Alfred schaffte es weder, sich zu lösen, noch diesen Kuss zu erwidern.
Sein Herz raste ebenso panisch wie seine Gedanken. Wie sollte er Darius klar machen, dass er das nicht wollte, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn nicht wollte? Wie sollte er ihm seine Angst klar machen, ohne ihn zu verletzen?
Darius schmiegte sich nah an ihn und erst als er die heißen Küsse an seinem Hals mit angehaltenem Atem überstanden hatte, konnte Alfred sich wieder rühren.
„Darius-“, begann zaghaft, während dieser sich wieder ein bisschen löste.
Allerdings machte er sich lediglich fast hektisch an den Knöpfen seiner schicken Weste zu schaffen und Alfred beobachtete schockiert, wie Darius sie sich von den Schultern streifte und anschließend zum Hemd übergehen wollte.
„Darius“, sagte er wieder, diesmal etwas lauter.
„Alfred“, hauchte Darius und küsste ihn sanft, während er seine Hand in seinem Haar vergrub und Alfred kämpfte gegen die Angst an.
Nein. Das hatte keinen Sinn. Es ging nicht. Es ging einfach nicht, so sehr er sich auch darauf einlassen wollte.
So sanft wie in seiner innerlichen Panik möglich, griff Alfred nach Darius‘ Händen, hielt sie verkrampft fest und auf seinen fragenden Blick hin küsste er zaghaft seine Finger und schüttelte den Kopf.
„Alfred-“, begann Darius unsicher, „Ist alles in Ordnung?“
Alfred schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
„Ich kann das nicht“, flüsterte er erstickt, „Wirklich nicht, Darius.“
Darius hielt in seiner Bewegung inne und starrte ihn entgeistert an.
„Es tut mir leid“, wisperte Alfred.
Darius atmete einige Male tief durch und sein Atem klang zittrig. Alfred konnte sich vorstellen, wie bescheuert er sich nun vorkommen musste, aber er konnte es wirklich nicht. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so.
Darius nickte, schnaufte resigniert und strich sich betont ausgiebig den Scheitel glatt, ohne Alfred noch eines Blickes zu würdigen. Dann zog er sich die Weste wieder an, sank gegen den Sitz und starrte wortlos auf das Lenkrad.
Alfred fühlte sich genötigt, sich zu erklären. So wenig er diese Sache eigentlich auch thematisieren wollte, so gut konnte er vermuten, wie bitter eine solche Abweisung sich anfühlen musste.
„Weißt du-“, begann er zaghaft und suchte aktiv nach Blickkontakt, während er nach Darius‘ Hand griff, „Es liegt nicht an dir. Ich für meinen Teil kann ohne Probleme ein Croissant essen, gern auch zwei oder drei. Aber das hier, ich meine- So etwas ist für mich wiederum sehr schwierig.“
Darius sah ihn lange an, als suche er den Grund für dieses Verhalten in seinen Augen. Alfreds Herz klopfte bis zum Hals, aber Darius‘ Mimik entspannte sich zusehends und schließlich rang er sich ein kleines, müdes Lächeln ab.
Dann seufzte er leise, nickte verständnisvoll, streichelte ihm noch einige Momente durch das zerzauste Haar und küsste liebevoll seine Stirn.
Er lehnte sich an Alfreds Schulter und hielt ihn einfach nur fest im Arm.
„In Ordnung“, flüsterte er sanft, „Das respektiere ich.“
Eigentlich hatte Alfred gedacht, dass er nach diesem doch sehr unangenehmen Ereignis sofort nach oben in die Wohnung flüchten würde, um sich Vorwürfen, Zweifeln und Selbsthass hinzugeben. Es vertrug sich zwar nicht mit seinem eigentlichen Anliegen, noch Zeit mit Darius zu verbringen, doch hatte er fest vermutet, dass der Reflex, schnell das Weite zu suchen, übermächtig sein würde.
Und eigentlich hatte er sich auch sehr zügig verabschieden wollen, vielleicht ein nächstes Treffen zu vereinbaren und darauf zu hoffen, dass nichts dazwischen kam. Letzten Endes aber wandte sich Darius an ihn, noch bevor er das Schweigen brechen konnte, das zwischen ihnen im Innenraum von Theresas Auto stand.
„Es tut mir leid“, sagte Darius leise.
Alfreds Lippen zuckten zu einem schiefen Lächeln.
„Es muss dir nicht leid tun“, erwiderte er.
Darius sah ihm fest in die Augen, öffnete zaghaft den Mund und griff dann nach seiner Tasche, um einen großen, dicken Umschlag daraus zu ziehen.
„Das hier ist für dich“, flüsterte er.
