Die nachfolgende Probe ging emotional komplett an Alfred vorbei.
Er grübelte, dachte nach, zerbrach sich den Kopf und war vollkommen in seinem Gedankenkreisen gefangen, sodass er kaum bemerkte, als sie irgendwann tatsächlich am Ende angekommen waren. Eigentlich hätte es ihm auffallen müssen, denn selbst sein Autopilot steuerte ihn nicht mehr, nachdem Renate anfing, ihre Sachen zusammenzupacken und so saß er nur da, während um ihn herum die Leute schon aufstanden und nach draußen gingen.
„-ob du noch in die Cafeteria mitkommst“, schnappte er noch eine schüchterne Stimme neben sich auf und blinzelte Jasper verwirrt an.
„Mhm?“, fragte er und versuchte es eher unentschlossen als unaufmerksam klingen zu lassen, aber zumindest Erwin hatte ihn längst ertappt.
„Nun ja“, meinte er kopfschüttelnd, „Unser Alfred lebt mal wieder in seiner eigenen Welt, da müssen wir seiner Entscheidung auf die Sprünge helfen!“
„Aber-“, versuchte Alfred zu protestieren, als sich die beiden wie auf ein stilles Kommando hin rechts und links bei ihm unterhakten und ihn mit sich zogen.
„Nichts aber“, widersprach Erwin grinsend, „Manchmal musst du zu deinem Glück eben gezwungen werden! Du hast selbst gesagt, du möchtest wieder mehr Zeit mit uns verbringen, also gelten deine Ausreden nicht.“
Jasper gluckste und fügte zaghaft hinzu, „Außerdem laden wir dich ein!“
Alfred konnte sich eines kleinen Lächelns nicht erwehren und schüttelte nur hilflos den Kopf, ehe er sich mit einem Seufzen seinem Schicksal ergab und sich dann aus dem Klammergriff befreite, um sein Telefon zu zücken.
„Fein, aber lasst mich bitte kurz meinem Vater bescheid geben, dass es heute doch später wird“, bat er die zwei und beschloss, dass er unter diesen Umständen wohl einfach direkt von der Oper zum Schwedenplatz fahren würde.
Natürlich war zunächst Kurt wenig erfreut darüber, dass Alfred die Pläne änderte, doch dann schien er erstaunlich gelassen, nachdem er ihm erklärt hatte, dass er zuerst noch mit Arbeitskollegen ausgehen und dann nochmals die Sache mit dem Kapellmeister klären würde.
Er erinnerte ihn lediglich daran, dass er ihn anrufen sollte, wenn er wieder zuhause war, damit sie absprechen konnten, wann der kleine Umzug stattfinden sollte. Alfred hielt sich bedeckt mit seiner Vermutung, dass er diesen Plan vielleicht komplett verwerfen würde – das musste er seinem Vater wohl am besten unter vier Augen berichten.
Schließlich suchten sie sich ein nettes Plätzchen im Außenbereich der Cafeteria, wo es sonnig war und man das schöne Wetter genießen konnte.
Fast ertappte Alfred sich dabei, äußerst dankbar zu sein, dass die beiden ihm keine Wahl gelassen hatten. Aber um wirklich entspannt zu sein und im Moment zu bleiben, war er noch immer viel zu aufgebracht von Renates Worten und zu aufgeregt, was die weiteren Pläne am Abend betraf.
„Hast du eigentlich heute zugehört?“, fragte Jasper vorsichtig.
Alfred starrte ihn an, dann kratzte er sich am Kinn.
„Du hast mich erwischt“, gab er zu, „Welche Revolution dieser Welt habe ich heute mit meiner grenzenlosen Verträumtheit verpasst?“
Erwin lachte schallend, selbst Jasper musste grinsen.
„Nun ja – Wenigstens sind deine faulen Ausreden amüsant“, meinte Erwin und schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter, „Wir fahren doch nach Deutschland und betrinken uns in einem Kloster.“
Bevor Alfred verdutzt sein konnte, fügte er jedoch noch hinzu: „Nein, das war ein Scherz, immerhin meinte Ottesen, dass er kurz vorher noch krank werden muss. Aber stattdessen gehen wir am Mittwoch Abend alle zusammen schick essen. Das ist wohl der Trostpreis für unsere verpasste Nacht im Gewölbekeller!“
Alfred seufzte leise. Natürlich herrschte Unmut und sicherlich meinte Erwin es gar nicht so, doch es fühlte sich dennoch falsch an, so etwas zu hören.
