Als Darius zuhause ankam und die Jacke fein säuberlich an seine Garderobe hängte, waren sämtliche Zweifel und Bedenken wieder komplett verflogen.
Er war einfach nur glücklich.
So anmaßend glücklich darüber, dass Alfred ihm klargemacht hatte, wie ernst es ihm war. So unangebracht glücklich darüber, dass er diesen wundervollen Abend mit ihm erleben durfte.
Auch wenn es bereits doch schon recht spät war, an Schlaf war mit so viel neugewonnener Energie nicht zu denken. Stattdessen kochte Darius Kaffee, spülte damit noch eine der Schmerztabletten hinunter, die er sich ohne Theresas Wissen hatte noch einmal verschreiben lassen.
Sicher war sicher, er wollte immerhin nicht von diesem verdammten Bein von der Arbeit, von seinem Privatleben und schon gar nicht von seinem kreativen Schaffen abgehalten werden.
Sie musste es nicht erfahren, immerhin hatte sie darauf bestanden, ihm jedes Mal vorzuschreiben, wann er das Schmerzmittel einnehmen durfte und wann nicht – das war nicht nur albern, sondern auch unlogisch, immerhin wusste sie ja gar nicht, wann er Schmerzen hatte und wann nicht.
Der Arzt hatte zwar belehrend darauf hingewiesen, dass die Packung unmöglich schon leer sein könnte, sich dann aber doch nach einer längeren Diskussion auf ein neues Rezept eingelassen, weil ihm sicherlich die Zeit knapp geworden war.
Dass er das Knie vielleicht eher ein bisschen schonen, kühlen und hochlagern sollte, kam Darius bei einer solchen Lappalie allerdings noch viel alberner vor.
Es bestand keinerlei Risiko für bleibende Komplikationen und gegen die Schmerzen waren eben diese Tabletten erfunden worden, wo also lag das Problem, wenn er sie genau für diesen Zweck nutzte? Außerdem war er lange erwachsen und auch wenn er wirklich nicht undankbar für ihre Hilfe sein wollte, übertrieb Theresa es auch in den meisten Fällen mit ihrer Fürsorge.
Da war sich Darius hundertprozentig sicher, zumindest in Situationen, in denen er so beschwingt und guter Dinge wie jetzt war.
Einen kurzen Gedanken verschwendete er noch daran, dass sein Telefon noch auf lautlos gestellt war, doch dann störte ihn immerhin niemand, wenn er nun ins Klavierzimmer ging und eine Weile lang nur beschwingte Melodien vor sich hinklimperte, bis er sich imstande sah, ein wenig zu arbeiten.
Nachdem er die ganzen letzten Tage absolut nichts zustande gebracht hatte, ging es ihm heute erstaunlich gut von der Hand.
Er kam schnell vom Übermüt in die Konzentration und von angestrengten Erörtern der Möglichkeiten noch schneller in einen produktiven Zustand, in dem es einfach funktionierte, ohne dass er um jede Note kämpfen musste.
Wie er es vermisst hatte. Dieses Gefühl, dass die angestauten Ideen endlich mächtig genug waren, sich ihren Weg nach draußen zu bahnen. Als wäre die Blockade in Form eines innerlichen Damms von all den kreativen Fluten eingerissen worden, die nun nach außen strömten und nur so aus seinen Fingern flossen, weil sie es nicht mehr eingepfercht in seinem Unterbewusstsein aushielten.
Einmal den Bleistift in der Hand schrieb er nun mehrere ganze Seiten voll, ohne abzusetzen oder das Geschriebene doch noch einmal ausprobieren zu müssen.
Er musste die Möglichkeiten nicht am Klavier durchgehen, um sich zu entscheiden, was in welchem Fall besser klingen würde. Es gab keine Zweifel, dass alles genau so sein sollte, wie er es gerade in seinem Kopf hatte.
Er hörte die Musik geradezu, auch ohne eine einzige Taste zu berühren.
Vielmehr noch: Er fühlte sie.
Fühlte, wie sie mit ihm in einen Kreislauf aus Geben und Nehmen verschmolz. Was er in sich trug, schrieb er auf und je gewisser er sich seiner Komposition wurde, desto mehr ergriff sie von ihm Besitz. Alles, was aus ihm heraussprudelte, floss wieder in ihn zurück und brachte ganz neue Ideen in Schwingungen, die wiederum die nächsten anstießen.
Über diese Hochphase seines Schaffensprozesses vergaß Darius zwischenzeitlich mehrmals, dass er sich eine Tasse Kaffee eingegossen hatte. Wenn er sich erinnerte, nahm er nur einen hastigen Schluck, ehe er weiterarbeitete.
