Während Alfred noch versuchte, sich über die Konsequenzen dieser kleinen Ansprache den Kopf zu zerbrechen, fiel ihm doch wieder ein, dass er zumindest auf einen Teil der Informationsflut vorbereitet gewesen wäre, hätte er die letzten Tage irgendwann einmal zugehört.
Weit kam er aber nicht mit seinen grübelnden Gedanken, denn Erwin hastete schon zu ihnen nach vorn und hob grinsend die Hand in Jaspers Richtung, der lachend zu einem High Five abklatschte.
„Hab ich dir nicht gesagt, dass er das hin bekommt?“, Jaspers Stimme überschlug sich beinahe, so ausgelassen war er.
„Nun ja!“, Erwin zuckte mit den Schultern, „Einen kleinen Rest von meinem grundsätzlichen Misstrauen musst du mir schon gewähren. Aber so lasse ich mich auch mal gern überraschen.“
Die beiden lachten miteinander, während Alfreds sehnsuchtsvoller Blick noch auf Darius‘ Rücken lag, als dieser schon geschäftig den Raum verließ – nicht ohne sich kurz über die Schulter zu wenden, wobei sich ihre Augen kurz trafen.
Und Alfred musste sich beherrschen, ihm nicht hinterher zu laufen.
Aber erstens würde das langsam sicherlich so wirken, als wäre er ein kleines Hündchen, und zweitens hatte Darius ja zu tun.
Auch er hatte wohl kollegiale Verpflichtungen, denn Jasper hatte sich schon längst zu ihm gewandt, sodass er nur noch die letzten Worte aufschnappen konnte.
„-die ganze Nacht und dann sind wir am nächsten Morgen total unausgeschlafen!“, Jasper lachte und Alfred nickte grinsend, auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging.
Er musste die Informationsflut erst einmal verarbeiten.
Und sich vor allem heiße, zarte Lippen aus dem Kopf schlagen, verdammt!
Jasper legte den Kopf schief.
„Alles gut bei dir?“, fragte er grinsend.
Eigentlich hieß die Pause auch zu Unrecht so, denn auf Stop konnte er nicht drücken, auch wenn er eben genau das bisweilen wirklich mal zum Luftholen benötigen würde.
Manchmal fühlte er sich, als wären alle anderen Menschen und vor allem in ihren rasanten Drehungen die Welt schneller als er, sodass er mit dem Leben gar nicht mehr hinterher kam.
„Ja, selbstverständlich“, hörte Alfred sich selbst sagen.
Erwin schlug ihm viel zu fest in kumpelhafter Geste auf die Schulter, sein Zusammenzucken musste trotzdem befremdlich wirken.
„Du siehst aus, als hättest du die Nacht zum Tag gemacht“, lachte Erwin, „Du wirst doch nicht etwa noch auf deine alten Tage noch abenteuerlustig werden oder wie oder was, mein lieber Herr Wunderlich?“
Jasper gluckste und wandte den Blick ab.
Wusste er etwas? Er konnte unmöglich etwas mitbekommen haben. Oder?
Für einen Moment fühlte Alfred sich ertappt, dann bemerkte er noch ernüchtert, dass diese Art der paranoiden Gedanken wohl nun in dieser Situation zu seinem ständigen Begleiter werden würde.
Das hatte er nun davon.
Aber vielleicht war es das kleinste Übel, denn trotz all der Verwirrungen hatte er selbst Mühe, sich das verträumte Lächeln aus dem Gesicht zu zwingen.
„Nun, wie sieht es aus?“, fragte Erwin schließlich und legte die Arme rechts und links um Jasper und Alfred, „Ich für meinen Teil würde heute mal wieder gern mit euch beiden einen Kaffee trinken.“
Mit einem Grinsen meinte er noch, „Wenn ich schon wieder mit Jasper allein in die Cafeteria gehe, denken die Leute bald noch, dass wir irgendwelche Geheimnisse miteinander haben!“
Alfred lachte etwas unsicher, nickte aber.
Das bildete er sich alles nur ein. Das war diese Situation, in der man durch bestimmte Gedanken eine selektive Wahrnehmung hatte und alles nur noch darauf bezog. Oder er wurde langsam wirklich verrückt.
Dass die beiden allerdings etwas von Darius und ihm wussten, war schlichtweg nicht möglich. Er hörte nur gerade besonders gut auf diesem imaginären Ohr.
„Kaffee klingt wunderbar“, meinte er mit einem zustimmenden Nicken.
Jasper strahlte, „Wie in alten Zeiten!“
Erwin grinste nur noch breiter, zog die beiden schon mit sich und wandte dann einen prüfenden Blick zu Alfred, „Wie lange ist das jetzt eigentlich her, dass wir zu dritt in der Cafeteria waren? Man könnte glatt meinen, du machst dich rar, damit wir deine Gesellschaft wieder zu schätzen wissen.“
Alfred atmete tief durch, ehe er sich dazu äußern konnte, schlug Erwin ihm aber schon auf die Schulter und lachte, „War nur ein Witz! Ich meine ja du warst schon immer ein komischer Kauz, der zu seinem Glück gezwungen werden muss. In Schöntal gibt es aber keine Ausreden mehr.“
Jasper gluckste erfreut.