Verwundert nahm Alfred ihn entgegen. Einige Momente fragte er sich noch, was das wohl zu bedeuten hatte, aber noch ehe Darius erklären konnte, fiel es ihm wieder ein. Die Schatzkarte. Das war die Post, von der Jasper gesprochen hatte.
Alfreds Herz klopfte bis zum Hals, als er mit zittrigen Fingern den Umschlag öffnete. Entgegen der Vermutung, dass es womöglich ein endgültiger Abschiedsbrief sein mochte, überraschten ihn die fein säuberlich beschriebenen Blätter voller Notensysteme jedoch im ersten Moment sehr.
Zutiefst verwirrt besah er sich einige davon, doch der Umschlag war lediglich mit Papier gefüllt, auf dem Noten geschrieben waren. Eine ganze Weile fragte er sich, ob er das Stück kennen sollte und sich nun vor Darius lächerlich machte, wenn er noch nie davon gehört hatte.
Er erkannte darin eine in jedem Fall unvollständige Partitur im kompletten Orchestersatz, handgeschrieben wohlgemerkt, wobei die Linien gedruckt wirkten. Noch während er sich den Kopf zerbrach, was Darius ihm damit sagen wollte, schob er den Stapel wieder vorsichtig zusammen.
Erst als er ihn wieder in den Umschlag zurückschob, fiel sein Blick nochmals auf die erste Seite. Die römische Ziffer Drei ließ vermuten, dass dieses Stück nicht in sich abgeschlossen war. Und während Darius ihn noch etwas zerknirscht, aber doch erwartungsvoll anblickte, traf ihn die Erkenntnis tief.
Darius hatte dieses Stück selbst geschrieben.
Es war eine Komposition aus seiner höchstpersönlichen Feder und wenn er Jaspers Worte nochmals bedachte, war es wohl der dritte Satz einer ganzen Sinfonie. Während Alfred die Überschrift wieder und immer wieder las, traten ihm Tränen in die Augen, die er schnell abwischte, um das Papier nicht zu beschmutzen.
Romanze in d-Moll.
„Ich dachte, ich könnte dir das anvertrauen“, erklärte Darius schließlich, „Eigentlich wollte ich nicht viele Worte darüber verlieren, aber ich bin davon überzeugt, dass dieses für mich sehr wichtige Dokument bei dir in guten Händen ist.“
Alfred nickte und konnte seinen Blick noch immer nicht vom Umschlag lösen.
Erst als Darius sich neben ihm regte und wieder in seinen Sachen kramte, hob Alfred den Blick und Darius ließ von seiner Tasche ab, um ihn anzusehen.
„Danke“, hauchte Alfred, „Danke für dein Vertrauen. Ich werde gut darauf acht geben, bis du wieder hier bist.“
Darius lachte und schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist eine Kopie“, meinte er etwas zerknirscht, „Das Original habe ich bei mir. Ich dachte nur- für den Fall, dass ich jemals in die Lage komme, eine weitere Version davon zu brauchen-“
Er atmete tief durch.
„Natürlich kannst du es behalten, es ist für dich. Ich meinte nur, falls ich einmal eine Kopie brauche, werde ich auf dich zukommen-“, redete er sich um Kopf und Kragen und Alfred musste schmunzeln.
„Dir ist dabei aber hoffentlich bewusst, dass bereits eine Suche nach den anderen Teilen der Schatzkarte ins Leben gerufen wurde?“, fragte er und Darius starrte ihn entgeistert an.
„Zumindest scheint Jasper um einiges mehr als ich von Musiktheorie zu verstehen, denn ihm war wohl sofort klar, dass es sich hierbei um ein mehrteiliges Werk handeln muss. Ich hingegen wäre ohne seine Frage, ob ich auch Post bekommen hätte, nie darauf gekommen“, erklärte Alfred lächelnd.
Darius war tiefrot im Gesicht und lachte verlegen.
„Es hat nicht in einen Umschlag gepasst“, verteidigte er sich, „Und entweder bin ich paranoid oder zu diesem Zeitpunkt sehr melancholisch gewesen. Darum dachte ich, ich bewahre die Kopie lieber an verschiedenen Orten auf. Sicher ist sicher- auch wenn ich nicht glaube, dass irgendjemand anderes überhaupt etwas damit anfangen kann.“
Alfred tastete vorsichtig nach Darius‘ Hand und hielt sie umfasst.
„Du hast das geschrieben. Es ist dein eigenes Werk“, sagte er leise und spürte den Kloß in seinem Hals, „Natürlich bedeutet es dir unendlich viel. Ich weiß zu schätzen, dass du es unter anderem mir anvertraust.“
Darius lächelte sanft.
