Darius hatte nur Augen für Alfred.
Vollkommen fasziniert sah er ihm einfach nur dabei zu, wie er sich schließlich doch seinem Vater erbarmte und die stolzen Lobeshymnen über sich ergehen ließ.
Er bewunderte ihn, wie er mit Jasper und Erwin scherzte, die sich beim anschließenden Wortwechsel wie ein eingespieltes Team die Bälle zuwarfen und einen albernen Spruch nach dem anderen zum besten gaben.
Es schien, als würde er gerade aufblühen, nun da der Stress der letzten Tage einfach abfiel und sie sich über ihren Erfolg freuen konnten. Dass Darius dabei beinahe zum Statisten der Unterhaltung wurde, störte ihn keineswegs.
Ab und an nippte er an seinem Sektglas, die ganze Zeit aber sah er einfach nur lächelnd zu Alfred und schmunzelte über manche der durchaus subtilen Witze.
„Darius!“, Theresas Stimme riss ihn beinahe unsanft aus diesem seligen Zustand der schwärmerischen Verträumtheit, „Da bist du ja!“
Ein paar Momente dauerte es, bis er bemerkte, dass sie nicht tadelnd oder besorgt klang, sondern hellauf begeistert. Dann fiel sie ihm auch schon ebenso stürmisch wie zuvor Nina um den Hals, drückte ihn fest, sah ihn überglücklich an und küsste beide seiner Wangen.
Kurz starrte er sie noch perplex an, dann erinnerte er sich daran, dass sie nach dem Konzert noch gar nicht wieder gesprochen hatten. Das musste er über Alfreds Existenz glatt vergessen haben, doch Theresa schien ebenso froh wie sie auch gleichermaßen komplett betrunken wirkte.
„Du hast dich selbst übertroffen“, schwärmte sie, „Es war so wunderschön! Ich weiß, du wolltest eine kritische Rezension, aber dieses Konzert wird in die Geschichte dieses Opernhauses eingehen. Ein Meilenstein in deiner Karriere, sei dir gewiss!“
Er war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie über all ihre Sorge einfach nur zu tief ins Glas geschaut hatte, um die Angst zu vergessen, dass er erneut zusammenbrechen könnte. Nun in ihrer Erleichterung fiel wohl diese Anspannung von ihr ab und Darius gönnte es ihr, auch wenn ihre Stimme fast schon schrill klang, während sie sich so überschlug und sich auch schon einige Köpfe zu ihnen gewandt hatten.
„Bevor ich es vergesse“, meinte Theresa dann noch fast beiläufig, ehe sie über das ganze Gesicht strahlte, „Ferdinand wollte dich auch noch kurz sprechen. Er meinte, er wolle dir jemanden vorstellen und - ganz unter uns, es klang durchaus wichtig und vielversprechend!“
Darius runzelte die Stirn. Er hatte eindeutig nicht geplant, mit irgendwelchen offiziellen Menschen heute zu sprechen, denn wenn er ehrlich war, hatte er an keinen dieser Leute auch nur das geringste Anliegen.
Immerhin war er nicht mehr auf Jobsuche, sondern hatte gerade an diesem Abend eindeutig bewiesen, dass er eine neue Stelle gefunden hatte – von der nachfolgenden offiziellen Wahl konnte ja keiner der Außenstehenden wissen, es sei denn Ferdinand hatte noch im Vertrauen mit demjenigen gesprochen und rechnete Darius bei der Abstimmung im Orchester keine hohen Chancen aus.
Irgendwie überkam ihn auch gerade aus unerfindlichen Gründen das Gefühl, dass andere um einiges mehr wussten als er, aber wahrscheinlich war das lediglich die Erschöpfung und sein allgemein sowieso immer nervöser Grundzustand.
„Worum geht es denn?“, hörte er sich selbst fragen.
Theresa zuckte mit einem ratlosen Lächeln mit den Schultern.
