Draußen vor der Tür fiel Darius nicht nur auf, dass er außer dem Telefon seine komplette Tasche am Pult hatte liegen lassen und seine Jacke noch an der Garderobe hing, sondern auch, dass er sich trotz der eilig zurückgelegten Entfernung mitnichten von den unerwartet verletzenden Worten hatte distanzieren können.
Vielleicht war er einfach dumm genug, irgendeinem kühnen Traum erlegen zu sein, der ihn hatte glauben lassen, dass dies seine Berufung sei.
Vielleicht sollte er einfach allen anderen mehr Glauben schenken und sich eingestehen, dass sie recht hatten.
Theresa, die fest davon überzeugt war, dass er irgendwelche professionelle Hilfe brauchte. Ferdinand, der ebenfalls glaubte, dass er dieser Belastung nicht gewachsen war.
Selbst Alfred, der ihm mehrere Male hatte zu verstehen gegeben, dass er sich besser ein dickeres Fell zulegen sollte, wenn er in dieser Position bestehen wollte.
Und so sehr er die beiden ersteren auch verfluchte, an Alfred dachte Darius nur mit einer so großen Wehmut, dass es ihm fast in der Brust schmerzte.
Alfred, dem er gar nicht unterstellen wollte, dass er eben jene Intention gehabt hatte, die Gebauer ihm nun angedichtet hatte. Vielleicht aber auch Alfred, der einfach nur zu gutherzig und höflich war, um ihm zu sagen, was er wirklich von seinen unangebrachten Kontaktversuchen hielt.
Und Alfred, der entgegen seiner eigenen Worte eben doch etwas darauf gab, was andere sagten. Alfred, der offen und ehrlich vor Darius zugegeben hatte, dass die schlimmsten aller gehörten Gerüchte wahr gewesen waren, die nichts mehr mit bloßem Klatsch und Tratsch gemeinsam hatten.
Alfred, der damals beinahe den Kampf gegen Lungenkrebs verloren hatte – und Darius fiel nichts Besseres ein, als ihn wieder und wieder zum Rauchen einer Zigarette zu motivieren?
Dachte er denn ein einziges Mal überhaupt nach, bevor er handelte?
Zittrig strich er sich die Haare aus der Stirn und ging unruhig vor der Tür auf und ab. Er blickte einen Moment lang auf sein Telefon, das ihm einen verpassten Anruf von Gabriel anzeigte und eine Nachricht von Theresa.
Und während Darius den kurzen Weg zum Brunnen überbrückte und sich auf der steinernen Mauer niederließ, verkrampften sich seine Hände um das kleine Gerät, bis er sich dazu entschloss, nun endlich zu tun, was er tun sollte.
Immerhin hatte er keine Ausreden mehr, er würde ohne Zigaretten und Feuerzeug nicht rauchen können, er konnte nicht erneut die Partitur studieren, er hatte nicht einmal die Handcreme dabei.
Mit dem Gefühl, dass nun sowieso schon alles egal war, tippte er hastig auf die noch immer nicht gespeicherte, aber doch so bekannte Nummer und hielt zitternd das Handy ans Ohr.
Er hielt den Atem an, als das Freizeichen erklang.
Mehrere Male durchfuhr ihn das durchdringende Geräusch und ließ seinen Herzschlag wild beschleunigen.
Was sollte er überhaupt sagen? Was wollte er Gabriel überhaupt mitteilen?
Sollte er auf stur schalten und ihn fragen, was in aller Welt er von ihm noch wollte? Sollte er einfach vergessen und ihm tatsächlich eine neue Chance einräumen? Sollte er wirklich darauf hoffen, dass sich etwas geändert hatte?
Ehe sich die Stimme meldete, vor der sich Darius in diesem Moment so wahnsinnig fürchtete, nahm er das Telefon vom Ohr und brach den Anruf hektisch ab.
Theresas Nachricht verschwamm vor seinen Augen und ehe er sich dazu durchringen konnte, sie anzurufen, stand er auf und lief hastig zurück in Richtung des Gebäudes.
Vielleicht war sie ohnehin in Ferdinands Büro, der hatte ihn eh noch sprechen wollen und wenn er gerade dabei war, konnte er ihm auch gleich mitteilen, dass er direkt nach dem Konzert noch mitten in der Nacht den nächstbesten Flug nach Oslo nehmen würde.
Eine Flucht vor der Verantwortung zurück in die Umgebung, vor der er vor wenigen Wochen schon hierher geflohen war. Es klang in seinem eigenen Kopf nicht nur ironisch, sondern geradezu lächerlich.