Er streichelte Alfreds Hand und lehnte sich wieder gegen seine Schulter.
„Ich würde es gern hören“, hauchte Alfred, in einem erneuten Anflug von Wehmut den Tränen nahe, „So gern würde ich es hören.“
Darius schnaufte amüsiert.
„Es ist keine Aufführung geplant“, winkte er ab, „Es ist mehr eine Art erster Entwurf, eine grobe Niederschrift, die ich erst noch-“
Alfred unterbrach ihn mit einem kurzen Lachen.
„Als ob“, meinte er mit zärtlichem Blick in Darius‘ Gesicht, „Als ob du irgendetwas aus der Hand geben würdest, was nicht perfekt ist.“
Darius errötete merklich, dann schüttelte er schmunzelnd den Kopf.
„Trotzdem“, sagte er bestimmt und hauchte einen Kuss auf Alfreds Schläfe, „Es gibt keine Aufführung. Ob daraus je etwas wird, steht noch in den Sternen. Als Komponist bin ich ein vollkommen unbekanntes Gesicht, meine Karriere als Dirigent habe ich erfolgreich boykottiert und in einigen Tagen bin ich erstmal weit weg.“
Alfred seufzte leise.
Natürlich hatte Darius recht. Selbst wenn er das Orchester noch leiten würde, sie standen mitten in den Vorbereitungen für die Saison. Nicht einmal als aktiver Leiter des Ensembles hätte er während des regulären Probenbetriebs einfach mal so ein ganz anderes Stück mit den Musikern einstudieren können.
Oder?
„Vielleicht ändern sich die Umstände irgendwann. Vielleicht bekomme ich irgendwann eine Chance, mich zu beweisen“, sinnierte Darius, klang dabei aber fast resigniert, „Bis dahin ist es ein bloßes Hirngespinst und ein unerreichbarer Wunschtraum, diese Sinfonie irgendwo anders als in meinem Kopf zu hören.“
Alfred hingegen überlegte.
Warum denn eigentlich nicht?
Davon abgesehen, dass niemand dieses Stück kannte, dass noch zwei Teile fehlten, von denen er nicht wusste, wer den zugehörigen Umschlag erhalten hatte – in seinem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander und ein komplett unmöglich erscheinender, aber doch so auf der Hand liegender Plan formierte sich.
Das war es, was Jasper gemeint hatte. Darauf hatte er hinausgewollt.
Er war nicht neugierig.
Er wollte die Sinfonie zusammensetzen und mit Renates Hilfe dafür sorgen, dass Darius‘ größter Wunsch in Erfüllung ging. Ein Abschiedskonzert.
Ein musikalisches Abschiedsgeschenk, das ihm zeigen würde, wie wichtig er all den Menschen hier war und ihn davon überzeugte, wieder zu kommen.
Zurück nach Wien, wo er hingehörte.
Zurück zum Orchester, das ihn brauchte.
Und zurück zu ihm. Alfred fasste sich ein Herz.
„Sehen wir uns vorher nochmals?“, fragte er zaghaft.
Darius sah ihn lange an und seufzte.
„Ich weiß nicht, ob das angebracht wäre“, sagte er leise, „Und ich bin mir im Klaren darüber, dass es uns eigentlich egal sein wollte, ja, das ist mir bewusst. Aber in diesem Fall habe ich einfach Angst, dass es uns mehr schaden als helfen würde, wenn uns der Abschied dann umso schwerer fallen wird.“
Alfred gab sich einen Ruck, „Du hast sicher über Theresa davon gehört und ich wollte dich fragen- Möchtest du mich am Mittwoch ins Steirereck begleiten?“
Darius starrte ihn entgeistert an.
„Garantiert nicht“ platzte es wie aus der Pistole geschossen aus ihm heraus und fast trotzig senkte er den Blick, „Davon abgesehen, dass es der letzte Ort ist, an dem ich mich momentan aufhalten möchte- wie stellst du dir das vor? Ich kann da nicht einfach aufkreuzen, als wäre nichts gewesen. Ich kann nicht einfach dabeisitzen, als würde ich dazugehören. Nicht nachdem, was gewesen ist.“
„Du gehörst dazu“, beteuerte Alfred, „Genau aus dem Grund, was alles gewesen ist! Ich bin mir sicher, jeder versteht deine Situation. Ich bin mir sicher, jeder wird sich freuen, dich zu sehen. Und was Berentz angeht- Du bist meine Begleitung, er kann mir nicht absprechen, jemanden mitzubringen, so wie er es der Allgemeinheit angeboten hat.“
Darius schnaufte und schloss für einen Moment die Augen.
