Alfred wusste nicht, wie lange er in dieser Lage verharrt hatte, bis seine vernünftigen Gedankengänge wieder einsetzten. Es könnten Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur Minuten, er hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Viel eher war es vielleicht sogar eine Art Lebenserhaltungstrieb in dieser Situation, die Realität hatte ihn wieder und das Adrenalin pumpte durch seinen Körper. Denn davon abgesehen, dass seine Tränen Darius auch nicht weiterhalfen, war immer noch ein Kind im Haus, um das sie sich eigentlich kümmern sollten. Seine Gedanken rasten.
Er konnte immer noch nicht einschätzen, wie ernst die Lage war und was er tun sollte. Seine eigene Person stand dabei nicht zur Debatte.
Er war der einzige Erwachsene bei Bewusstsein, er musste zurückstecken und handeln. Es ging nicht darum, wie er sich fühlte, sondern wie er weitere Schäden verhindern konnte. Warum fiel ihm nur nichts Sinnvolles ein, was er tun konnte?
Nina spielte Klavier, das konnte er hören.
Darius atmete noch, das konnte er fühlen.
Das Telefon, schoss es ihm durch den Kopf.
Kurz war da der Gedanke, seinen Vater anzurufen, aber den verwarf er wieder. Es war die natürlichste seiner Reaktionen, würde aber nicht helfen.
Der würde sich nur aufregen und auch nicht weiter wissen.
Während er das Telefon in die Hand nahm, das nun wohl ihm gehörte, und versuchte, sich irgendwie mit der Bedienung hinreichend vertraut zu machen, klingelte jedoch das andere auf dem Tisch.
Sein Blick fiel auf Darius, der sich nicht regte.
Er küsste hastig seine Stirn. Er entschuldigte sich nochmals bei ihm.
Dann sah er sich in der Lage, sein Telefon in die Hand zu nehmen und schaffte es sogar, das grüne Symbol auf dem Bildschirm allen Anschein nach auf die richtige Weise zu berühren, sodass er kurz darauf Theresas Stimme vernehmen konnte.
„Darius?“, fragte sie noch ehe er etwas sagen konnte.
Vielleicht war sogar Theresa die einzig richtige Ansprechpartnerin in dieser Lage. Alfred war unheimlich dankbar, dass sie anrief. Als hätte sie es geahnt, schoss ihm noch durch den Kopf. Als hätte sie gefühlt, dass etwas nicht stimmte.
Womöglich hatte sie vermutet, dass es Stress gab, wenn Nina hier war. Was wirklich passiert war, konnte sie jedoch nicht wissen und eigentlich sollte er langsam mal überhaupt etwas sagen, damit er sie überhaupt in Kenntnis setzen konnte.
Aber wie? Wie sollte er das alles in Worte fassen?
„Äh, nein“, gab er zu, während seine Gedanken sich überschlugen.
Theresa wirkte sofort alarmiert, „Alfred?“
„Genau der“, presste er mühsam heraus.
Irgendwie fiel ihm das Sprechen schwerer als erwartet, wo er doch eigentlich selbst hatte telefonieren wollen. Im Hintergrund spielte Nina noch Klavier, Alfreds Hand ruhte noch immer leicht auf Darius‘ Brust, als wolle er sich vergewissern, dass er nicht einfach aufhörte zu atmen.
„Ist bei euch alles in Ordnung?“, fragte Theresa und ihre Stimme klang beinahe so panisch wie Alfred sich fühlte.
„Ähm“, begann Alfred und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sehr alles überhaupt nicht in Ordnung war.
Erst jetzt kam der Gedanke in seinen Kopf, dass Theresa ihn vermutlich aufgrund unterlassener Hilfeleistung umbringen würde. Aber das hatte momentan auch keine Priorität, wenn er ehrlich war.
„Alfred?“, fragte sie nochmals, dann verlangte sie, „Sprich mit mir!“
Er konnte nicht antworten. Er konnte nichts sagen.
