Als Alfred im Laufschritt von der Haltestelle am Schwedenplatz zum Café hastete, blickte er sich fast schon hektisch nach allen Seiten suchend um. Bescheuert war er, sein Vater hatte recht behalten: Komplett durch den Wind, das war die einzig treffende Beschreibung seines Geisteszustandes.
Wie konnte er bei einer Verabredung die Uhrzeit vergessen und dann auch noch so sang- und klanglos einfach auflegen?
Er sollte sich nicht wundern, wenn er nun mehrere Stunden verglich hier wartete und Darius bis kurz vor dem Konzert nicht auftauchen würde. Dass ihm diese Sache nämlich nicht zu bunt geworden war, konnte sich Alfred kaum vorstellen.
Dass Darius aber vergeblich auf ihn warten würde, wäre in diesem Fall noch um einiges schlimmer, darum hatte Alfred sich nun in Windeseile noch schnell notdürftig zurecht gemacht, sich von seinem Vater trotz aller Proteste nach Hause verabschiedet und dann sofort die nächste Bahn hierher genommen.
Kurt Wunderlich musste nicht alles wissen.
Es reichte, wenn er glaubte, dass Alfred sich zuhause noch etwas ausruhen und anschließend auf das Konzert am Abend vorbereiten würde.
Fast schon eine Spur zu heftig stieß Alfred die Tür zum gut besuchten Café auf und musste sich beherrschen, seine Schritte etwas zu verlangsamen, um nicht einfach hineinzustürmen. Eine der Kellnerinnen wandte sich an ihn, als er suchend an den besetzten Tischen vorbeilief und erst kurz verschnaufte, als er nirgendwo ein bekanntes Gesicht erblickte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die junge Dame.
„Nein, nein“, sagte Alfred schnell, „Danke. Ich warte noch auf jemanden.“
Die Dame nickte und lächelte freundlich.
„In Ordnung. Wenn Sie etwas bestellen wollen, weise ich Sie höflich auf unsere Sommerterrasse hin, die bereits geöffnet hat! Vielleicht wird auch noch ein Platz hier innen bis dahin frei, möchten Sie solange einen Kaffee trinken?“
Alfred folgte mit seinem Blick ihrem Fingerzeig zu den großen, gläsernen Terrassentüren und war schon im Begriff, nach draußen zu eilen.
„Nein, danke“, sagte er noch schnell, „Ich meine, vielen Dank. Könnten Sie die Frühstückskarte auf die Terrasse bringen, bitte? Ich danke Ihnen vielmals!“
Und mit diesen Worten ließ er die leicht verwunderte Kellnerin zurück, um an einen der wenigen besetzten Tische draußen zu hasten.
Darius Ottesen saß in sich zusammengesunken vor einer leeren Kaffeetasse, als würde er sich verdrossen darauf vorbereiten, von einem sehr unzuverlässigen Menschen schon bei der ersten Verabredung versetzt zu werden.
„Es tut mir aufrichtig leid“, keuchte Alfred außer Atem, „Ich- Ich wurde aufgehalten! Ich wollte Sie wirklich nicht so lange warten lassen.“
Der Blick, mit dem Darius ihn ansah, war so überrascht und gleichzeitig so aufrichtig erfreut, dass Alfred beinahe über seine eigenen Füße stolperte, bevor er sich mit hochrotem Kopf zu ihm an den Tisch setzte.
„Nicht doch“, sagte Darius und seine Lippen kräuselten sich zu einem sanften Schmunzeln, „Wir hatten keine Uhrzeit vereinbart. Sie wollten mich lediglich an einem bestimmten Ort zu einem unbestimmten Zeitpunkt treffen, also wäre es doch sehr unangebracht von mir, Ihnen ein Zuspätkommen zu unterstellen!“
Alfred lächelte amüsiert und doch etwas peinlich berührt.
„Schön, dass Sie hier sind“, sagte er und war sich nicht sicher, ob er Darius die Hand zur Begrüßung reichen sollte oder nicht.