„Mag sein“, meinte er tonlos, „Aber mich bekommen keine zehn Pferde dorthin. Es tut mir leid, Alfred. Ich bin gern bereit, dir einen Gefallen zu tun, aber das- das ist zu viel verlangt. Das mache ich nicht.“
Alfred nickte.
Ihm entwich ein leises Seufzen.
Irgendwie verstand er ja. Er könnte die Diskussion nun natürlich weiterführen, ihm klarmachen, dass er ihm keinen Gefallen zu tun brauchte, sondern er es ja nur gut gemeint hatte. Er könnte es persönlich nehmen und die beleidigte Leberwurst spielen, doch Darius hatte seine Meinung klar geäußert.
Wie sehr konnte er verlangen, dass er darauf wert legte, dass sie nicht aneinander vorbeiredeten, wenn er eine solch deutliche Ansage nicht ernstnehmen würde?
„In Ordnung“, sagte er schließlich.
Dann hauchte er einen kleinen Kuss auf Darius‘ Haar und schmiegte sich in einem Anflug von Angst vor der folgenden Einsamkeit an ihn.
Darius warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Es ist spät“, sagte er schließlich.
Alfred spürte, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog.
„Wenn du magst, könntest du jetzt auch noch mit mir nach oben in die Wohnung-“, versuchte er verzweifelt, nicht in die Situation eines Abschieds zu kommen, doch Darius unterbrach ihn.
„Alfred“, sagte er und seine Lippen zuckten zu einem schiefen, etwas traurig wirkenden Lächeln, „Ich fahre jetzt nach Hause. Du solltest schlafen, du musst morgen arbeiten. Wenn du möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen.“
Mit einem tiefen Seufzen nickte Alfred schweren Herzens.
„Ja, das mache ich“, versprach er.
Darius rang sich ein Lächeln ab, „Alles weitere können wir am Telefon klären. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Alfred. Schlaf schön.“
„Danke“, Alfred atmete zittrig aus, dann schloss er instinktiv die Augen und näherte sich zaghaft Darius‘ Gesicht.
Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer und setzte einige Schläge aus, als Darius den sanften Abschiedskuss erwiderte und Alfred ein paar Augenblicke nur in der Berührung seiner süßen Lippen versank.
„Sehen wir uns wieder?“, flüsterte Alfred erstickt in den Kuss hinein, „Ich möchte dich wiedersehen, Darius.“
Darius schloss ihn fest in seine Arme und suchte wieder seine Lippen.
„Wir sehen uns wieder“, versprach er schließlich ganz außer Atem und strich sich mit zitternden Fingern einige Haarsträhnen aus der Stirn, „Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht unter welchen Umständen, aber- Wir sehen uns wieder.“
Alfred war den Tränen nahe, als er hastig nickte, über Darius‘ Wange streichelte und noch einen kurzen Kuss auf seine Nasenspitze hauchte.
„Komm gut nach Hause“, flüsterte Alfred.
Darius schmunzelte.
„Du auch“, scherzte er noch.
Alfred musste trotz allem lachen.
„Ja, was für ein weiter und beschwerlicher Weg-“, meinte er mit brüchiger Stimme und schaffte es endlich, sich von Darius zu lösen und die Tür des Autos zu öffnen, „Ich melde mich- ich rufe dich an, versprochen!“
Darius sah zu ihm, nickte leicht und Alfred meinte, dieselbe Sehnsucht in seinem Blick ablesen zu können, die auch er verspürte. Warum musste es nur so schrecklich kompliziert sein?
„Pass gut auf dich auf“, sagte Darius leise.
Alfred schnaufte und musste lächeln.
„Du auch“, erwiderte er zärtlich.
Als er ausgestiegen war und Darius den Motor startete, schaffte Alfred nicht mehr als ein paar Schritte in Richtung Tür, ehe er sich umwandte und den Rücklichtern von Theresas Auto noch eine ganze Weile hinterher starrte.
Freitag Morgen würde Darius Wien verlassen, das hatte er ihm vorhin erklärt.
Bis dahin hatte Alfred Zeit, alles ins Reine zu bringen.
Bis dahin hatte er die Gelegenheit, sein Möglichstes zu geben, um Darius eine Grundlage zu bieten, gern wieder zurückzukehren.
Und so unwahrscheinlich es auch klang, dass irgendetwas, was er tun oder lassen würde, Darius umstimmen würde, wenn er insgeheim bereits beschlossen hätte, dass der Abschied nicht von begrenzter Dauer war – Alfred würde es nicht unversucht lassen.
Er hatte nicht vor, aufzugeben. Weder Darius noch die Chance auf eine gemeinsame Zukunft. Und am allerwenigsten sich selbst.
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