Erst als die Kaffeekanne leer war und es draußen zu dämmern begann, legte er den Bleistift nieder und ging noch einmal die letzten Seiten durch.
Nicht nur, dass er einiges produziert hatte, auch qualitativ hatte er gerade wenig an sich selbst auszusetzen. Vor allem hatte er nicht einfach vor lauter Frust etwas vollkommen Zusammenhangsloses geschrieben, das er vielleicht irgendwann einmal verwenden könnte, sondern es wirklich über einige Stellen hinaus geschafft, die ihm lange Zeit noch Kopfzerbrechen bereitet hatten.
Sicherlich würde er irgendwann einmal noch dies und jenes abändern und überarbeiten, doch konnte er eindeutig zufrieden mit sich sein,
Während die nächste Kanne Kaffee durch die Maschine lief, bereitete Darius schon ausgiebig im Badezimmer für den nahenden Tag vor. Denn jetzt brauchte er auch nicht mehr ins Bett zu gehen, nach diesen paar verbliebenen Stündchen würde er nur zerstörter sein, als er es ganz ohne Schlaf je sein könnte.
Nach der Dusche erinnerte er sich daran, dass er noch einiges an getragener Kleidung herumliegen hatte und entschloss sich dazu, dass noch genügend Zeit war, die Waschmaschine in Betrieb zu nehmen.
Als er die Wäsche sorgfältig nach Farbe ordnete, auf links wendete und noch zuvor alle Taschen leerte, um nicht versehentlich beispielsweise ein Papiertaschentuch mitzuwaschen, fiel ihm ein kleiner Notizzettel aus der Hose, die er am Wochenende getragen hatte, in die Hand.
Darius erstarrte in seiner Bewegung und konnte den Blick nicht mehr von dem beschrifteten Papier wenden, das er unverwandt zwischen seinen Fingern hielt.
Kristian.
Mit einem Schlag war alles wieder da, was er noch mit Absicht in die hinterste Ecke seines Bewusstseins verdrängt hatte.
Nicht nur der Abend des Konzerts und wie er geendet hatte. Nicht nur die Erinnerung an die folgenden Tage und wie furchtbar schlecht es ihm gegangen war.
Nein, es war als würden nicht nur die Bilder in seinen Kopf zurückkehren, sondern auch all die niederschmetternden Gefühle mit einem Mal wieder über ihn hereinbrechen.
Kurze Zeit wusste er nicht, was er tun sollte. Er war versucht, den Zettel einfach wegzuwerfen und die gesamte Situation zu ignorieren.
Es lag streng genommen längst wieder in der Vergangenheit. Es war bloß ein Fehltritt, der ihm nicht wieder passieren würde. Doch würde es wirklich besser werden, wenn er es einfach nur von sich wegschob?
Hielt Kristian sich überhaupt noch in Wien auf oder was hatte er damit gemeint, dass er sich jederzeit bei ihm melden konnte?
Nicht, dass es ihn interessierte. Doch eine klitzekleine, schüchterne Stimme meldete sich zu Wort und erinnerte ihn daran, dass er in dieser Nacht einen nicht zu verachtenden Grundstein für seine Zukunft gelegt hätte, würde tatsächlich Kontakt zu Monsieur Chevalier in Paris hergestellt werden können.
Darius legte das kleine Stück Papier in die Schublade an seinem Schreibtisch und verschloss diese mit zwei Umdrehungen des kleinen Schlüssels.
Damit würde er sich nicht jetzt befassen. Es hatte Zeit.
Vielleicht nach der Arbeit, vielleicht an einem freien Tag.
Heute stand noch die genauere Besprechung der Pläne für die Konzertreise an und erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich noch nicht einmal um die engere Auswahl der möglichen Unterkünfte gekümmert hatte.
Während er sich aber an den Computer setzte und sich mehrere Webseiten von akustisch geeigneten Tagungsstätten zu Gemüte führte, konnte er zwar die Gedanken abschütteln, nicht aber das plötzlich wieder aufkommende, sehr drängende Unwohlsein.
Er schaltete den Drucker ein, um die wichtigsten Informationen wenigstens auf Papier festgehalten zu haben und sich vielleicht später noch genauer damit zu befassen. Recht unverhofft beschloss sein Magen, dass er sich von der letzten Tasse Kaffee lieber doch wieder trennen wollte und einige Minuten lehnte Darius einfach nur schwer atmend am Waschbecken und stellte das Universum in Frage.
Danach cremte er sich ausgiebig die Hände ein und schrieb Theresa eine Nachricht am Telefon.
„Bist du wach?“ – das klang sicherlich nicht sehr freundlich, doch mittlerweile musste er ihr seine stets unfassbar gute Laune am Morgen ja schon hinreichend wieder in Erinnerung gerufen haben.