„Erzähl ihm von deinem Plan!“, forderte er Erwin auf.
Alfred war sich nicht mehr so sicher, ob die Welt sich ohne ihn zu schnell für seinen Geschmack weitergedreht hatte. Womöglich hatte sich seine persönliche Welt einfach nur zu sehr um Darius Ottesen gedreht.
„Nun ja!“, Erwin löste sich von den beiden um die Tür zur Cafeteria zu öffnen, „Ich plane eine große Abschlussfete der Konzertfahrt im klostereigenen Gewölbekeller. Da wird dann nicht nur kurz angestoßen – da wird sich richtig nach Strich und Faden betrunken, dass wir die gesamte Rückfahrt verschlafen.“
„Und wer nicht mitmacht, ist ein Spaßverderber!“, wiederholte Jasper wohl Erwins höchsteigenen Originalton von einer frühere Unterhaltung über dieses Thema, denn Erwin nickte zustimmend.
Alfred schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Du planst den Abschluss, noch bevor die Fahrt begonnen hat?“, warf er scherzhaft ein, „Das nenne ich doch mal ein ausgesprochenes Organisationstalent!“
Als sie sich dann jeder mit einer Tasse latent überteuertem Kaffee an einem Tisch niedergelassen hatten, räusperte sich Erwin theatralisch und hob seinen Becher, „Lasst uns darauf anstoßen, dass wir uns bald gemeinsam in Deutschland betrinken werden!“
„Du willst mit Kaffee auf einen zukünftig geplanten Alkoholmissbrauch anstoßen?“, fragte Alfred und schnaufte, „Warum eigentlich nicht.“
„Das ist die richtige Einstellung, mein Bester!“, lachte Erwin, „Nicht die Frage nach dem Warum, sondern die Frage nach dem Warum nicht!“
Alfred schüttelte nur schmunzelnd den Kopf, aber eigentlich hatte Erwin recht.
Wenn er sich schon zu viele Gedanken machte, sollte er sich zumindest die richtigen Fragestellungen dafür überlegen. Vielleicht verbesserte sich einiges an der allgemeinen Lebensqualität, wenn man die Dinge nicht allzu eng sah.
Dass dieser noble Vorsatz jedoch einfacher gesagt als getan war, offenbarte sich ihm, als sich schwungvoll die Tür zur Cafeteria öffnete und kurz darauf sehr geräuschvoll ins Schloss fiel.
Alle Blicke wandten sich automatisch zu der Person, die wie ein Wirbelsturm in die Räumlichkeiten rauschte und dabei weder zu übersehen noch zu überhören war.
Anscheinend setzte die Dame an der Theke des Lokals gerade dazu an, sich über den Lärm zu beschweren und zu besserem Benehmen aufzurufen, als sie jedoch zu erkennen schien, wer da so dramaturgisch wertvoll eingetreten war und sich lieber wieder hinter dem Spülbecken für die Gläser verschanzte.
Bei der angetrauten Ehefrau vom Chef persönlich machte man wohl auch als sehr pflichtbewusste Angestellte mit den Benimmregeln sicherlich gern mal eine Ausnahme.
Alfred hingegen musste sich zusammenreißen, nicht zu starren, sondern sich wieder seinen beiden Kollegen zuzuwenden.
Theresa Berentz sah aus wie der Tod auf zwei Beinen und eigentlich machte ihm eine solche Situation mittlerweile mehr zu schaffen, als er zugeben würde. Sie aber dabei zu beobachten, wie sie sich aus geröteten Augen mit verlaufener Schminke im Raum umsah, als suche sie jemanden, fühlte sich trotzdem nicht richtig an.
„Da hat wohl jemand schlechte Laune“, raunte Erwin für seine Verhältnisse fast schon zurückhaltend über den Tisch und setzte wohl schon dazu an, die üblichen Mutmaßungen und Lästereien zum Ehepaar Berentz zum Besten zu geben.
Jasper aber räusperte sich leise und ließ ihn damit nicht nur stumm bleiben, sondern Alfred auch schnell seinem Blick folgen.
Der lag fast schon schockiert auf Theresa, die anscheinend gefunden hatte, was sie suchte – und mit klackernden Absätzen direkt auf ihren Tisch zusteuerte.
Alfred starrte einige Momente. Theresa sah ihn fast verzweifelt an und Alfred rutschte komplett das Herz in die Hose. Dass sie geweint hatte, konnte ein Blinder sehen. Dass sie in einer solchen Situation allerdings ihn aufsuchte, ließ all seine innerlichen Alarmglocken läuten.
„Alfred-“, wandte sie sich mit zittriger Stimme an ihn.
