Kurze Zeit später standen sie draußen vor der Tür und rauchten jeder eine Zigarette.
„Bist du extra nach Wien zurück gekommen, um mir nachzustellen?“, fragte Darius verärgert, doch Kristian schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen.
„Ich habe eindeutig Besseres zu tun, als meine Zeit mit solchen Dingen zu verschwenden“, sagte er, „Ich dachte lediglich, ich würde dir damit einen Gefallen tun. Und wenn ich sowieso schon einmal hier bin-“
Darius schnaubte, „Ganz zufällig natürlich.“
Kristian sah ihm kurz und doch sehr eindringlich in die Augen und Darius gefror beinahe das Blut in den Adern dabei.
„Ja, zufällig“, sagte er kalt, „Ich vermute mal, dass es dir zu schaffen macht, aber leider dreht sich meine Welt nun mal nicht mehr einzig und allein um dich.“
Darius musste den Blick beschämt abwenden.
„Hat sie das denn je getan?“, fragte er beinahe bitter.
Kristian schwieg und ließ die Frage im Raum stehen, bis er sich fast schlecht fühlte, ihm dies unterstellt zu haben. Das war ja genau der Punkt, um den es sehr oft auch damals gegangen war. Er hatte es immer geschafft, dass Darius sich schuldig fühlte, auch wenn er absolut im Recht gewesen war.
Durch seine pure Präsenz schaffte er es, diese Schuldgefühle in ihm auszulösen.
Mit einem Mal schoss alles, was gewesen war und alles, was hätte sein können, wäre es anders ausgegangen, wieder durch Darius‘ Kopf und er hatte Mühe, sich darauf zu besinnen, was Theresa mehrmals zu ihm gesagt hatte. Er sollte nicht wieder auf diese Masche hereinfallen. Er war stärker als damals.
Und außerdem war das Ende der gesamten Sache das Beste gewesen, was ihm hätte passieren können. Das hatte Theresa ihm eingeschärft und er hielt sich daran.
„Was willst du?“, fragte Darius also betont ruhig, nachdem er sich wieder ein bisschen gefangen hatte, „Ich wage zu bezweifeln, dass du mir einen Gefallen tun möchtest, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“
Kristian schnippte mit dem Finger gegen die Zigarette, um die abgebrannte Asche achtlos auf den Boden zu befördern. Im Profil wirkte er mit seinem undurchdringbaren Pokerface wie eine leblose Statue, eine in Stein gemeißelte Abbildung seiner Selbst.
„Sag mir bescheid, wenn du bereit bist, eine ernsthafte Unterhaltung zu führen“, sagte er statt ihm zu antworten, „Du machst dich gerade lächerlich.“
Darius biss die Zähne aufeinander.
Vielleicht hatte er recht und seine Feindseligkeit war übertrieben.
Womöglich war er wirklich nicht in der Lage, seine persönlichen Urteile aus dieser Konversation herauszuhalten und wirkte damit nicht nur komplett unprofessionell, sondern in der Tat einfach nur albern.
Hastig nahm er ebenfalls noch einen tiefen Zug von seiner Zigarette, dann räusperte sich leise und wandte sich zum Aschenbecher, um sie auszudrücken.
„Ich gehe wieder rein“, sagte er tonlos.
Wozu sollte er sich auf diese Sache einlassen? Er war zufrieden. Er hatte alles, was er brauchte. Er hatte eine solide Leistung abgeliefert, er hatte mit etwas Glück eine feste Arbeitsstelle; er hatte neue Freunde gefunden und seine Familie war hier.
Warum um alles in der Welt sollte er auch nur einen Gedanken an irgendetwas verschwenden, mit dem ausgerechnet Kristian ihn locken wollte?
Sein Plan würde nicht aufgehen. Darius war schon lange nicht mehr auf ihn angewiesen und würde sich garantiert nicht wieder in diese Abhängigkeit begeben.