„Aber wir müssen uns trotzdem betrinken“, piepste Jasper, „Hat Erwin gesagt!“
Dieser nickte heftig, „Oh ja! Da ist es nicht mit zwei Gläsern Sekt getan, wir brauchen Alkohol – viel davon. Und noch mehr, da wir vorher ja gut gegessen haben, immerhin möchte ich, dass sich jeder Anwesende mit Scham an den Abend erinnert und alles bereut, was er im Suff von sich preisgegeben hat.“
Jasper stupste Erwin an und schüttelte tadelnd den Kopf.
„So sehr müssen wir es ja nicht übertreiben“, lenkte er ein, dann legte sich ein strahlendes Grinsen auf sein Gesicht, „Aber wir dürfen alle jemanden als Begleitperson mitbringen! Ist das nicht genial?“
Erwin stöhnte auf, „Erinnere mich nicht daran! Wenn das meine Frau herausfindet, dann will sie bestimmt tatsächlich mitkommen.“
Jasper gluckste, „Na, das wäre doch schön.“
„Nein, das wäre das Ende sämtlicher lustiger Aktivitäten!“, beschwerte sich Erwin, „Was glaubt ihr, warum ich mich betrinken will?“
„Weil du zuhause ganz lieb und brav bist?“, neckte Jasper ihn.
Alfred beobachtete die Szenerie mit einem fast liebevollen Schmunzeln.
Die beiden verhielten sich auf gewisse Weise fast wie ein altes Ehepaar, das weder miteinander noch ohneeinander konnte. Dennoch stimmte ihn der Gedanke an ein solches Geschäftsessen eher nachdenklich.
Es sah Berentz nicht ähnlich, auf eine solche Weise seiner Meinung nach Geld zum Fenster herauszuwerfen. Davon abgesehen, dass Erwin schon Pläne hatte und Jasper aus irgendeinem Grund Feuer und Flamme dafür war, bemerkte Alfred, dass ihn entgegen allem, was er sich einzureden versuchte, vor allem wurmte, dass er allein hingehen würde. Wie außerordentlich unvernünftig.
Das war nicht der Abschlussball einer amerikanischen High School, sondern lediglich eine Wiedergutmachung für den verpassten Ausflug und er sollte sich lieber freuen, statt die plötzliche Großzügigkeit anzuzweifeln.
Vielleicht lag es nicht einmal an den Umständen, dass er bei einer solchen Neuigkeit nicht fröhlich sein konnte. Wahrscheinlich war er einfach nur allgemein mies drauf und die einzige Chance, dies zu ändern, wäre sich endlich von all diesen Gedanken zu lösen, die ihn nicht nur lähmten, sondern komplett aus dem Geschehen katapultierten.
Denn als er sich dazu zwang, wieder zuzuhören, waren die beiden anderen schon um einiges weiter in ihrem Gespräch und anscheinend schon bei einem ganz anderen Thema angekommen.
„Aber der Zug fährt über München und Salzburg und kommt erst gegen sechs am Bahnhof an“, erklärte Jasper ohne jeglichen für Alfred ersichtlichen Zusammenhang, „Ich weiß gar nicht, wie wir das alles hinkriegen sollen.“
Natürlich hatte er nicht mitbekommen, wer wann wohin reisen wollte. Alfred verfluchte sich selbst und nahm sich vor, ab jetzt wieder aufmerksam zu sein.
„Wohin geht es denn?“, versuchte er sich wieder ins Gespräch einzubringen.
Beide Blicke lagen auf ihm. Erwin wirkte amüsiert, Jasper peinlich berührt.
„Du hast wieder nicht zugehört“, stellte er unglücklich fest.
Alfred seufzte tief, „Ich gebe es zu. Ich bin mit dem Kopf ganz woanders!“
Jasper wirkte ein bisschen zerknirscht, aber er schien sich dennoch ein verständnisvolles Lächeln abzuringen.
