihr zu tun gehabt, aber natürlich erkannte er ihre Stimme. Unter anderen Umständen hätte er sie sicherlich unter hunderten herausfiltern können, so blieb Alfreds Eindruck von der Situation aber äußerst befremdlich.
Natürlich war Ottesen nicht zum ersten Mal hier, das konnte man schon an seinen perfekten Sprachkenntnissen festmachen. Sich aber während der Arbeit mit einer verheirateten Frau zu treffen, die nur unwesentlich jünger als Alfred war und somit sicherlich zehn Jahre älter als Ottesen, kam ihm kurios vor.
Nicht, dass er es überhaupt verstehen konnte, wie eine solch talentierte und mit allen guten Gaben gesegnete Frau ausgerechnet Ferdinand Berentz hatte heiraten können – aber ausgerechnet von Ottesen die Hörner aufgesetzt zu bekommen, nachdem er ihn nicht nur einfach mal so hier eingestellt, sondern auch so rührend vor den Musikern verteidigt hatte, hatte nicht einmal Berentz verdient.
Die beiden blieben nach einer Weile in einiger Entfernung stehen und nur Theresas glockenhelles Lachen drang bis zu Alfred. Ottesens Blick schien vollkommen auf ihr Gesicht fixiert zu sein, er nahm den stillen Beobachter aus der Ferne nicht einmal wahr.
Alfred beschloss, dass es Zeit war, wieder hineinzugehen und zu hoffen, dass Jasper, Erwin oder beide schon wieder aus der Pause zurück waren.
Die war nämlich bald um und wenn es nach Alfred ginge, so konnten sich weder Ottesen noch die drei Freunde eine weitere Verspätung beziehungsweise ein solch angeregtes Gespräch erlauben.
Das war wohl auch Ottesen bewusst. Er schien sich nämlich just in dem Moment an die Uhr zu erinnern, warf einen Blick auf sein Handgelenk und fasste Theresa Berentz vertraut an der Schulter. Noch während Alfred versuchte, sich von dem Anblick loszureißen, um nicht auch noch Zeuge einer moralischen Schandtat zu werden, umarmten sich die beiden innig – dann drückte Frau Berentz dem Dirigenten einen Kuss auf die Wange und er machte sich hastig auf den Weg zurück zur Eingangstür.
Schnell machte Alfred, dass er hineinkam.
Auf dieses Gespräch hatte er noch weniger Lust als auf irgendwelche Zigaretten.
Die nachfolgende Fortsetzung der Probe über, versuchte Alfred sich die Verachtung unterschwellig anmerken zu lassen, indem er Ottesen nur mit den allernötigsten Blicken würdigte. Es war ihm egal, wie viele Seiten er überblätterte. Es interessierte ihn nicht, wie sehr er zu leiden schien, wenn er das Gesicht über eine unsaubere Stelle verzog. Und noch weniger ließ sich Alfred davon ablenken, dass seine Züge besonders im Profil wie eine besonders kunstvoll gearbeitete Statue wirkten.
Verflucht sei Darius Ottesen. Verflucht sei er, bis in alle Ewigkeit!
Schon allein dafür, dass Alfred seinen armen Vater fast eine volle Stunde auf dem Parkplatz stehen lassen musste, ehe er endlich nach dem lang ersehnten Ende dieser Probe in den dunkelgrünen Mercedes steigen und sich mit einem Aufatmen auf den ledern gepolsterten Sitz sinken lassen konnte.
„Frage nicht!“, sagte er seufzend zu seinem Vater.
Dieser hob beide Augenbrauen, startete aber dann ohne weitere Fragen den Motor und beobachtete Alfred still, während er sich durch den Feierabendverkehr in der Stadt kämpfte.
Alfred hingegen beantwortete die üblichen Fragen mit beißendem Sarkasmus.
„Mir geht es blendend, die Arbeit war wundervoll und alles ist gut!“
Der alte Kurt Wunderlich war vieles – aber nicht blöd. Er konnte schon ahnen, dass Alfred nicht über das sprechen wollte, was ihn aufregte.
Als international bekannter Bariton war er bereits in jungen Jahren mehrmals um die Welt gereist. Als langjähriger Witwer seiner ersten Jugendliebe hatte er sich doch immer sein gutes Herz und seinen Mut zum Leben bewahrt. Als ehemaliger Dozent im Wiener Konservatorium hatte er bereits mit schwindelerregend berühmten Musikern zusammengearbeitet.
Aber als überaus fürsorglicher und stets besorgter Vater eines selbst ein bisschen in die Jahre gekommenen Sorgenkindes würde ihm niemals entgehen, wenn seinen Alfred eine Laus über die Leber gelaufen war – und wann Schweigen vielleicht doch nicht Gold war, sondern er ein bisschen nachbohren musste.
„Sag amal, Alfred“, begann er, als sie sich in die Schlange wartender Autos vor einer roten Ampel einreihten, „Meinst wohl ich komm auf der Brennsuppe dahergeschwommen?“
Alfred holte tief Luft, um diese Neugierde möglichst höflich im Keim zu ersticken, doch ehe er zu Wort kam, schlug sein Vater wütend auf die Hupe und manövrierte den Wagen hastig aus der Bahn eines anderes Fahrzeuges, das sich so haarknapp an ihnen vorbeidrängte, dass der linke Außenspiegel beinahe Geschichte war.
„Oasch bleder, bist noch ganz gescheit? Schleich di!“, brüllte Kurt und Alfred fasste sich mit einem resignierten Seufzen an den Kopf.
„Was hast gesagt, Alfred?“, fragte Kurt dann, aber Alfred hing trotz all seinem Leid doch noch genügend an seinem Leben, um vorzuschlagen, das unerwünschte Gespräch auf zuhause zu versprechen und Kurt sich auf den Verkehr konzentrieren zu lassen.
„Na, ich weiß ja nicht“, brummte der Vater, als Alfred ihn beim Abendbrot so kurz und knapp wie möglich in Kenntnis über die neue Situation gesetzt hatte, „Der Helge hat ja nicht mal zu mir auch nur ein einziges Wort gesagt. Ich hab ja immer schon gemeint, dass der Ferdinand manchmal ein bisschen überreagiert - aber wie sagt man so oft, Alfred: Reisende kann man nicht aufhalten!“
Er biss herzhaft in eine dicke Scheibe Wurst und Alfred gab zu bedenken:
„Das ist mir bewusst. Dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass die allgemeine Unzufriedenheit sich auch auf unsere Leistung niederschlägt. Was wiederum bedeutet, dass“--
„Sag amal, Alfred!“, unterbrach ihn sein Vater und gestikulierte fast schon bedrohlich mit dem Buttermesser in der Hand, „Warst du nicht selbst mal jung, deppert und dankbar, dass du eine Chance gekriegt hast? Es ist ja wohl noch kein Meister vom Himmel gefallen – und auch sicher kein ordentlicher Maestro!“
Damit war für Kurt das Gespräch wohl wieder beendet und Alfred dankte ihm im Stillen, dass er nicht noch weiter mit fragwürdigen Redewendungen um sich warf.