Wenige Momente später rief sie ohne schriftliche Antwort einfach an.
Er kam gar nicht dazu, sich nach dem Annehmen des Anrufes überhaupt ordentlich zu melden, als es schon aus ihr heraussprudelte.
„Bist du schon wach oder noch wach?“, bereits ihre Begrüßung klang vorwurfsvoll und besorgt, „Ist alles in Ordnung? Sag mir bitte nicht, dass ihr es wieder nicht auf die Reihe bekommen habt, in Ruhe miteinander über alles zu sprechen!“
Darius schnaufte angestrengt tief durch.
So hatte er sich dieses Telefonat natürlich nicht vorgestellt, ansonsten hätte er sich wohl zweimal überlegt, ob er es überhaupt initiieren wollte.
„Guten Morgen, Theresa“, sagte er betont ruhig, „Hast du gut geschlafen?“
Theresa schnaubte kurz.
Es klang gleichermaßen amüsiert wie auch ein wenig genervt.
„Warum war mir sowieso schon klar, dass ich nie erfahren werde, was gestern in meiner Abwesenheit vonstatten gegangen ist?“, beschwerte sie sich.
Darius verdrehte die Augen.
„Dafür, dass ihr das ohne meine Hilfe nie geschafft hättet, finde ich das ganz schön dreist“, meinte sie und ihre Stimme klang schon etwas sanfter, „Nun erzähl schon – oder weswegen hast du geschrieben?“
Er holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Irgendwie war er sich seines Vorhabens doch gar nicht mehr so sicher.
Immerhin war es immer noch Theresa, die sich über alles gleich aufregte und wahnsinnig viele Gedanken machte. Auch Theresa, die ihm immer und überall stets nur das Beste wollte und unter jeglichen Umständen helfen würde.
Aber eben auch Theresa, die selbst nicht immer ausgeglichen war.
„Ich muss dir etwas sagen“, schaffte er es aber doch, sein eigentliches Anliegen zumindest anzukündigen.
Theresa war sofort in ihrem Element.
„Ihr werdet heiraten? Wann?“, fragte sie und tat ganz aufgeregt, bevor sie herzhaft lachte, „Ich hoffe doch, dass ich eingeladen bin!“
Darius stöhnte genervt.
„Das ist nicht lustig“, ließ er sie wissen, „Und außerdem ist es immer noch eine eingetragene Lebenspartnerschaft.“
Theresa räusperte sich und ihre Stimme klang immer noch belustigt, „Was wolltest du mir also erzählen? Wie sich euer erstes richtiges Date im Steirereck zugetragen hat, wie vortrefflich ich euren Tisch ausgewählt habe und dass ihr euch dann ganz romantisch zum ersten Mal geküsst habt?“
„Nein! Also doch, aber nein. Ich- ich meine, etwas anderes“, stotterte er.
Kurz herrschte Stille, in der Theresa entweder sprachlos war oder darauf wartete, dass er auch wirklich etwas sagte. Als er es aber eben nicht tat, meldete sie sich nach einigen Momenten wieder zu Wort.
„Das heißt? War denn noch etwas anderes? Nun sag schon“, fragte sie anfangs noch ruhig und in erster Linie viel zu neugierig, bevor ihre Stimme mit seinem anhaltenden Schweigen doch zittriger wurde.
„Darius, was ist passiert?“
Und in diesem Moment sah er sich gar nicht mehr in der Lage, wirklich am Telefon von der ganzen Misere zu berichten.
Bei näherem Nachdenken musste sie es ja auch gar nicht wissen.
Weder hatte es irgendwelche Auswirkungen noch würde er sich wirklich besser fühlen, wenn er ihr davon berichtete. Warum also hatte er überhaupt diesen absurden Gedanken gehabt, sich damit an sie zu wenden?
Sie hatten das ganze Dilemma doch schon wirklich hinreichend in der Vergangenheit thematisiert und es gab keinen Grund, warum es wieder aktuell werden könnte. Er würde einfach alles vergessen und den kleinen Zettel nie wieder aus der Schublade nehmen – außer, um ihn vielleicht doch einmal zu entsorgen, wenn er den Mut dazu fand.
Theresa darin einzuweihen, was passiert war, würde alles nur unnötig kompliziert machen, warum hatte er daran bloß nicht früher gedacht?
Zum Beispiel bevor er ihr um fünf am Morgen eine Nachricht schrieb. Und bevor er sich schon derartig aufgeführt hatte, dass sie sich wieder sorgte.
„Darius“, forderte sie ihn nämlich drängend auf, „Bitte sprich mit mir!“
Er holte tief Luft.
„Es ist nicht so wichtig“, sagte er schnell, aber dafür war es zu spät.