„Alfred!“, sie klang als würde sie befürchten, dass er sie nicht mehr hörte.
Er nahm einen zittrigen Atemzug.
„Kannst du hierher kommen?“, fragte er dann kläglich, „Zu Darius.“
Theresa schienen die Worte zu fehlen. Er konnte ihr es nicht verübeln, aber sie schien nicht einmal mehr gewillt, nachzufragen. Durch das Telefon hörte er noch irgendwelche Geräusche, Poltern, Türen knallen.
Dann legte sie einfach auf.
Alfred schluchzte. Nicht einmal das bekam er auf die Reihe. Er war nutzlos. Er konnte Darius nicht helfen, soviel war sicher, das hatte er schon bemerkt. Aber auch wenn es nun darauf ankam, zumindest jemand anderem bescheid zu geben, brachte er das nicht auf die Reihe, er war einfach unfähig. Er konnte nicht einmal genügend Fassung wahren, um Theresa in Kenntnis zu setzen.
Vielleicht sollte er doch den Rettungsdienst anrufen. Aber während er versuchte, zumindest ein Tastenfeld auf dem Telefon angezeigt zu bekommen, zitterten seine Hände so stark, dass er nicht einmal das schaffte.
Panisch sah er sich nach einem ganz normalen Telefon um.
Das war natürlich nicht von Nöten, wenn Darius mit seinem hochmodernen Telefon zurechtkam, aber jetzt fehlte es eindeutig.
Er wollte Nina um Hilfe bitten, aber andererseits wäre es sicherlich erschreckend für ein kleines Mädchen, dies alles mitzubekommen. Es wäre besser, wenn sie nicht dabei war, sondern einfach nur Klavier spielte und dachte, es wäre alles in Ordnung.
Würde sie plötzlich damit aufhören und zu ihm kommen, er wüsste nicht, was er tun sollte. Was für ein Versager er war, drang immer tiefer in Alfreds Bewusstsein, doch es brachte nichts, in Selbstmitleid zu versinken.
Er wollte handeln. Er musste handeln.
Und doch saß er so lange einfach nur unfähig herum, bis es an der Tür klingelte und er erschrocken zusammenfuhr. Dann sprang er instinktiv auf, um zu öffnen.
Egal wer es war und wenn es nur der Postbote mit einem Paket war oder ein Nachbar, der um eine Packung Milch bitten würde – er würde nicht mehr allein in dieser Situation sein!
Kurze Zeit später hatte Theresa die Situation im Griff und Alfred schämte sich. Er konnte nicht aufhören zu weinen.
Nicht als Theresa ihn wütend zur Rede stellte, nicht als sie sich schließlich wortlos um Darius kümmerte. Nicht als sie kurz telefonierte, nicht als sie ihn tonlos beauftragte, bei Darius zu bleiben, während sie nach Nina schaute.
Erst als er Stunden später mitten in der Nacht aus dem Krankenzimmer geschickt wurde, hatte Alfred kaum noch Tränen übrig.
Um ihn herum drehte sich alles, das war alles nur ein schlimmer Alptraum.
Er wollte wach werden, so gern wollte er einfach neben Darius auf dem Sofa wach werden. Nina hätte sich zu den beiden gekuschelt, weil sie müde war und es ja auch kein anderes Bett war. Sie läge zwischen ihnen und würde ihn fragen, ob er schlecht geträumt hätte. Darius würde lachen, wenn er ihm von diesem Traum erzählte und ihm versicherte, dass er sich keine Sorgen machen müsste.
Aber Nina schlief vermutlich gerade im Gästebett bei Berentz zuhause, Darius lag auf dem Zimmer der Intensivstation, das er gerade verlassen hatte und Theresa versuchte gerade wohl, ihn wieder in die Realität zu holen.
„Alfred?“, fragte sie wieder und wieder.
„Alfred!“, es klang verzweifelt.