„Das macht nichts“, sagte er freundlich, doch irgendwie hörte es sich in Alfreds Ohren nicht sehr glaubhaft an, „Wir freuen uns trotzdem, dass du uns Gesellschaft leistest. Nicht wahr, Erwin?“
Erwin nickte übertrieben, „Natürlich. Es ist uns eine Ehre!“
Die restliche gemeinsame Zeit lief in etwa ebenso ab.
Jasper und Erwin redeten, witzelten und tauschten wohl einige wichtige Informationen aus, Alfred versuchte sich zu konzentrieren, bekam aber nur die Hälfte mit und jedes Mal, wenn er vorsichtig eine Vermutung über das aktuelle Thema einbrachte, war das Resultat wenig befriedigend.
Trotzdem versuchte er mehrmals, sich zu verabschieden, ohne dass er mit diesem Vorhaben zur Flucht Erfolg hatte. Erwin machte ihm unmissverständlich klar, dass er sie nun unmöglich sitzen lassen könnte.
Erst als er sich kurz auf die Toilette entschuldigte, wandte sich Jasper ein bisschen verlegen, aber im Vertrauen an ihn und beichtete, dass sie gemeinsam den Plan geschmiedet hatten, ihn ein bisschen aus seinem Loch zu holen, weil er die letzten Tage zunehmends schlechter auf sie gewirkt hatte. Dass Erwin das ja nicht so ausdrücken könnte, aber dass auch er sich sorgte und dass sie gedacht hatten, sie könnten ihn ja einmal auf andere Gedanken bringen.
Wie vom Donner gerührt sah Alfred ihn an und wusste nicht, ob er sich schämen oder darüber freuen sollte, dass die beiden damit einmal mehr bewiesen, dass ihnen etwas an ihm lag – obwohl er es ihnen wirklich nicht einfach machte.
Er wusste es zu schätzen.
Jasper versicherte ihm, dass sie nicht böse auf ihn waren, auch wenn er nicht richtig zuhörte. Sie sorgten sich nur, dabei berief er sich darauf, dass sie ja nicht blöd waren und sehen konnten, wie sehr ihm alles zu schaffen machte.
Was er damit meinte, konnte er sich denken.
Trotzdem fiel Darius‘ Name kein einziges Mal und Alfred war sich nicht sicher, ob er froh darüber war oder lieber einfach alles loswerden würde, was ihm auf der Seele brannte. Die Chance dazu lag unausgesprochen im Raum, das war ihm bewusst. Und zumindest Jasper traute er zu, dass er mit jeglicher Information in der Hinsicht vertraulich umging.
Als Erwin kurze Zeit später wieder da war, ließ sich Jasper nichts von seiner kleinen Ansprache anmerken und die Unterhaltung lief wie gehabt weiter.
Trotz allem saßen sie über zwei Stunden zusammen, ehe Erwins Handy klingelte. Er blickte aufs Display, verdrehte die Augen und verabschiedete sich mit den Worten, dass seine Frau ihn umbringen würde.
Jasper schien darauf gewartet zu haben. Im selben Moment, in dem Erwin nach innen verschwand, um seinen Teil der Rechnung zu bezahlen, beugte er sich nämlich fast verschwörerisch zu Alfred und sah ihn durchdringend an.
„Hast du auch Post bekommen?“, flüsterte er.
Alfred hob verwirrt eine Augenbraue.
„Bitte was?“, fragte er unsicher, „Bestimmt habe ich Post bekommen, aber da ich die letzte Nacht bei meinem Vater geschlafen habe, für gewöhnlich am Sonntag nicht mehr als die Zeitung zugestellt wird und ich keine Gedanken lesen kann, wäre ich dankbar, wenn du ein bisschen spezifischer werden könntest.“
Jasper schnaufte mit einem schiefen Lächeln.
„Du warst also nicht an deinem Briefkasten“, stellte er fest, dann äußerte er seine kuriose Verschwörungstheorie noch unverständlicher als zuvor, „Ich bin mir sicher, dass du auch Post bekommen hast. Es war gar kein Stempel drauf, also gehe ich davon aus, dass er es persönlich eingeworfen hat.“
Alfred war im Begriff, „Wer?“ zu fragen, doch im selben Moment hatte er auch schon eine Vermutung. Er runzelte die Stirn und musste schlucken.