Egal wohin er auch ginge, es würde wahrscheinlich immer wieder im persönlichen Versagen enden, denn eines lag auf der Hand:
Er konnte nicht vor sich selbst weglaufen.
Als Darius nur wenige Momente später vor der Tür zu Ferdinands Büro stand, kam ihm sein Anliegen aber längst idiotisch vor.
Was sollte er sagen, wenn er ihn nach einem Grund für diese Entscheidung fragen würde?
Er würde sich lächerlich machen, wenn er eingestehen würde, dass ihn die als Direktor hier schon hinreichend bekannte Art von Erwin Gebauer immer noch aus dem Konzept brachte und längst vergessen geglaubte Zweifel zurück in sein Bewusstsein drängte.
Noch weniger würde er ihm davon erzählen können, wie intensiv ihn die pure Existenz von Alfred Wunderlich in den letzten Tagen beschäftigt hatte.
Immerhin waren sowohl Gebauer als langjährigstes Mitglied des Orchesters und auch Alfred zumindest durch seinen Vater als guter persönlicher Freund sicherlich dermaßen unantastbar, dass sich Ferdinand sich auf keine Diskussion einlassen würde.
Sich irgendwelche mutmachenden Worte zu erhoffen, war ebenso albern und würde ohnehin nicht passieren. Dafür kannte er Ferdinand einfach schon zu lange und auch etwas zu gut, als dass er sich dieser kindischen Illusion hingeben könnte.
Darius hatte also gar keine andere Wahl, als vorzeitig zurück in den Probensaal gehen, aus dem er schon von weitem hörte, dass zumindest ein Drittel des wohlbekannten Trios noch geblieben war – und die Pause nutzte, um nochmals an der Kadenz zu feilen.
Seine Tasche stand einsam und vergessen am Pult, als Darius leise und hoffentlich unauffällig den Raum betrat. Trotzdem brach Jasper sofort ab und strahlte ihn mit einem etwas peinlich berührten Grinsen an.
„Du solltest dir auch eine Pause gönnen“, meinte Darius lächelnd.
„Ach wo“, sagte Jasper und wischte nervös seinen Kinnhalter ab, „Ich bin extra geblieben, damit ich üben kann. Wir haben ja morgen noch freie Zeit zur Erholung und sowieso wollte Alfred mit Erwin etwas unter vier Augen besprechen. Da wollte ich nicht stören!“
Darius lächelte schief, beschäftigte sich dann aber damit, das Telefon wieder in der Tasche zu verstauen und nickte geistesabwesend.
„Dann lass du dich von mir auch bloß nicht stören. Ich bin gar nicht da, also weitermachen!“, versuchte er sich an einem Scherz.
Jasper allerdings schien mit den Gedanken schon weiter zu sein.
„Nein, nein!“, sagte er schnell, „Es ist perfekt, dass du da bist!“
Darius hob eine Augenbraue.
„Wir haben doch Pause, richtig?“, fragte Jasper grinsend.
Darius nickte verunsichert.
„Dann müssen wir also gar nicht arbeiten, richtig?“, fragte Jasper.
Darius nickte wieder.
Er müsste lügen, würde er behaupten, nicht komplett verwirrt zu sein.
„Das heißt, wir können auch etwas Spaß haben, richtig?“, fragte Jasper.
Darius hob überrascht ebenfalls die andere Augenbraue.
„Spaß haben“, wiederholte er und musste schmunzeln, als Jasper heftig zu nicken begann, „An welche Art von Spaß dachtest du da genau?“
Jasper grinste nur und verstaute seine Violine sorgfältig im Kasten, ehe er damit an Darius vorbei zu der verhangenen Wand trat und nach der Stelle suchte, wo die beiden Enden der dicken Vorhänge zusammengeschoben waren.
War das sein Ernst?
Das konnte nicht sein Ernst sein.
Mit Sicherheit spielte Darius‘ Wahrnehmung ihm gerade einen gehörigen Streich. Das alles passierte gar nicht, nein.
Jasper Sundström konnte unmöglich hinter einem blickdichten Vorhang mit ihm Spaß haben wollen und dabei unerklärt lassen, was genau er damit meinte.
„Komm mit!“, wandte er sich allerdings grinsend an Darius und verschwand dann mitsamt seinem Geigenkoffer hinter dem Vorhang.
Vollkommen perplex blieb Darius stehen und stellte für einige Momente lang sein gesamtes Leben infrage.
Das konnte einfach nicht wahr sein.
Hinter dem Vorhang polterte es kurz, Jasper fluchte und rief dann:
„Kannst du mir bitte helfen?“
Kurz noch war Darius damit beschäftigt, sich nach dem Sinn und dem Grund für seine eigene Existenz zu fragen, dann streckte er zögerlich den Kopf durch den Spalt zwischen den Vorhängen.