„Das hat er gar nicht erwähnt“, meinte sie, „Ich weiß auch gar nicht, um welchen ach so wichtigen Intendaten es da gehen soll, aber ich dachte auch, es würde ohnehin nicht lange dauern, bis er euch miteinander bekannt macht.“
„Wo ist überhaupt Nina?“, Darius sah sich kurz erschrocken um, als er ihr Fehlen bemerkte und achtete für einen Moment gar nicht mehr auf das durchaus verwirrende Gespräch.
„Sie wollte unbedingt noch zu dir!“, sagte Theresa überrascht und Darius rutschte das Herz in die Hose, „Hat sie dich nicht mehr erwischt?“
In seinem Kopf spielten sich schon Horrorszenarien ab, in denen sie sich aus dem Staub machte, sonstwo hinlief, sich verirrte und letzten Endes von der Polizei zu Gabriel gebracht wurde, der ihnen beiden dann anschließend die Hölle heißmachen würde. Doch womöglich war sie auch dafür schon zu alt und vernünftig genug, zumindest in der Oper zu bleiben.
„Ach, ihr seht euch bestimmt bald wieder“, versuchte Theresa lächelnd, ihn zu beschwichtigen, „Heute ist ja nicht die letzte Gelegenheit! Ich dachte einfach, es wäre besser, wenn sie demnächst ins Bett kommt. Als Ferdinand meinte, dass er gleich wieder da wäre, habe ich sie zum Taxi begleitet.“
„Sie schläft nicht bei euch?“, fragte Darius überrascht, aber Theresa winkte ab, „Bei uns kann es später werden, so wie ich das verstanden habe. Ich habe Gabriel schnell angerufen und ihm Bescheid gesagt.“
Es fühlte sich merkwürdig an, beinahe gar befremdlich, wie sie so über die Umstände sprach, als wäre es nie anders gewesen. Darius wusste ja mittlerweile um ihre Sehnsüchte, dass sie sich vorstellte, sie wären eine glückliche Familie.
Aber andererseits hatte sie ja auch gemeint, dass alles ‚wie früher’ werden sollte – und ob sie jemals eine Familie, geschweige denn glücklich gewesen waren, wollte Darius doch bezweifeln. Seiner Ansicht jagte Theresa einem Wunschdenken hinterher, dass einfach nicht zu erreichen war.
Fast schon verdrossen wandte er noch einen Blick auf das kleine Grüppchen um Alfred Wunderlich. Eigentlich wollte er nichts lieber, als sich wieder in diese Runde zu mischen, egal ob er dabei aufgrund seiner sozialen Inkompetenz einfach untergehen würde. Hauptsache er würde Alfreds Gesellschaft teilen, aber der schien gar nicht zu bemerken, dass er fehlte, sondern sich nach wie vor köstlich mit seinem Vater zu amüsieren.
Vielleicht hatte Darius alle Zeichen einfach falsch gedeutet und in Alfreds Welt war kein Platz für ihn. Womöglich hatte er sich aus Mitleid zu diesem Treffen mit ihm durchgerungen und war nun einfach froh, dass es ein Ende hatte.
Ja, selbst wenn er seine Gesellschaft tatsächlich als angenehm empfand, hatte Darius in seiner Interpretation sicherlich genauso übertrieben wie Theresa: Wunschdenken. Er hatte sich einfach eingebildet, was er sich ersehnt hatte.
Aber streng genommen brauchte Alfred ihn nicht, darum konnte er getrost kurz verschwinden, ohne sich überhaupt für einen Moment zu entschuldigen.
Am Ende würde es gar niemandem von ihnen auffallen, wenn er eben noch mit diesem Intendanten sprach, was auch immer es damit auf sich haben mochte. Und eigentlich sollte er sich genau für dieses eventuell wichtige Gespräch um Fassung bemühen, anstatt sich diesen Zweifeln hinzugeben.
Selbst wenn sich Ferdinands sicherlich irgendwie fragwürdige Pläne nicht ausgehen würden, wollte er ja doch trotzdem stets einen professionellen Eindruck hinterlassen. Vor allem in der Öffentlichkeit, in der man nie sicher sein konnte, wer alles etwas von den Ereignissen mitbekam.