Sie sollte sich nicht auch noch um ihn sorgen, aber er schaffte es nicht, auf ihre Stimme zu reagieren, geschweige denn auch nur ein Wort zu sprechen.
„Alfred!“
Erst als die Ohrfeige knallte, kam er auf dem Boden der Tatsachen an.
Er schnaufte tief durch und rieb sich instinktiv die Wange, auch wenn er den Schmerz kaum spürte.
„Ja, nein, ich meine- was?“, fragte er und sah sie an.
„Ob ich dich nach Hause fahren soll!“, wiederholte sie anscheinend etwas, was er nicht einmal wahrgenommen hatte.
Ihre Schminke war komplett verwischt, ihre Haare waren vollkommen zerzaust und sie sah aus, als wäre sie vor ihrer spontanen Rettungsaktion schon im Bett gelegen und hätte notdürftig Stiefel über ihre Schlafhose und noch rasch einen Mantel über das Nachthemd gezogen.
Wie er selbst aussah, wollte er gar nicht wissen.
Sowieso war immer noch nur der Anblick von Darius in diesem Krankenzimmer in seiner Erinnerung. Es hatte sich in sein Bewusstsein eingebrannt.
Wie er da lag, schmal und blass in einem weißen Bett.
Es war Alfreds Schuld.
Wie er da lag, umringt von irgendwelchen Monitoren, die Herzschlag und Atem überprüften. Routine, vierundzwanzig Stunden Überwachung, hatte der sicherlich Arzt gelogen, um ihn zu beruhigen.
Als würde er nicht wissen, dass er viel zu viel Zeit verloren hatte.
Wie er da lag, reglos und hilflos, weil sein Partner ihn genau dann im Stich gelassen hatte, wenn er es am meisten gebraucht hatte.
Blut hatten sie abgenommen, eine Infusion hatten sie gelegt, die Werte seien gar nicht gut, hatten sie Theresa wissen lassen. Als hätte er das nicht mitbekommen.
Wenn alles gut ging, würde er am Montag verlegt werden.
Wohin hatte Alfred nicht mitbekommen. Es war, als hätte sein Gehirn beschlossen, dass er nur noch existierte und nichts mehr fühlen konnte außer Angst und Schmerz und einer tiefen Leere, die sich nun breit machte, da er nicht mehr wenigstens am Bett sitzen und Darius‘ eiskalte Hand halten durfte.
„Na komm“, sagte Theresa sanft und nahm ihn am Arm, „Ich bring dich nach Hause, das war sicherlich genug Aufregung für heute.“
Er wollte ihr den Arm entziehen, ihr sagen dass sie ihn lieber wieder ohrfeigen sollte, anstatt nett zu ihm zu sein. Er hatte ihre Hilfe nicht verdient.
Es war Alfreds Schuld, dass es soweit gekommen war.
Es war ganz allein Alfreds Schuld.
Aber er schaffte nicht mehr, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, während sie ihn nach draußen führte und erst als die frische Nachtluft um seine Nase wehte, sah er sich imstande, stehen zu bleiben und sie anzusehen.
„Es ist meine Schuld“, gestand er leise.
Dann musste er wieder weinen.
„Es ist alles meine Schuld“, schluchzte Alfred, aber Theresa nahm ihn in den Arm und schüttelte heftig den Kopf.
„Unsinn, Alfred“, log sie, wohl um ihn zu beruhigen.
Aber er kannte die Wahrheit.
„Wenn hier jemand schuld ist, dann bin ich es“, meinte Theresa leise, „Ich habe viel zu lange zugesehen. Aber es hilft nichts, sich Vorwürfe zu machen, Alfred. Er ist jetzt in guten Händen, das ist alles was zählt.“
Alfred blinzelte, um sie wieder anzusehen.
„Du wusstest, dass es ihm so schlecht geht?“, fragte er mit brüchiger Stimme.
Theresa seufzte schwer.