Er konnte nicht viel erkennen, weil es dahinter stockfinster war, aber als Jasper scheinbar in der Dunkelheit den Lichtschalter entdeckte, stellte er mit Erleichterung fest, dass er sich gerade an einem hier in diesem doch sehr unüblichen Nebenraum abgestellten Flügel zu schaffen machte und ihn mit einem auffordernden Grinsen bedachte.
„Was soll das werden?“, fragte Darius mit vor der Brust verschränkten Armen.
Jasper lachte ein bisschen unsicher.
„Spaß haben!“, erklärte er dann knapp, als läge es auf der Hand.
Darius schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Pack mal bitte mit an“, bat Jasper ihn und schien im Begriff, den Flügel in den Probensaal schieben zu wollen.
„Ich bitte dich“, sagte Darius ungläubig, „Wir haben kaum noch zehn Minuten, denkst du wirklich, dass sich das lohnt?“
Jasper hielt inne und schien zu überlegen.
Dann erhellte sich sein Gesicht wieder und er deutete mir einer theatralischen Geste auf den Flügel, als wolle er ihn einem großen Publikum als neue Errungenschaft der Menschheit präsentieren.
„Dann bleiben wir eben hier“, meinte er.
Darius sah sich kritisch um, anscheinend hatte hier schon eine ganze Weile niemand mehr sauber gemacht geschweige denn von diesem Raum überhaupt Notiz genommen.
„Komm schon, sei kein Fisch!“, sagte Jasper.
Darius schnaufte amüsiert.
„Frosch“, korrigierte er ihn knapp.
„Na gut“, sagte Jasper und zuckte mit den Schultern, während er sich schon an seinem Koffer zu schaffen machte, „Dann bist du eben ein Frosch!“
Darius sah auf seine Armbanduhr. Das alles war einfach zu absurd, er war sicherlich auf der Brunnenmauer bewusstlos geworden und träumte sich das alles nur gerade zusammen.
„Je länger du diskutierst, desto weniger Zeit bleibt uns“, ließ Jasper ihn wissen.
Darius gab sich einen Ruck und beäugte kritisch den verstaubten Klavierhocker, aber Jasper reichte ihm schon ein Tuch und so konnte er ihn wenigstens grob abwischen, bevor er sich mit einem tiefen Seufzen niederließ.
Jasper strahlte über das ganze Gesicht, während er schnell seinen Bogen wieder spannte, „Sollen wir vielleicht nochmal die Kadenz durchgehen? Ich kann dir schnell die Noten holen!“
„Nein“, sagte Darius knapp, ehe er die Abdeckung öffnete und mit ein paar vorsichtigen Akkorden feststellte, dass der Flügel zumindest noch ordentlich gestimmt war, „Du wolltest Spaß haben, nicht arbeiten. Außerdem haben wir nicht mehr viel Zeit.“
„Du brauchst bestimmt sowieso keine Noten mehr dafür“, vermutete Jasper grinsend und Darius verdrehte schmunzelnd die Augen, weil er genau ins Schwarze getroffen hatte.
„Na gut“, sagte Darius, „Vier Takte davor und danach.“
Jasper nickte, „Und dann darfst du raten!“
Darius war schon im Begriff gewesen, mit der Begleitung zu beginnen, aber die Erwähnung des Wörtchens ‚raten‘ allein genügte, um ihn verblüfft erstarren zu lassen und Jasper mit einem verwirrten Blick anzuschauen.
Eigentlich wollte er in genau diesem Moment aufstehen und wieder durch den Vorhang zurück in den Saal gehen, weil diese ganze Aktion einfach zu albern war. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass ihn der Gedanke an das gute alte Ratespiel doch ein bisschen reizte und in sentimentale Stimmung versetzte.
„So wie früher?“, fragte er unsicher.
Jasper nickte selig, „Ganz genau wie früher!“
Oft hatten sie sich damals einen Spaß daraus gemacht, miteinander zu musizieren und dabei nicht festzulegen, wann sie dabei welches neue Stück begannen. Wenn einem von ihnen etwas Neues eingefallen war, hatte der andere raten müssen, statt eine Vermutung zu äußern allerdings sofort mit dem Spielen des nächsten Stückes begonnen.
Mit der Zeit hatte es erstaunlich gut geklappt, auch wenn es am Anfang noch in Lachkrämpfen geendet hatte.
„Du bist wirklich unverbesserlich“, sagte Darius, musste aber aus vollem Herzen lächeln.