Kurze Zeit später machte sie ihm nämlich bereits am Telefon eine Szene, weil sie ihm nicht glaubte und ihn gut genug kannte, um zu vermuten, dass er es sich einfach nur im entscheidenden Moment dann doch anders überlegt hatte.
Darius versuchte, sie zu beschwichtigen.
Auf diese Weise war es ihm nun endgültig vergangen, ihr auch nur im Ansatz irgendetwas zu erzählen, aber Theresa fasste auch dies wohl eher als Anlass dafür auf, sich noch mehr darüber aufzuregen.
„Lass uns später reden“, bat er sie, „Nicht am Telefon!“
Theresa schnaubte wütend.
„Ich soll nun also stundenlang warten und zittern, was in Gottes Namen du mir eröffnen möchtest? So funktioniert das nicht, Darius!“, fuhr sie ihn verärgert an.
Kurz bevor die ganze Sache im Disput endete, einigten sie sich darauf, dass er früher zur Arbeit fahren würde und sie ihn dort auf einen Kaffee traf.
Theresa hatte noch angeboten, dass sie ihn abholen könnte, doch er bestand darauf, eigenständig mit der Bahn zu fahren, um seine Würde zu behalten.
Hastig packte er seine Sachen, vergaß um ein Haar die Ausdrucke bezüglich der Übernachtungsmöglichkeiten für die Arbeit und verbrachte die einsame Bahnfahrt mit Kopfhörern in den Ohren.
Lange saßen sie zusammen auf der Brunnenmauer und sprachen kein einziges Wort. Darius starrte in den Kaffeebecher aus dem Automaten, bis Theresa sich wohl einen Ruck gab und das Schweigen brach.
„Weißt du“, begann sie, „Ich kenne dich zu gut, um mir keine Sorgen zu machen. Und ich möchte wissen, was du mir sagen wolltest!“
Darius schluckte und konnte sie einfach nicht ansehen.
„Am Abend des Konzerts-“, begann er schließlich mit belegter Stimme und so sehr er gehofft hatte, dass sich die Situation durch seinen neu gewonnen Mut wieder entspannen würde, erreichte er damit wohl das Gegenteil.
„Ich wusste es“, fiel ihm Theresa sofort ins Wort, aber entgegen seiner ersten Vermutung wirkte sie gar nicht so wütend wie einfach nur zutiefst betrübt, „Ich hätte es mir von Anfang an denken können – ich bin doch nicht blöd, Darius.“
Er schluckte wieder und schloss einen Moment lang die Augen.
„Eigentlich hatte ich auch gehofft, dass du es mir viel früher erzählst“, sagte sie dann leise, „Aber vielleicht sollte ich einfach dankbar darüber sein, dass du überhaupt etwas gesagt hast?“
„Bitte was?“, Darius schnaufte verärgert, „Ich habe gar nichts gesagt! Du lässt mich ja nicht mal zu Wort kommen.“
Theresa strich sich mit einer fahrigen Handbewegung die Haare aus der Stirn.
„Es geht um Kristian“, meinte sie dann und es klang nicht nach einer Frage.
Darius senkte den Kopf, weil er ihrem Blick nicht standhalten konnte.
„Wie ich schon sagte, Darius“, sagte Theresa, „Ich kenne dich mittlerweile ein bisschen und ich kann mir gut vorstellen, warum du es plötzlich so eilig hattest! Und dass du nicht wegen des Beins gelitten hast, war mir sowieso klar.“
Darius schwieg solange bis Theresa näher zu ihm rückte und den Kopf mit einem tiefen Seufzen an seine Schulter lehnte.
Er legte seinen Arm um sie und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
„Ich bin dir doch nicht böse“, meinte sie leise, fast als wollte sie einlenken, dabei hatte Darius gar nicht vor, einen Streit entbrennen zu lassen, „Aber das muss wirklich ein Ende haben – noch vor allem anderen muss diese Sache endlich vom Tisch sein, ein für alle Mal!“
Darius nickte zaghaft und biss sich auf die Unterlippe.
Selbst wenn die Chance bestand, seine Arbeit durch Kristian bis zu Chevalier zu bringen, es war einfach nicht wert, dass er sich deswegen wieder auf ihn einließ.
„Wenn du willst, spreche ich mit Ferdinand“, sagte Theresa schließlich, „Er war komplett ahnungslos, es war keine Absicht. Bitte halte dich von diesem Mann fern, Darius, ich flehe dich an! Denk daran, was alles geschehen ist und-“
Sie machte eine kurze Pause und sah ihn dann mit einem kleinen Lächeln an.
„Denk an alle, die es wirklich gut mit dir meinen. Denk an Alfred!“