„Ich wusste, dass es ihm schlecht geht“, gestand sie, „Aber das es wieder so schlimm ist, habe ich nicht wahrhaben wollen. Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen- ich hätte früher etwas tun müssen- dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.“
Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Aber siehst du, Alfred“, meinte sie mit einem weiteren Seufzen, „Das hilft nun auch nicht mehr. Die Hauptsache ist, dass ihm nun geholfen wird.“
Alfred konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken.
„Es tut mir so leid“, flüsterte er.
Theresa schüttelte wieder den Kopf und legte die Hand auf seine Schulter.
„Er ist jetzt in Sicherheit, Alfred“, sagte sie leise.
Alfred nickte zaghaft.
„Er ist in Sicherheit“, wiederholte sie erstickt.
Dann begann auch Theresa zu weinen und für einige Minuten standen sie einfach nur beide vor dem Krankenhaus und hielten einander in den Armen.
„Ich bin froh, dass du bei ihm warst“, schluchzte Theresa, als sie in ihrer Handtasche kramte und eine Packung Taschentücher herauszog.
Eins davon bot sie Alfred an und er hielt es einige Momente nur fest in seiner Faust, ehe er überhaupt davon Gebrauch machen konnte.
„Es bedeutet ihm mehr, als du denkst“, schluchzte sie, „Du bedeutest ihm so viel, Alfred. Und du konntest es nicht wissen- mach dir bitte keine Vorwürfe! Sei- sei einfach nur weiter für ihn da.“
Alfred musste sich beherrschen, nicht wieder in Schluchzen auszubrechen. Er konnte sich einfach nicht beruhigen.
„Ich liebe ihn“, gestand er vor Theresa unter Tränen, „Ich liebe ihn so sehr.“
Sie nahm ihn in den Arm.
„Das weiß ich doch“, hauchte sie, „Und ich bin so froh, dass ihr euch gefunden habt. Ich bin so froh, dass ihr einander habt. Es wird alles wieder gut.“
Alfred nickte leicht.
Das hoffte er. Auch wenn es momentan wirklich nicht danach aussah, so blieb ihm doch die Hoffnung.
Es war schließlich Theresa, die ein Machtwort sprach, als zumindest sie sich wieder ein wenig gefangen hatte.
„Lass uns zum Auto gehen“, meinte sie und nickte in Richtung Parkhaus, „Ich fahre dich nach Hause und schau ich mal nach der Nina. Die schläft erst mal bei uns, bis die Sache mit Gabriel sich wieder geklärt hat.“
Alfred nickte und folgte ihr, noch immer wie in Trance.
„Ich fahre morgen nochmal her“, sagte Theresa, „Wenn du magst, hole ich dich ab, damit du mitkommen kannst. Wenn du noch Sachen in der Wohnung hast, sag mir bescheid- ich packe eh noch einiges zusammen für Montag.“
Alfred fühle sich nicht in der Lage, etwas zu sagen.
Während sie zum Auto liefen, dachte Theresa wohl laut, denn sie erwartete anscheinend gar keine Antwort oder irgendeinen Kommentar. Vielleicht sprach sie auch einfach nur, damit sie es selbst nicht vergaß.
Als er schließlich auf dem Beifahrersitz platz nahm, spürte Alfred die Erschöpfung über sich hereinbrechen.
Er starrte aus dem Fenster und sah die Lichter der Stadt vor seinen Augen verschwimmen, bis die Mittelkonsole von Theresas Auto sich zu Wort meldete und ihn daran erinnerte, dass es noch eine Welt außerhalb dieser immensen Verzweiflung gab. Eine Welt, in der Dinge getan werden mussten, die nun keiner mehr erledigen konnte. Wo Leute sich darauf verließen, dass andere Leute ihren Job machten. So nichtig es Alfred auch vorkam, so wenig er sich auch damit auseinandersetzen konnte - der kleine Monitor im Auto erinnerte ihn schmerzlich daran.
Es sah aus, als wäre Theresas hochmodernes Telefon damit verknüpft, denn auf der Anzeige stand: Ferdinand ruft an.