Entgegen aller Erwartungen schien Gabriel ungewöhnlich geduldig.
„Was hat keinen Sinn?“, fragte er einfach nur nach.
Darius gestikulierte vage in die Luft, „Wir haben so oft schon darüber gesprochen, du könntest dir die Zeit sparen und mir etwas von deinem Leben erzählen. Das würde mich interessieren und hätte um einiges mehr Sinn als- dieses Thema.“
„Meinst du?“, Gabriel schnaubte, „Klar, ich werde in den Knast kommen, wenn ich ihn umbringe. Natürlich wird man bei mir dann von Mord sprechen und nicht von Notwehr, aber wenn du es nicht schaffst, dann muss ich es eben erledigen- das nehm ich in Kauf, wenn ich dich dafür endlich sicher weiß!“
Das saß. Diese Worten saßen und trafen Darius direkt ins Herz.
Er holte tief Luft, dann schüttelte er nur den Kopf. Am besten würde er sich damit nun nicht auseinandersetzen, was das alles bedeuten würde.
Mit einem schiefen Grinsen sah er Gabriel an und meinte vorsichtig, „Kann ich dich dann wenigstens regelmäßig im Gefängnis besuchen kommen, um meinen ewigen Dank auszudrücken?“
„Es ist nicht lustig, Darius!“, fauchte Gabriel, „Ich meine das ernst. Meine Meinung hat sich nicht geändert. Ich bin lediglich zu dem Schluss gekommen, dass du es auch nicht sehr lustig finden kannst, dich von deiner ach so großen unsterblichen Liebe regelmäßig misshandeln zu lassen!“
Darius verzog das Gesicht.
„Er ist nicht meine große Liebe“, sagte er knapp, „Und ich habe das im Griff.“
Gabriel schüttelte den Kopf und schnaubte in einem Anflug von Sarkasmus.
„Ach so!“, meinte er mit einem bitteren Lachen, „Dann lass ich dich mal machen – ich meine, wie komme ich auf den Gedanken, dass du nicht alles im Griff haben könntest. Wirklich, was für eine Unterstellung!“
Einige Momente hielt Darius inne.
Wollte er nun wirklich einen Streit vom Zaun brechen, nur weil Gabriel ihm zu verstehen gab, dass er ihm wichtig war? Wollte er ihn dafür strafen, dass er mit seiner Sorge ja doch irgendwo auch Zuneigung ausdrückte?
Wohl auf seine ganz eigene Art und Weise, die ihn wütend werden ließ, aber dennoch- wollte wirklich, dass es so weiterging wie es immer gewesen war? War er nicht langsam vernünftiger geworden als damals? Würde er jemals aus seinen Fehlern lernen?
„Es tut mir leid“, sagte er leise und schenkte Gabriel ein schwaches Lächeln, „Du hast ja Recht. Ich meine- Ich dachte ja auch, dass alles geregelt und vorbei wäre, aber- Ich bin ja selbst schuld, dass ich mich wieder darauf eingelassen habe.“
Gabriel verdrehte mit einem genervten Stöhnen die Augen.
„Genau, Darius. Das kenn ich auch schon. Jetzt sind wir wieder an diesem Punkt- Du. Bist. Nicht. Selbst schuld daran, soweit waren wir doch schon mal, okay?“, er schnaubte, „Und vielleicht bin ich auch zu blöd, um zu kapieren, dass du selbst nichts dran ändern kannst, aber zumindest wenn man dir Hilfe anbietet, könntest du-“
Gabriel unterbrach sich selbst, indem er vom Stuhl wieder aufstand und schüttelte immer und immer wieder den Kopf, während er auf und ab lief.
„Vergiss es“, sagte er leise, „Ich wollte mich nicht mehr einmischen.“
Darius sah ihn an.
„Du wartest also gar nicht auf eine Entschuldigung, sondern nur auf meine Zustimmung, ihn umbringen zu dürfen?“, fragte er ungläubig.
Gabriel starrte einige Momente nur.
„Was?“, fragte er.