„Was für Post, Jasper?“, fragte er beunruhigt.
Dieser schien entweder gerade den Verstand zu verlieren oder sich daran zu ergötzen, dass Alfred keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Auf sein Gesicht legte sich nämlich ein strahlendes Lächeln und seine Augen leuchteten fröhlich.
„Freundschaft in G-Dur“, flüsterte er und sah ihn so aufgeregt an, als würde er ihm ein wahnsinnig gut gehütetes Geheimnis anvertrauen.
„Ah“, machte Alfred verstehend, obwohl er genau dies eben nicht tat, „Und ich soll nun wissen, was du mir damit sagen möchtest? Geht es dir gut, Jasper?“
Jasper seufzte schwer.
„Stell dir einen Abenteuerfilm vor“, meinte er dann.
Alfred hob beide Augenbrauen.
„Ich weiß nicht, was das werden soll, aber wenn dein Ziel war, mich komplett zu verwirren, dann kannst du dir einen durchschlagenden Erfolg anrechnen“, kommentierte er den plötzlichen Themenwechsel resigniert.
Jasper schüttelte den Kopf, dann fuhr er fort.
„Es ist-“, er schien kurz zu überlegen, „Wie eine Schatzkarte, die in verschiedene Teile zerrissen ist! Nur wenn man sie miteinander kombiniert, findet man heraus, wo die Truhe mit dem Piratengold versteckt ist- also wenn ich in Erfahrung bringe, wo die anderen Teile gelandet sind, dann könnte ich-“
„Jasper“, unterbrach Alfred ihn besorgt, „Ist alles in Ordnung? Du redest vollkommen wirres Zeug. Ich schwöre, diesmal habe ich zugehört, aber was zur Hölle?“
Jasper schnaufte tief durch.
„Geh nach Hause und schau in den Briefkasten. Wenn du Post hast, ruf mich an. Ich weiß genau, was wir tun müssen- Renate wird uns sicherlich helfen!“, gab er noch mehr Rätsel auf und Alfred war sich sicher, dass zumindest einer von ihnen gerade komplett den Verstand verlor.
Alfred entschied sich dazu, gute Miene zu bösem Spiel zu machen.
Er kramte sein Telefon heraus, um mit Jaspers Hilfe seine eigene Rufnummer herauszufinden und ihm diese anzuvertrauen. Im Gegenzug speicherten sie Jaspers Nummer in seinen Kontakten ein und gleich auch noch die von Erwin, um sicher zu gehen und natürlich auch, weil er sie noch nicht hatte.
„Also“, meinte Jasper, als Alfred es wohl endlich geschafft hatte, ihm klar zu machen, dass er wirklich nicht mehr länger hier sitzen wollte, „Sobald du verstehst, was ich meine – und das wirst du, sobald du nach Hause kommst, da bin ich mir einfach sicher – gibst du bescheid und wir machen uns auf die Suche nach den anderen Teilen der Schatzkarte!“
Alfred holte tief Luft. Aber es würde keinen Sinn haben.
So nickte er nur bereitwillig und tätschelte unbeholfen Jaspers Schulter.
„In Ordnung“, sagte er dann einfach nur, statt seine Sorgen abermals auszusprechen, „Und du versprichst mir, dass du dich ein wenig ausruhst und nicht zu viele Abenteuer erlebst? Wir sehen uns morgen. Pass auf dich auf!“
Jasper grinste, bezahlte ungefragt für sie beide und umarmte Alfred kurz zum Abschied. Die ganze Zeit über konnte er nicht aufhören zu grinsen.
„Du denkst ich bin verrückt“, stellte er äußerst treffend fest.
Alfred zuckte hilflos mit den Schultern.
Er konnte das alles nicht zuordnen. Und diesmal bestand keine Chance, dass es an seiner mangelnden Aufmerksamkeit gelegen hatte. Vielleicht war Jasper einfach ebenso durch den Wind wie er selbst, es gab keine andere Erklärung dafür.
Jasper wirkte zufrieden, seine Worte jedoch blieben nach wie vor kryptisch:
„Ich bin gespannt, was du sagst, sobald du es verstanden hast!“