Darius konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange sie gemeinsam auf der Parkbank gesessen, zarte Küsse ausgetauscht und einfach nur die Nähe des anderen genossen hatten.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und es war auch nicht wichtig.
Auch wenn sie direkt vom Park zur Arbeit gemusst hätten, weil sie die Zeit bis zum nächsten Morgen komplett vergaßen, es wäre Darius egal gewesen.
Die Wärme von Alfreds Körper umgab ihn schützend, doch noch viel eindringlicher erschien die heiße Glut in seinem Inneren, die mit jedem neuen Kuss mehr entfacht wurde.
Dass er trotz diesen Empfindungen dennoch irgendwann vor Kälte zitterte, bemerkte Darius erst, als Alfred ihn darauf ansprach.
„Dir muss wahnsinnig kalt sein“, wisperte er leise gegen seine Lippen und löste sich von ihm.
Noch einen einzigen Kuss gab er ihm, dann zog Alfred seine Jacke fester um Darius‘ Schultern. Tatsächlich war es zugegeben nicht der gemütlichste Ort bei diesen Temperaturen, doch eigentlich hatte Darius beim besten Willen nicht vorgehabt, diesen Platz zu verlassen.
Auch Alfreds Hände fühlten sich mittlerweile kühl an, als er noch einmal sanft über seine Wange streichelte.
„Wir sollten wirklich zusehen, dass wir so langsam doch einmal ein warmes Plätzchen finden“, flüsterte er und küsste Darius‘ Nasenspitze.
Darius lächelte sanft, als er wieder seine Hand nahm und mit hochrotem Kopf fuhr er sich mit der freien Hand durchs Haar, um zumindest zu versuchen, seinen Scheitel wieder ansehnlich zu gestalten.
„Möchtest du denn noch ins Café?“, fragte Darius und sah auf die Uhr, „Ich wage zu behaupten, dass es in Anbetracht der Uhrzeit womöglich sogar sinnvoller wäre, nach Hause zu gehen.“
Alfred sah ihn wie vom Donner gerührt an.
Auch wenn Darius sich beinahe geschmeichelt fühlte, dass Alfred fast enttäuscht darüber wirkte, konnte er nicht lange ertragen, wie zerknirscht er ihn nun ansah, während er scheinbar nach Worten rang.
„Also- wenn du nach Hause möchtest- ich meine, ich-“, versuchte Alfred wohl etwas vorzuschlagen, was Darius ohnehin schon auf der Zunge lag.
„Wenn du nichts dagegen hast“, begann er sanft und zwinkerte Alfred zu, „Bei diesem Wetter hätte ich womöglich doch gern meine Jacke zurück!“
Alfred lachte kurz auf, „Deine Jacke? Nun-“
Er kratzte sich verlegen am Kinn, „Ich glaube, meinen Vater um diese Uhrzeit zu besuchen wäre keine gute Idee – ich wollte deine Jacke zur Arbeit mitbringen, habe sie aber dort vergessen.“
„Nicht doch“, Darius schnaufte amüsiert, „Es geht nicht um die Jacke.“
Alfred sah ihn fragend an.
Darius lachte leise, „Ich wollte damit vorschlagen, dass wir auch zu dir nach Hause könnten. Aber wenn es dir lieber wäre, könnten wir auch zu mir gehen?“
Nun strahlte Alfred über das ganze Gesicht.
„Und ich dachte- ich meine, das mit der Jacke tut mir leid, aber-“, er stockte kurz, fasste Darius dann aber wieder sanft am Arm, „Ich würde mich freuen, noch etwas Zeit mit dir zu verbringen.“
„Wie du möchtest“, meinte Darius schmunzelnd und zwinkerte Alfred zu, während er sich schweren Herzens von ihm löste und sich von der Bank erhob, „Der Weg dürfte ohnehin zum Großteil derselbe sein, vor allem wenn wir uns nicht entschließen, zu Fuß zu gehen.“
Alfred musste lachen, während er ebenfalls aufstand, „Von der Kälte abgesehen wäre das doch vielleicht ein bisschen zu viel der Zumutung für dein Bein.“
„Zur Haltestelle werde ich es gerade noch schaffen“, Darius grinste, dann konnte er ein leises Seufzen nicht unterdrücken, als er noch einmal die Arme um Alfred legte und sich an ihn schmiegte.