Erwin sah mit durchaus verwundert erhobenen Brauen von einem zum anderen, denn anscheinend konnte er sich aus dieser Vertrautheit keinen Reim machen.
Woher sollte er auch wissen, was die letzten Tage verändert hatten.
Jasper hingegen stand vielmehr ein Schock ins Gesicht geschrieben, den Alfred nicht so ganz deuten konnte.
„Hast du vielleicht eine Minute?“, fragte Theresa und Alfred zögerte wohl einen Moment zu lang in seiner Verwirrtheit, denn sie seufzte leise.
„Entschuldige bitte, ich will euch gar nicht stören“, auf ihre Lippen legte sich ein gequältes, schiefes Lächeln, „Ich dachte nur- ich, ich meine-“
Sie sog scharf Luft ein, bevor ihre Stimme endgültig brach und Alfred blickte entschuldigend erst zu Jasper, dann zu Erwin, dann erhob er sich fast schon eine Spur zu hastig.
Jasper sah irgendwie besorgt aus, Erwin allerdings stand der Missmut über seine augenscheinlichen Kontakte nach oben ins Gesicht geschrieben. Alfred bildete sich sogar ein, dass er ihn mit seinem direkten Blick vor die Wahl stellte.
Womöglich machte er sich da wieder zu viele Gedanken.
Es ging eigentlich nur darum, ob er nun aufstand und sich einer weinenden Frau annahm oder weiterhin gemütlich Kaffee trank. Eine einfache Entscheidung, denn die Verzweiflung einer Person sollte immer mit höherer Priorität behandelt werden als ein friedliches Beisammensein, das man wiederholen konnte.
Und eigentlich sollte es dabei auch belassen werden.
Dennoch hatte Alfred das Gefühl, Erwin würde diese Sache mit einem Hochverrat gleichsetzen. Immerhin war Theresa nicht nur eine beliebige Frau, sondern eben die Angetraute von Berentz – zumindest in Erwins Augen, der in der Vergangenheit nie auch nur ein gutes Haar an ihr gelassen hatte.
Somit ging es vielleicht sogar um eine Entscheidung zwischen seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten.
Alfred war sich bewusst, dass Erwin vielmehr vermutete, dass er buckelte, um sich mit der Chefetage gut zu stellen, als dass er irgendeine andere Art von Bindung zu dieser Familie in Betracht ziehen würde.
Und irgendwie war das noch um einiges schlimmer.
Aus Erwins Sicht sollte er sich womöglich zwischen seinen Freunden und seiner persönlichen Karriere entscheiden. Das war zwar kompletter Unsinn und eigentlich wollte Alfred in erster Linie nur sicher gehen, dass Darius nichts geschehen war, was Theresa nun so aufgewühlt hatte – aber wie sollte er ihm das nun auf die Schnelle klar machen?
„Wir reden später“, entschuldigte er sich bei den zweien.
Jasper nickte verständnisvoll, wenn auch etwas zerknirscht. Erwin verzog nur das Gesicht. Theresa nahm einen zittrigen Atemzug und trat von einem Bein auf das andere.
Und Alfred?
Der verließ schweren Herzens, aber mit noch viel drängenderen, sorgenvollen Gedanken zusammen mit Theresa die Cafeteria.
Vielleicht hatte er damit sein Schicksal als fünftes Rad am Wagen des ehemalig so eingespielten Trios besiegelt und würde sich bald in einer Position als Außenseiter wiederfinden.
Er konnte nur mutmaßen, dass wahre Freunde für eine solche Situation Verständnis zeigen würden und dass sie keine Freunde wären, wenn sie ihm diese Entscheidung übel nahmen.
Doch als er mit Theresa nach draußen trat und die Tür hinter sich schloss, kam es ihm vor, als wären diese Gedanken pure Heuchelei.
Vielleicht steigerte er sich gerade zu sehr in die Sache hinein.
Vielleicht hatte Erwin solche Ansprüche an seine absolute Treue gar nicht, sondern blickte aus anderen Gründen drein, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Auch wenn er es bezweifelte, aber Alfred konnte es nicht wissen.
Und womöglich hatte es auch keine Relevanz, wenn er schon gehandelt und sich damit im Ernstfall gegen seine Kollegen entschieden hatte.
Zwar nicht für die Karriere und streng genommen auch nicht für Theresa Berentz, sondern für Darius Ottesen, aber-
Am Ende aber waren seine Schuldgefühle berechtigt.
Das war nämlich genau der springende Punkt.
Wie lange würde er mit reinem Gewissen durchziehen können, von den beiden zu erwarten, dass sie für seine Belange Verständnis zeigten, wenn er sich selbst in der letzten Zeit für ihre Belange wiederum absolut keine Zeit genommen hatte?
Er konnte sich nicht darauf berufen, dass sie ihm gute Freunde sein sollten, wenn er selbst nicht damit dienen konnte, ein guter Freund zu sein.