„Tu dir keinen Zwang an“, sagte Kristian nüchtern, „Ich hatte lediglich vermutet, es würde dich interessieren zu hören, dass Chevalier an deiner Arbeit interessiert ist. Aber wenn dem nicht so ist-“
Er machte eine bedeutungsschwere Pause mitten im Satz, als hoffte er, dass Darius sofort dazwischen gehen und es sich anders überlegen würde. Darauf fiel er bestimmt nicht mehr rein – das war doch alles ein abgekartetes Spiel.
Kristian hatte diese spezielle Art an sich, mit der er Menschen mühelos manipulieren konnte, wenn ihr Wille nicht stark genug war.
Das machte er sich zunutze, aber Darius hatte aus seinen Fehlern gelernt.
Er würde- Er würde bestimmt nicht-
„Bitte was?“, hörte er sich selbst fragen und blieb auf seinem Weg zurück nach innen abrupt stehen, „Woher sollte er- Hat er das wirklich gesagt?“
Auf Kristians Züge lag ein feines Lächeln, als würde er im Stillen triumphieren, dass Darius trotz besten Wissens um die Situation direkt in die Falle getreten war.
Und diese schnappte sofort zu.
„Wir haben in letzter Zeit oft zusammengearbeitet“, meinte er fast beiläufig, „Ich weiß gar nicht mehr, in welchem Zusammenhang ich dich erwähnt habe, aber er war recht schnell neugierig und ich hatte noch ein paar Fragmente deiner Kompositionen zur Hand.“
Der geradezu herausfordernde Blick, den er Darius nun zuwarf, wirkte, als hätte er ihn mühevoll vor dem Spiegel einstudiert, weil er genau wusste, worauf dies hinauslaufen würde, „Aber da du ja weder Zeit noch Interesse hast, möchte ich dich gar nicht länger aufhalten.“
Darius war tatsächlich kurz im Begriff, ihn einfach wortlos stehen zu lassen, weil er entschieden keine Lust auf diese Spielchen hatte.
Aber verdammt auf alle Ewigkeit wäre er, wenn er die Informationen nicht wenigstens selbst auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen würde und sich diese Chance ohne weiteres entgehen lassen würde.
Wenn Kristian die Wahrheit sagte, stand nicht nur die Möglichkeit im Raum, dass er Chevalier treffen würde – Es hatte noch um einiges vielversprechender geklungen und in seinem Kopf malte sich Darius schon aus, wie er mit all seinen Werken vor ihn treten würde.
Wie sie gemeinsam die einzelnen Stücke zusammensetzen würden, wie Chevalier ihm Ratschläge zur Vollendung seines Werks geben würden und wie er noch in Paris unter seiner Schirmherrschaft persönlich seine erste eigene Sinfonie dort uraufführen würde. Kristian wusste genau, dass er nicht widerstehen konnte und Darius war gerade nicht sicher, wen er in diesem Moment mehr hasste – diesen verfluchten Mann mit seinem selbstgefälligen kleinen Lächeln oder sich selbst, dass er so wahnsinnig leicht durchschaubar war.
„Du bist ja immer noch da“, stellte Kristian leise fest, nun klang seine Stimme nahezu sanft, „Hast du es dir etwa doch anders überlegt?“
Darius sagte nichts, sondern biss die Zähne fest aufeinander und ballte die Hände verkrampft zu Fäusten. Er versuchte wirklich, Vor- und Nachteile sowie eventuelle spätere Konsequenzen abzuwägen, aber je mehr um Fassung und Urteilsvermögen kämpfte, desto weniger konnte er einen klaren Gedanken fassen.
Die Schmerzen waren wieder da und es fühlte sich an, als wären sie durch das lange Stehen, die Ablenkung zuvor und nun diese Ernüchterung seiner Euphorie mehr als doppelt so stark. Ihm war sterbensschlecht, was sicherlich dem Glas Sekt zuzuschreiben war, dessen Inhalt sich scheinbar ohne jegliche weitere Substanz zum Abfangen in seinem ansonsten leeren Magen nicht sonderlich wohl fühlte.