Darius hob abwehrend die Hände, „Ich möchte nur einem Missverständnis vorbeugen, ich bin nicht gut darin, deinen skurrilen Subtext zu deuten, also-“
„Warst du jemals in der Lage, irgendeinen Subtext zu deuten?“, fragte Gabriel.
Darius hob eine Augenbraue.
„Was?“, fragte diesmal er.
Einige Zeit lang sahen sie einander bloß in die Augen, als suchten sie beide darin die Antwort auf all ihre Fragen. Dann musste Gabriel lachen und Darius verstand die Welt nicht mehr.
„So, nochmal von vorn“, meinte Gabriel, „Ich fasse das jetzt mal zusammen.“
Darius sah ihn an, als erwarte er nun eine Erleuchtung.
„Du denkst zwar immer noch, dass ich mich gemeldet habe, weil ich dir noch Geld schulde, aber ich dachte, ich könnte auch mal einfach vorbeischauen, damit meine Tochter nicht als Einzige in den Genuss deiner Anwesenheit kommt“, begann Gabriel gar nicht so aggressiv wie seine Worte klingen sollten und Darius konnte sich keinen Reim aus den Zusammenhängen machen, „Und jetzt frag ich mich, wieso ich das überhaupt wollte, wenn es gleich wieder ausartet, aber um das jetzt zu beenden- Hier folgt eine Übersetzung meiner Worte für Menschen, die nur verstehen, was sie verstehen wollen.“
Es klang vorwurfsvoll und doch hatte Darius das Gefühl, dass es vielleicht die letzte Chance für sie beide sein würde, ihn einfach ausreden zu lassen.
„Nein, vergiss das Letzte“, sagte Gabriel, „Ich drücke mich jetzt einfach unmissverständlich aus und lass alles weg, was es cool klingen lassen würde.“
Darius lächelte schief.
„Pass auf“, begann Gabriel und seine Worte ließen Darius den Boden unter den Füßen verlieren, „Die Situation ist Folgende: Ich will diesem Mann wehtun, weil er dir wehtut. Ich will Zeit mit dir verbringen, weil ich dich verdammt vermisse. Ich mache mir Sorgen, weil du mir wichtig bist.“
Darius war den Tränen nahe.
Gabriel musste es bemerken, so wie seine Lippe zitterte und seine Augen feucht wurden, doch es ging jetzt nicht mehr darum, einen unnahbaren Eindruck zu hinterlassen, sondern darum, endlich Klartext zu reden.
„Verdammte Scheiße, Darius“, fluchte Gabriel händeringend, „Ich weiß, es ist viel Mist damals gewesen, aber du bist immer noch mein kleiner, weltfremder Babybruder, der- der ein verdammtes Musikzimmer besitzt- den man vor sich selbst beschützen muss! Und- den ich trotz allem nicht aufhören kann zu lieben.“
Dann fügte er noch Worte hinzu, die unter anderen Umständen herausfordernd klingen würden, aber sein Stimme war sanft, „Jetzt verstanden?“
Darius war im Begriff, in Tränen auszubrechen.
Er wollte sich jedoch noch solange zusammenreißen, bis er wenigstens etwas dazu gesagt haben würde, doch mehr als ein Nicken brachte er erst nach einigen Momenten zustande.
„Ich glaube, wir sprechen wirklich nicht die gleiche Sprache“, beschwerte er sich dann, „Denn wenn ich es so verstanden hätte, hätte ich gar keinen Streit angefangen. Wir reden aneinander vorbei- und was ich eigentlich sagen will, ist dass-“
Er brach ab und schnaufte durch.
„Ich übersetze meinen Standpunkt nun auch“, meinte er mit einem schwachen Lächeln, „Ich hasse dich nicht. Ich habe dich nie gehasst. Ich dachte, dass du mich hasst, aber wenn dem nicht so ist, dann- dann-“
Darius stockte und sein Atem zitterte, während er mehr und mehr in sich zusammensank, was Gabriel wohl dazu animierte, sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett zu setzen.
„Ich- Ich hab dich so vermisst“, schluchzte Darius.