Jedoch war er beinahe schon dankbar darüber, dass auch Darius nicht so recht zu wissen schien, wie sie sich am besten begrüßen sollten. Für einen Moment wirkte es, als wolle er sich gar erheben und Alfred fragte sich schockiert, was das werden würde, aber dann blieb er doch mit einem etwas ratlosen Gesicht sitzen.
Er sah müde und angespannt aus, aber das sanfte Lächeln auf seinen fein geschnittenen Zügen ließ sie gleich wieder weicher wirken.
„Wie ich bereits sagte“, meinte Darius, „Ich frühstücke für gewöhnlich nicht, aber vielleicht ist ein Frühstück gleich welcher Art im Vergleich zu einer Zigarette doch wesentlich gesünder!“
Alfred schmunzelte.
„Ich bestehe aber darauf, dass zumindest die Tasse Kaffee, die sie nun in der Wartezeit getrunken haben, auf meine Rechnung geht“, sagte er entschuldigend.
Darius hob überrascht eine Augenbraue.
„Nun gut“, meinte er amüsiert, „Aber ich wiederum bestehe darauf, die restliche Rechnung des Frühstücks zu übernehmen!“
Alfred starrte ihn schockiert an.
Das war ihm zugegeben doch extrem unangenehm, aber irgendwo in seinem Kopf meldete sich noch eine kleine schüchterne Stimme und erinnerte ihn daran, dass er zuvor nicht auf der Bank gewesen war und somit vermutlich gar nicht genügend Bargeld dabei hatte, um nun seinerseits eine Einladung durchzusetzen.
„Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung“, sagte er dennoch peinlich berührt, „Aber das kann ich wirklich nicht annehmen!“
Alfred beobachtete fasziniert, wie Darius‘ Lächeln in ein durchaus untypisches Grinsen überging, bevor er mit einem beinahe schon frechen Augenzwinkern tatsächlich nun wie ein unbedarfter Jungspund wirkte.
„Sie werden es müssen“, sagte Darius, „Ich bestehe nämlich darauf. Aber wenn Sie sich unbedingt wollen, könnte ich mir beim nächsten Mal eine Einladung ihrerseits eventuell gefallen lassen.“
Und Alfred ertappte sich dabei, dass ihm die Wortkombination „beim nächsten Mal“ nicht etwa Panik bereitete, sondern sein Herz höher schlagen ließ.
Er konnte sich äußerst angetan von diesem Gedanken das Lächeln nicht verkneifen und versuchte sich an einem ebenso spielerischen Zwinkern.
„Na gut, in Ordnung“, meinte Alfred großzügig, „Dann lade ich Sie beim nächsten Mal ein!“
Darius strahlte über das ganze Gesicht und wollte wohl gerade noch etwas sagen, als die Kellnerin an den Tisch trat und ihnen nach einem kurzen, scheinbar durchaus interessierten Blick auf Darius die Karten reichte.
„Wollen Sie noch frühstücken, die Herrschaften?“, fragte sie.
Alfred sah hektisch auf seine Uhr und druckste etwas herum.
„Gesetzt den Falles, dass es noch nicht zu spät ist-“, begann er.
Aber die Kellnerin lachte nur freundlich und winkte ab. Ihr Blick lag längst wieder auf Darius, dem das sichtlich unangenehm schien und Alfred fühlte sich kurz unbehaglich.
„Bei uns bekommen Sie bis sechzehn Uhr noch Frühstück, also keine Sorge!“, meinte sie, nachdem sie sich von seinem Anblick wieder gelöst hatte, „Wählen Sie in Ruhe, ich komme in einigen Minuten wieder.“
Darius hielt sie mit einem kurzen Handzeig auf, „Ich trinke gleich noch einen Kaffee, schwarz ohne Zucker!“
Sie nickte, sah ihn noch einmal prüfend an und notierte es sich, dann blickte sie scheinbar mit einiger Mühe sich zu lösen in Alfreds Richtung.
„Ähm“, meinte dieser verlegen und blätterte hastig in der Karte, „Ich würde gern einen Milchkaffee trinken, aber ansonsten brauche ich noch einen Moment.“
Sie notierte sich wohl auch dies, dann ließ sie den Stift sinken, stand kurz noch sehr zögerlich da und sprach Darius dann doch an:
„Entschuldigen Sie vielmals, das ist total unhöflich von mir, aber Sie erinnern mich so sehr an jemanden!“, platzte es aus ihr heraus.