Das alles war aber nicht halb so schlimm wie das Schwindelgefühl, das ihn nur umso stärker überkam, je mehr er sich auf diese Leiden konzentrierte.
Kristian schien geduldig abzuwarten, ob er nicht noch etwas zu sagen hatte, doch Darius konnte nicht mehr tun, als mit unsicheren Schritten zumindest zu versuchen, die wenigen Meter zu der Bank zu überbrücken, auf der vor nur wenigen Tagen noch Alfred mit seiner Anzugjacke im Regen gelegen hatte.
Alfred. Der stand nichtsahnend noch in der Eingangshalle und hatte vermutlich den Spaß seines Lebens mit seinem Vater und dem Rest des wohlbekannten Trios, dem er angehörte. Und so sehr sich Darius auch in diesem Moment nach ihm sehnte, wollte er ihm die Situation hier draußen auch ersparen und war auf gewisse Weise sehr froh, dass er ihm die ganze Chose vom Leib halten konnte.
Er hatte damit glücklicherweise nichts zu tun und das sollte so bleiben.
Als sich Darius schon sicher war, dass er trotz der massiven Gehprobleme durch dieses verfluchte Knie gleich den Weg zur Bank hinter sich gebracht hatte, schien die Welt plötzlich zu kippen.
Viel weniger elegant als geplant schaffte er es jedoch glücklicherweise noch auf die Bank, anstatt eine weitere unliebsame Bekanntschaft mit einem Steinboden zu machen. Dass er damit sicherlich einiges an Würde einbüßte und auch noch gerade in der Gesellschaft von Kristian, erreichte Darius in diesem Moment kaum.
Als er sich wieder etwas besinnen konnte, war dieser allerdings tatsächlich zu ihm getreten und die eiserne Maske der Ignoranz war einem fast schon unsicheren Ausdruck auf seinem Gesicht gewichen.
„Ist dir nicht gut?“, fragte Kristian, aber Darius bekam kein Wort heraus.
Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, wenn er den Mund öffnen würde und ein letztes Bisschen Selbstachtung wollte er dann doch noch wahren, anstatt sich diese Blöße in einer solchen Situation und dann auch noch vor eben diesem Mann zu geben.
„Darius“, er klang mittlerweile fast ängstlich, „Was ist los? Brauchst du Hilfe?“
So viele erniedrigende Sprüche hätte er nun loswerden können, so viele passende Beleidigungen fielen allein Darius ein, aber stattdessen schien er wirklich ehrlich um sein Wohl besorgt.
Mit einem Mal schien es so grenzenlos ungerechtfertigt, ihm immer wieder niedere Absichten zu unterstellen. Wie kam er überhaupt auf den Gedanken, dass Kristian ihm grundsätzlich Böses wollte?
In wenigen Augenblicken hatte er sich seines Mantels entledigt und legte ihn in derselben fließenden Bewegung um Darius‘ Schultern, wie er sich auch neben ihm auf die Bank setzte und mit einer starken Hand zwischen seinen Schulterblättern seinen Rücken stützte.
Es fühlte sich unsagbar vertraut an und beinahe vergaß Darius nicht nur alle guten Vorsätze, sondern gleich auch sich selbst und was er eigentlich wollte.
Ja, er hatte gar keine andere Wahl, als diesem erdrückenden Unwohlsein nun endlich wenigstens für eine kleine Pause von all den Strapazen nachzugeben und mit einem zittrigen Seufzen gegen Kristians Schulter zu sinken.
Es tat unendlich gut, ganz gleich wie sehr alles in ihm auch danach schrie, dass es falsch war und dass er sich hier gerade in eine Sackgasse hineinmanövrierte, die er schon zu Genüge kannte. Nie wieder hatte er dort sein gewollt. Warum in aller Welt fühlte es sich dann so verdammt richtig an?
Zeit und Raum schienen zwischen Schmerz und Übelkeit zu verschwimmen. Einzig und allein der Geruch von Kristians Aftershave war in seinem Bewusstsein und es war immer noch dasselbe wie damals.