Gabriel schnaufte und raufte sich das Haar.
„Du bist ein kompletter Vollidiot“, sagte er sanft.
Dann zog er ihn in eine sehr viel vertrautere und gar nicht gezwungen wirkende Umarmung, die Darius gleichermaßen das Herz brach wie auch alle Scherben gleich wieder zusammensetzte.
Er hielt sich an Gabriel fest, als hinge sein Leben davon ab und schmiegte das Gesicht an die derbe Lederjacke, während er stille Tränen der Erleichterung weinte. Gabriel seufzte schwer, sagte aber nichts mehr.
Darius meinte, er müsste ihm jeden Moment klar machen, wie wenig er von all dieser Gefühlsduselei eigentlich hielt, doch tatsächlich saßen sie immer noch so da, als sich die Tür nach einem kurzen Klopfen öffnete. Gabriel nahm die Rückkehr von Nina und Jasper als Anlass, sich doch von Darius zu lösen und kramte in seiner Jackentasche nach einem Taschentuch.
„-und wenn du magst, können wir ja mal zusammen spielen und dann bringst du mir das Stück bei!“, plapperte Nina noch an Jasper gewandt weiter.
Dieser sagte noch etwas, aber Darius war eher schockiert, dass Gabriel ein Taschentuch aus der Packung zog und sich kurz über die Augen wischte, ehe er ihm nun ebenfalls eines anbot, das er dankbar entgegen nahm.
„Vertragt ihr euch jetzt wieder?“, fragte Nina hoffnungsvoll.
Darius lachte und zuckte mit den Schultern.
„Ich hoffe doch“, meinte er mit einem grinsenden Seitenblick auf Gabriel.
„Na klar“, meinte dieser lachend, „Zumindest bis zum nächsten Streit!“
Die Art wie er es sagte, klang mit seinem fast zärtlichen Blick in Darius‘ Richtung um einiges liebevoller als die Worte für sich allein stehen würden.
Nina hüpfte sofort wieder aufs Bett und drückte sich nun ihrerseits an Darius, während Jasper die dampfenden Pappbecher in seinen Händen an die beiden verteilte und dabei sagte, „Deine Tochter meinte, du trinkst ihn schwarz.“
Gabriel nickte und nahm den Kaffeebecher dankend entgegen.
Dann wandte sich Jasper an Darius, reichte ihm ebenfalls einen Becher und erklärte ihm mit einem verlegenen Lächeln, „Nina meinte, du trinkst ihn genauso schwarz, aber sie hat beschlossen, trotzdem Milch reinzutun, um dich zu ärgern.“
„Mich ärgern?“, Darius musste lachen, „Na, das ist ja äußerst charmant. Danke euch. In diesem Fall trinke ich natürlich liebend gern einen so blasphemisch mit Milch verseuchten, eigentlich zuvor so wundervollen schwarzen Kaffee!“
Nina kuschelte sich fester an ihn.
Irgendwie musste Darius ja zugeben, dass er es gar nicht mehr so unendlich nervtötend und aufdringlich fand. Auf eine gewisse Art und Weise, die ihn selbst überraschte, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er die kleine Maus wirklich ins Herz geschlossen hatte.
So streichelte er ihr nur etwas unbeholfen übers Haar und sie strahlte ihn an.
„Du wolltest Kaffee trinken“, erinnerte sie ihn grinsend, „Immerhin hörte ich, dass du Kaffee total super findest, jetzt darfst du ihn nicht kalt werden lassen!“
Darius schnaufte ergeben. Er hatte ja eigentlich erwartet, dass er den Becher sehr unauffällig und diskret auf dem Tischchen neben dem Bett abgestellt hatte, als er erfahren hatte, dass Milch darin war, aber ihrer Neugierde entging wohl nichts.
Eigentlich sträubte sich alles in ihm dagegen, doch er erinnerte sich an Theresas Worte, er sah in Ninas erwartungsvolle Augen und dachte an Alfred.
Vorsichtig nahm er einen Schluck von seinem Kaffee.