Beide Blicke lagen verwundert auf ihr und Darius schien es extrem unangenehm, als sie sich zu erklären versuchte.
„Kennen Sie Filthy Failure?“, fragte sie und auf Darius‘ Gesicht war der Schock klar abzulesen, als sie weitersprach, „Das- das ist meine Lieblingsband!“
Darius entschuldigte sich zerknirscht, „Ich vermute, das ist musikalisch nicht ganz mein Metier, tut mir leid.“
„Sie sehen fast exakt so aus wie der Gitarrist von denen“, plapperte sie weiter.
Darius seufzte schwer, zwang sich aber ein höfliches Lächeln auf die Lippen.
„Nur ohne Bart“, meinte er und wirkte fast schon resigniert, „Ohne Unmengen von Metall im Gesicht, ohne Tinte unter der Haut und mit einer anderen Frisur.“
Sie lachte und nickte heftig, „Und ein bisschen jünger, möchte ich behaupten. Hat Ihnen das womöglich schon mal jemand gesagt?“
Darius seufzte wieder, rollte kaum sichtbar mit den Augen und Alfred konnte die Situation überhaupt nicht zuordnen, „Mehrfach schon, ja.“
„Es tut mir wahnsinnig leid“, sagte die Kellnerin lachend, „Ich störe schon gar nicht weiter, ich musste das jetzt nur kurz loswerden. Nicht, dass da zufällig ein so talentierter Musiker vor mir sitzt und ich ihn gar nicht erkenne!“
Alfred hustete, um über das Lachen hinwegzutäuschen, das ihm unwillkürlich entfuhr. Als sie weg war, wischte er sich eine einzelne Träne aus dem Auge und wandte sich an Darius, der nur genervt schmunzelnd mit dem Kopf schüttelte.
„Sagen Sie“, meinte Alfred belustigt, „Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Doppelgänger haben, der ein wirklich talentierter Musiker in einer überaus bekannten Musikgruppe ist?“
Darius verzog leidend das Gesicht, lachte dann aber verlegen.
„Ich hätte ja wirklich nicht erwartet, überhaupt wie ein Musiker auszusehen“, meinte er durchaus amüsiert, „Aber zumindest habe ich einen Bruder, der anscheinend bislang um einiges mehr Erfolg in seiner Tätigkeit hatte als ich!“
Alfred sah ihn kurz überrascht an, wollte dann aber die lockere Stimmung nicht mit seinen neugierigen Fragen belasten.
„Da bin ich ja ausnahmsweise einmal froh, dass ich ein verwöhntes Einzelkind bin“, meinte er lachend, „Haben Sie etwa noch mehr überaus berühmte Musiker in der Familie?“
Darius lachte herzhaft, als hätte Alfred einen besonders guten Scherz gemacht und ein bisschen war er fast schon stolz auf sich, dass er es schaffte, dass die Stimmung so ausgelassen wurde.
Er erwischte sich bei dem Gedanken, dass einem sonst so ernst und verkrampft wirkenden Menschen wie Darius Ottesen dieser lustige Frohsinn in Mimik und Ausdruck sehr gut stand. Es ließ ihn geradezu erblühen.
„Dutzende“, scherzte Darius nämlich mit einem neuerlichen, diesmal sehr fröhlich wirkenden Augenzwinkern, „Aber zumindest die wichtigsten Musiker darunter kennen Sie nun bereits zumindest vom Hörensagen!“
Alfred musste herzhaft lachen und schaffte es kaum, überhaupt mal einen verstohlenen Blick in die Frühstückskarte zu werfen.
Es gab momentan durchaus wichtigeres als jedes noch so gute Essen und das war die Person ihm gegenüber. Eine Person, die er vor wenigen Tagen noch verflucht hatte und mit der er sich nun freiwillig privat getroffen hatte, obwohl er vermutlich auch auf eine direkte Frage hin absolut nicht so einfach zugeben würde, wie sehr Darius Ottesen es ihm tatsächlich angetan hatte.