Wie lange sie wirklich einfach nur schweigend nebeneinander saßen, konnte er beim besten Willen nicht einschätzen. Erst als das Geräusch von Schritten in sein Bewusstsein drang, fühlt sich Darius wieder in der Lage, überhaupt etwas zu tun.
„Darius?“, der Klang dieser wohlbekannten Stimme ließ ihn hastig die Augen aufschlagen und fühlte sich wie eine Erlösung an.
Alfred. Er war da. Womöglich hatte er ihn gesucht, weil seine Abwesenheit doch aufgefallen war und nun kam er, um ihn aus dieser grotesken Situation zu befreien, in der sich doch eigentlich gar nicht befinden wollte.
„Oh, Verzeihung“, sagte Alfred jedoch sofort und schien zutiefst peinlich berührt, als er die beiden so nah beieinander erblickte, „Ich- Ich wollte nicht stören. Ich hatte nur gedacht, weil- ich meine, ich- Ich bin schon wieder weg!“
Damit stolperte er fast über seine eigenen Füße, während er auf dem Absatz kehrt machte und mit hochrotem Kopf wieder zurück ins Gebäude eilte, noch ehe Darius die Sache richtig stellen und ihn aufhalten konnte.
Es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz, denn erst jetzt besann er sich, wie privat und intim diese Szenerie auf Außenstehende wirken musste. Darius wollte nicht wissen, was Alfred nun dachte.
Hatte er nun durch diesen einzigen Fehltritt alles wieder zunichte gemacht, was er sich die letzten Tage versucht hatte, mühevoll aufzubauen?
Kristian schmunzelte, als könne er seine Gedanken erraten. Die Hand auf seinem Rücken fühlte sich mittlerweile mehr wie eine Last als wie eine Stütze an, beinahe erdrückend.
Vielleicht war es aber auch einfach nur offensichtlich, denn er schnaubte kurz durchaus amüsiert, fast als würde er Darius auslachen. Er deutete knapp auf die Tür, die sich hinter Alfred wieder schloss und er musste sich wohl beherrschen, nicht einfach laut loszuprusten.
Darius hätte ihm in diesem Moment am liebsten das Gesicht zerkratzt.
„So tief bist du also gesunken?“, fragte er nämlich und Darius sah voller Abscheu auf diese so perfekten, so bekannten Züge, die immer noch so viel mehr in ihm auslösten, als sie sollten, „Ich hätte eigentlich nicht erwartet, dass sich deine Ansprüche so schnell derartig vermindern würden!“
„Lass ihn in Frieden“, wollte Darius ihn als wütende Drohung anfahren, doch es klang kläglich und nur wie eine verzweifelte Bitte.
Kristian rollte schmunzelnd mit den Augen und legte seinen Arm um Darius.
„Wir reden morgen über die ganze Sache mit Chevalier“, sagte Kristian, als wäre es bereits beschlossen, „Lass mich dich kurz nach Hause fahren. Du siehst aus wie der Tod auf zwei Beinen!“
Darius wollte ihm einiges an den Kopf werfen, was ihm dazu noch einfiel.
Dass er nicht einmal in Erwägung ziehen würde, in Kristians Auto zu steigen, selbst wenn keine Bahn mehr fahren würde. Dass er garantiert nicht am nächsten Tag mit ihm sprechen würde, weil er ihn nämlich nie wieder sehen wollte.
„Ich muss mich noch von Theresa verabschieden“, hörte er sich selbst allerdings lediglich schwach protestieren.
„Bist du dir sicher, dass du gehen kannst?“, fragte Kristian besorgt.
Darius nickte hastig und erntete ein verständnisvoll wirkendes Lächeln, als er sich kurzerhand wieder erhob, um seinen Worten die nötige Glaubhaftigkeit zu verleihen. Kristian sah ihn erwartungsvoll, aber durch und durch zufrieden an.
„Dann tu das. Ich warte hier auf dich!“