Sie kamen mit Bravour durch die Kadenz und wie insgeheim schon erwartet, ließ Jasper kurz darauf die guten alten Zeiten wieder aufleben, die Darius beinahe in all dem Chaos in seinem Kopf vergessen hatte. Erst als er auf Jaspers unmissverständlichen Wink hin sofort ins Kreisler-Arrangement von Paganinis Campanella einstieg, bemerkte Darius, wie wahnsinnig sehr er eben dieses Detail aus dem betreffenden, aus anderen Gründen fast vollständig verdrängten Abschnitt seines Lebens vermisste.
Ein weiteres Mal zweifelte er daran, dass Jasper überhaupt ein Mensch war, denn scheinbar musste er sich nicht hinreichend genug konzentrieren, dass er ihm keine auffordernden Blicke hätte zuwerfen können, ehe er mit einem Augenzwinkern spielerisch das Tempo anzog und Darius schon Mühe hatte, mitzuhalten.
„Man sieht sie nicht, man hört sie nur!“
Darius zuckte mit einem gar furchtbar dissonanten Akkord des Schreckens zusammen, der ihn unangenehm erschaudern ließ, als eine Stimme ohne Vorwarnung das improvisierte Duett an einer besonders schönen Stelle unterbrach.
Erwin Gebauer hatte den Kopf durch den Vorhang gesteckt und betrachtete die sicherlich sehr kuriose Szene vor seinen Augen.
„Ihr wisst schon, dass jedes noch so geheime Versteck nicht viel taugt, wenn man darin Musik macht?“, fragte er grinsend.
Jasper hatte längst ebenso mit dem Spielen aufgehört und zuckte unschuldig grinsend mit den Schultern, „Wir wollten uns ja gar nicht verstecken, sondern nur ein bisschen Spaß haben.“
„Spaß haben“, wiederholte Erwin und gluckste, „Hinter einem Vorhang Spaß zu haben, hätte ich persönlich mir aber ein bisschen anders vorgestellt.“
Es raschelte, der Vorhang wackelte und noch ein amüsiertes Gesicht erschien neben dem seinen, wenn auch ungleich peinlicher berührt von dem gar nicht mal so sehr intimen Anblick und mit einem hochroten Kopf.
„Ich wusste gar nicht, dass der Flügel überhaupt noch da steht!“, sagte Alfred belustigt, „Geschweige denn, dass man den Hocker sogar noch benutzen kann.“
„Nun ja“, meinte Erwin, „Das kommt sicherlich auf die Größe des Hinterns an. Würdest du dich da drauf setzen, würde der bestimmt zusammenkrachen!“
Alfred hob eine Augenbraue und Jasper prustete verhalten.
„Das war jetzt aber gemein“, meinte Jasper, während er auf die Uhr schaute, „Immerhin haben wir gar nicht mehr viel Zeit, die wollten wir doch nutzen.“
„Ach, und ich dachte schon, du verteidigst die potenzielle Auswirkung meines Luxuskörpers auf den altersschwachen Hocker“, lachte Alfred.
Jasper zuckte grinsend mit den Schultern, „Ich würde es nicht unbedingt drauf ankommen lassen!“
Darius beobachtete das Trio hin und her gerissen zwischen etwas Belustigung und tiefer Erleichterung.
Denn wenn man bedachte, wie Jasper in der Schule behandelt worden war, gönnte er ihm von ganzem Herzen, dass er nun im Arbeitsleben Freunde wie diese hier gefunden hatte, bei denen er aufzublühen schien.
Trotzdem konnte Darius sich nicht verkneifen, sich selbst ungefragt in die Unterhaltung der drei Freunde einzumischen:
„Nur für das Protokoll, der Hocker hält vorzüglich, wenn man darauf sitzt!“
Und anstatt wie erwartet einfach ignoriert zu werden und Zeuge weiterer vertrauter Interaktion zu werden, erntete er ein dreistimmiges Gelächter, das er gar nicht so recht zuordnen konnte.
„Nun ja. Also nun ja!“, meinte Erwin grinsend, „Verzeihen Sie bitte, Herr Maestro, aber Sie haben das jetzt selbst herausgefordert, denn wie ich schon sagte: Es kommt auf die Größe des Hinterteils an!“
Darius wurde tiefrot im Gesicht und stand hastig vom Klavierhocker auf.
Er musste sich zusammenreißen, nicht ernsthaft über die eigene Schulter zu blicken und sein Gesäß in Augenschein zu nehmen, ob es wirklich so auffallend kleiner als das von Alfred war. So weit kam es allerdings noch!
„Schluss jetzt“, sprach er stattdessen ein Machtwort und deutete auf sein Handgelenk, an dem die Armbanduhr prangte, „Wir machen weiter!“