Das Schlucken fiel ihm zugegeben sehr schwer und mit der Milch darin schmeckte der Kaffee so verboten gut, dass alle Alarmglocken in seinem Kopf schellten, doch er stellte sich tapfer der Gefahr.
Irgendwo fiel ihm noch auf, dass eben dieser Milchkaffee das Erste seit mehreren Tagen war, was er aktiv selbst zu sich nahm. Und als er den Becher nach einem zweiten zaghaften Schluck wieder abstellte, verzog er kurz leidend das Gesicht und sah Nina vorwurfsvoll an.
„Du hast da mindestens zwei Löffel Zucker rein, gib’s zu!“, meckerte er.
Nina zuckte grinsend mit den Schultern, „Mist, jetzt hast du mich erwischt!“
Darius schüttelte verzweifelt den Kopf, dann musste er schmunzeln und hauchte einen liebevollen Kuss auf ihre Stirn.
„Du bist unmöglich“, meinte er vorwurfsvoll, dann hauchte er leise, „Danke.“
Fast wehmütig dachte Darius daran, wie schwer ihm damals die Umstellung zum schwarzen Kaffee ohne alles gefallen war, als er beschlossen hatte, dass man genau an dieser Stelle wunderbar einsparen konnte. Irgendwann hatte er geglaubt, dass er eben dies bei seinem Koffeinbedarf nicht nur konnte, sondern musste.
Danach war es eine Selbstverständlichkeit gewesen und er hatte sich selbst engeredet, dass ihm der Kaffee anders gar nicht mehr schmecken würde.
Nie hätte er sich vorstellen können, diese mühsam antrainierte Gewohnheit wieder abzulegen. Nie hätte er gedacht, dass er sich das erlauben würde.
Nun nahm er mutig noch einen kleinen Schluck von dem süßen, milchigen Zeug und ihm wurde beinahe warm ums Herz, auch wenn dieses streng genommen mit dem heißen Kaffee gar nicht direkt in Berührung kam.
Aber es ging darum, dass Nina es gut mit ihm meinte. Dass sie alle es gut mit ihm meinten. Sogar Gabriel, was zugegeben immer noch ein Schock war.
Eine erschreckend positive Art davon.
Genauso wie Kaffee mit Milch und Zucker trotz aller gegenteiligen Behauptungen, die er stellte, einfach erschreckend gut schmeckte.
Vielleicht war es nun also wirklich an der Zeit, ein bisschen umzudenken und sich gegen all diese eingefahrenen und danach nie wieder nach der Wahrheit überprüften Angewohnheiten aktiv zur Wehr zu setzen.
Als der Becher leer war, fühlte Darius sich richtig mies.
Ihm war sterbenselend und er konnte an nichts anderes mehr denken.
Die Gespräche um ihn herum verschwammen in seinen Schuldgefühlen, während Nina sowohl Gabriel als auch Jasper mit ihren Fragen und albernen Sprüchen unterhielt, sodass sie keine andere Wahl hatten, als miteinander zu reden.
Darius verfluchte sie für diese Aktion und sich selbst dafür, dass er sich darauf eingelassen hatte. Trotzdem meldete sich die kleine, schüchterne Stimme der Vernunft in seinem Hinterkopf und flüsterte, dass es der erste Schritt in die dringend notwendige, richtige Richtung war.
Ninas Kopf lag noch immer an seiner Schulter und als sie ihre Arme wieder um ihn schlang, bestärkte der Blick aus ihren großen, strahlenden Augen ihn in seinem Vorsatz, eben dieser Stimme Glauben zu schenken.
Es würde nicht heute klappen. Es würde nicht morgen klappen.
Sich von seiner Krankheit zu lösen, würde nicht sofort und auch nicht dadurch funktionieren, es sich einfach vorzunehmen. Doch vielleicht war es ein großer Schritt, sich einzugestehen, dass es eine eben solche war.
Dagegen anzukämpfen, anstatt ihr nachzugeben. Und vielleicht würde er irgendwann damit Erfolg haben.