Schnell wandte Darius sich um, als Ferdinands Stimme schon von weitem in seine Ohren drang. Als er dann jedoch den Mann neben ihm erblickte, fühlte es sich an, als setzte nicht nur sein Herz und seine Atmung aus, sondern als würde einen Moment lang die Welt aufhören, sich zu drehen.
Noch während Darius nach Luft schnappte, sah er hilfesuchend zu Theresa, doch auch ihr war mit einem Schlag die komplette Farbe aus dem Gesicht gewichen. Es gab keine Zweifel daran, dass auch sie den Mann erkannt hatte, darum war die schwach aufkeimende Hoffnung, dass ihm seine Wahrnehmung nur einen Streich spielte und er einfach nur einer gewissen Person zufällig recht ähnlich sah, sehr schnell wieder dahin.
Wenn es einen Menschen gab, den Darius noch weiter aus seiner Erinnerung hatte verdrängen wollte als Gabriel, dann stand genau dieser gerade vor ihm.
Das konnte nicht wahr sein. Das war einfach unmöglich.
Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so.
Er hatte sämtliche Gedanken an ihn auslöschen wollen, doch nicht nur waren sie mit einem Schlag wieder da, sondern das Gefühl der Hilflosigkeit kam ebenso in ihm auf wie all die widersprüchlichen Gefühle, mit denen er noch immer nicht umgehen konnte. Theresa war instinktiv einen Schritt vor ihn getreten, damit er zumindest sie zuerst begrüßen musste, sollte er tatsächlich zu Darius wollen.
Momentan lachte er noch halbherzig über was auch immer Ferdinand gerade zu ihm sagte, doch sie waren nur noch einige Schritte entfernt und in Darius kam Panik auf. So sehr er auch wünschte, dass es ihm abgrundtief peinlich wäre, dass Theresa sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihn stellte, so dankbar war er ihr über diese Geste.
Sie wirkte wie eine Löwenmutter, die ihr Junges schützen wollte und auch wenn Darius nicht ihr Kind war, musste er doch gestehen, dass er ihr nicht nur einen Großteil seiner guten Erziehung zu verdanken hatte, sondern sie ihn auch eine gute Weile lang damals fast allein aufgezogen hatte.
Doch so sehr Darius es ihr dankte, dass sie darauf abzielte, dass er erst an ihr vorbei musste, wenn er zu ihm gelangen wollte, wusste er doch, dass dieser Plan in dieser Situation nicht aufgehen würde. Dafür waren einfach zu viele Menschen anwesend, dafür war alles Geschehene einfach zu privat und hatte offiziell auch nie stattgefunden.
Streng genommen befanden sie sich auch nicht in der Wildnis, in der das Gesetz des Stärkeren galt, sondern immer noch in der Scheinwelt der Reichen und Schönen, in der es keine Probleme gab. Eine strahlende Welt, in der nur Ruhm und Geld regierte und in der die Ereignisse zuvor gar nicht stattgefunden hatten.
Wie sollte also Ferdinand wissen, was er ihm da gerade antat?
Als der Mann neben ihm schließlich auf Darius aufmerksam wurde, würdigte er Theresa keines Blickes. Er sah lediglich direkt in Darius‘ Augen, ein charmantes Lächeln umspielte die messerscharf geschnittenen Züge des unheimlich attraktiv markanten Gesichts und Darius spürte, wie es ihm brutal die Kehle zuschnürte.
Ferdinand gab Theresa einen Kuss auf die Wange, aber die wirkte gerade so, als wolle sie ihn auf der Stelle für diese Aktion zerfleischen.
Und Darius sah sich zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen einem Mann gegenüber, den er nie wieder hatte sehen wollen.
Nur dass es diesmal noch um einiges schlimmer schien.
„Mein Name ist Dahl“, sagte der Mann und Darius musste sich verkneifen, darauf nicht einfach nur ein trockenes ‚Ach, was Sie nicht sagen‘ zu erwidern.
So schlagfertig war er allerdings gerade gar nicht. Stattdessen kniff er beim nachfolgenden kurzen Händedruck nur die Lippen zusammen, ehe er ein fast gequältes „Ottesen“ herauspresste.