Kurios, wie das Schicksal so spielte.
Und schon gar nicht würde er näher erläutern, auf welcher durchaus unangebrachten und gänzlich unprofessionellen Ebene dies zumindest in seiner Gefühlswelt stattfand.
„A propos“, wandte sich Darius wieder an ihn, als würde ihm noch etwas passend zum Thema einfallen.
Warum er dann aber plötzlich von Theresa Berentz anfing, konnte Alfred nicht ganz zuordnen, aber anscheinend gab es diesbezüglich doch Redebedarf.
„Theresa meinte noch zu mir, dass Sie dachten, wir würden einander heimlich treffen – Ich wollte dieses Missverständnis nun doch aus der Welt schaffen“, sagte er noch immer recht amüsiert wirkend, „Direktor Berentz weiß durchaus davon und würde es in diesem Falle wohl um einiges unangebrachter finden, würden wir einander nicht sehen!“
Alfred lachte verlegen.
Er hatte das Gefühl, irgendeine relevante Pointe verpasst zu haben, aber Darius wirkte so beschwingt und frei von allen Sorgen, dass er ihn gern glauben ließ, den Umstand mit der Frau Berentz als genauso selbstverständlich zu erachten.
„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte er augenzwinkernd und hörte sich selbst weiterreden, noch bevor er darüber nachdenken konnte, wie diese Worte wohl klingen mochten, „Es ehrt mich in diesem Falle sehr, dass Sie mir frühstücken und nicht mit Frau Berentz!“
Darius aber lachte nur herzlich und Alfred täuschte sich bestimmt nicht, dass wieder der sanfte Rotschimmer auf den sonst so blassen Wangen lag.
„Sie sollten sich eher etwas darauf einbilden, dass ich überhaupt frühstücke“, meinte Darius belustigt, „Für gewöhnlich-“
„-frühstücken Sie nicht, ich weiß!“, vollendete Alfred den Satz lachend.
„Aber für gewöhnlich rauche ich auch nicht“, meinte Darius hingegen, „Und wenn wir nun beide das Rauchen sein lassen wollen, sollten wir wohl besser eine andere Tätigkeit finden, die etwas gesünder ist!“
Alfred konnte nicht umhin, als dass jedes Mal, wenn Darius das unscheinbare Wörtchen „Wir“ benutzte, sein Herz einen kleinen, schüchternen Hüpfer machte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er wirklich in der Zwischenzeit noch nicht geraucht hatte – vielleicht hatten seine ehrlichen Worte doch einen Wert gehabt.
Beflügelt von dieser fast schon überschwänglichen Stimmung der gemeinsamen Albernheit, fiel es ihm nicht schwer, weitere Worte zu finden und es verwunderte ihn beinahe selbst, wie einfach die Unterhaltung gerade stattfand, ohne dass er über jede Antwort erst einmal nachgrübeln musste.
„Wer weiß was kommen mag, am Ende wird das noch eine ebenso geschichtsträchtige, uralte Tradition wie das Bahnfahren“, lief Alfred zu kreativer Höchstleistung auf, „Und in der Zukunft Ihrer bevorstehenden Karriere wird man keine Straße nach Ihnen benennen, sondern ein gemütliches Kaffeehaus!“
Darius lachte so ausgelassen, dass er leicht den Kopf zurückwarf und Alfred nahm sich fasziniert davon vor, dass er sein Möglichstes tun würde, diesen unmöglichen Mann noch sehr viele Male auf diese Weise zum Lachen zu bringen.
„Allerdings“, warf Darius ein und lachte nochmals, „Allerdings sollten wir in diesem Fall doch besser baldigst ein Frühstück auswählen, damit es überhaupt so weit kommen kann!“
Beinahe gleichzeitig griffen sie nach der Karte und als sich ihre Hände kurz berührten, lag Darius‘ Blick für einen Moment direkt in seinen Augen, ehe Alfred ihm etwas verlegen die Karte überließ, damit er zuerst wählen konnte.