Auf Kristian Dahls Gesicht bildete sich ein übertrieben erfreutes, ja nahezu sadistisches kleines Lächeln, denn natürlich konnte er perfekt einschätzen, wie unangenehm Darius diese Situation gerade war – und es war nicht einmal abwegig, dass er genau dies mit seinem Erscheinen hatte herbeiführen wollen.
Auch wenn Theresa nicht aussah, als würde sie gerade Spaß verstehen, machte sie notgedrungen gute Miene zu bösem Spiel und stellte sich Kristian ebenso unnötigerweise sehr offiziell vor, während Ferdinand sich kurz diskret an Darius wandte.
„Herr Dahl ist seit letzter Saison Intendant der Pariser Oper“, flüsterte Ferdinand und stieß Darius leicht den Ellenbogen in die Rippen, „Er hat persönlichen Kontakt zu Chevalier. Das ist deine Chance, Darius – also nutze sie!“
Darius hätte gern noch etwas darauf erwidert, aber ihm blieben die Worte im Hals stecken. Wenn er davon absah, dass Ferdinand mit der Sache nie etwas zu tun gehabt hätte, es gar nicht wusste und sicherlich auch wenig Verständnis dafür aufbringen würde, hatte er tatsächlich ein gutes Argument.
Wie lange hatte Darius davon geträumt, nur einmal im Leben dieselbe Luft wie Monsieur Chevalier zu atmen? Mit ihm zu sprechen, selbst wenn es dabei gar nicht um seine eigenen Werke gehen würde, sondern einfach nur ein Gespräch über die Musik im allgemeinen zustande kommen würde?
Der französische Komponist war vielleicht die einzige noch lebendige Person, die Darius als Idol bezeichnen würde; jemand, zu dem er aufsah und der ihn in seinem Schaffen stets inspirierte.
Irgendwo wurde er sich auch noch bewusst, dass Ferdinand es wirklich gut zu meinen schien und auch implizierte, dass er ihn als Dirigenten gar nicht loshaben, sondern in diesem Fall seinen eigenen Kompositionen zu Erfolg verhelfen wollte, aber dennoch konnte er gerade weder dankbar sein noch Freude empfinden.
Theresa allerdings konnte ihm hier auch nicht helfen.
Immerhin hatte Kristian Dahl wohl kaum vor, sich näher auf ihr Ablenkungsmanöver einzulassen, denn er entschuldigte sich höflich und ließ sie einfach stehen, um wieder zu ihm zu treten.
„Haben Sie einen Moment, Herr Ottesen?“, fragte er mit einer samtweichen Stimme, die Darius einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
„Eigentlich nicht“, sagte Darius kühl, doch Ferdinand warf ihm einen warnenden Blick zu, „Aber ich denke, in dieser Situation sollte ich mir diesen Moment vielleicht doch nehmen.“
Komplett schockiert sah Theresa ihn noch an, aber auf der anderen Seite war er mittlerweile um einiges zu alt, um sich hinter ihr zu verstecken.
Egal was in der nicht allzu fernen Vergangenheit auch gewesen war – hier ging es nicht um sein persönliches Leid, sondern um die vielleicht einzige Chance, einen persönlichen Kontakt zu Monsieur Chevalier herzustellen.
Auch wenn er sich längst nicht mehr sicher war, ob es das überhaupt wert war, hatte er sich ja doch vor Jahren einmal geschworen, alles für diese eine Chance zu geben, irgendwann seinem großen Vorbild gegenüber zu stehen.
Dass es genau darauf hinauslaufen würde, hatte Kristian geschickt eingefädelt.
Zwar war Darius dann doch noch nicht ganz selbstverliebt genug, um zu vermuten, dass er sich einzig und allein aus diesem Grund mit Chevalier gut gestellt hatte, doch die Angst blieb, dass es vielleicht doch kein kompletter Zufall war.
Immerhin wusste er davon.
Wenn man es genau nahm, gab es nämlich wenige Menschen, die Darius so gut einschätzen konnten wie Kristian Dahl. Er wusste Dinge über ihn, die nicht einmal Theresa je gehört hatte.
Vielleicht war er sogar der einzige Mensch, der ihn besser kannte als er sich selbst.