Kurz herrschte Stille, in der Alfred nur schweigsam seinen Rücken streichelte.
Es fühlte sich beinahe wie ein kleiner Abschied an, auch wenn sie ohnehin fast täglich die Gesellschaft des anderen teilten – davon abgesehen, dass die Nacht noch nicht einmal zu Ende war, bedeutete der Weg zur Bahn aber doch, den Schutz der zweisamen Dunkelheit des Parks zu verlassen.
Und somit ein Abschied von den vertraulichen Zärtlichkeiten, von denen er eigentlich noch gar nicht genug bekommen hatte.
Dann wagte Darius es schließlich, zumindest zu versuchen, das auszusprechen, was ihm gerade zentnerschwer auf der Seele lastete, „Du stimmst mir sicherlich zu, wenn ich vorschlage, dass wir nicht- ich meine, dass wir-“
Alfred sah ihn an, als wisse er ganz genau, worauf Darius hinauswollte.
Dennoch sagte kurze Zeit keiner von beiden ein Wort.
„Ich würde dir eventuell zustimmen, wenn ich wüsste, was genau du meinst“, sagte Alfred leise und wirkte noch um einiger verunsicherter als zuvor.
Darius musste schlucken und rang nach Worten.
Alfred sah mit einem Mal fast aus, als würde er leiden.
„Bevor es ein weiteres Missverständnis gibt-“, begann er dann und streichelte sanft über Darius‘ Wange, der sich mehr und mehr schuldig fühlte, Alfred nun verunsichert zu haben.
„Ich- bin mir nicht sicher, ob ich zustimmen würde, diesen Abend einfach wieder zu vergessen“, flüsterte Alfred erstickt, „Aber wenn du davon sprichst, dass vielleicht nicht jeder sofort davon wissen sollte, dann- dann denke ich, dass ich dir recht gebe.“
Darius zog ihn wieder näher zu sich, schmiegte seine Wange an Alfreds Schulter und schloss für einen Moment die Augen.
„Keine Sorge“, sagte er leise und hoffte inständig, dass Alfred seine Worte nicht falsch auffassen würde, „Ich bereue keine einzige Sekunde von diesem Abend. Ich wollte damit lediglich vorschlagen, dass wir es vielleicht langsam angehen lassen sollten.“
Alfred strich sanft durch sein Haar und hauchte einen Kuss darauf.
„Was immer du möchtest“, sagte er und es versetzte Darius einen Stich, der schmerzhafter war, als er sich eben diese Reaktion vorgestellt hatte.
Er hatte ja vermutet, dass Alfred eine andere Herangehensweise an den Tag legte als er gewohnt war. Doch dass er ihm nun klar machte, wie er seine eigenen Bedürfnisse für ihn zurückstellen würde, ließ Darius sofort befürchten, diese Gegebenheit womöglich irgendwann ausnutzen zu können.
Und so gut er wusste, wie wenig Skrupel er dahingehend in der Vergangenheit wohl selbst bewiesen hatte – bei Alfred wollte er das nicht.
„Wir sollten nach Hause gehen“, sagte Darius mit belegter Stimme.
Alfred löste sich wohl schweren Herzens von ihm, nahm aber wieder seine Hand zu sich und hauchte einen weiteren Kuss darauf.
„Ja, das sollten wir“, flüsterte er.
Darius lächelte schwach, „Vielleicht wäre es sogar angebracht, wenn jeder von uns zu sich selbst nach Hause gehen würde.“
Alfred schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft, als müsse er sich davon abhalten, sofort zu widersprechen.
Als er sie wieder öffnete, wirkte er betrübt, nickte aber verständnisvoll.
„Ich verstehe“, Alfreds Stimme war kaum mehr als ein leises Hauchen, „Das wäre vermutlich durchaus angebracht.“
Und Darius verfluchte sich im Stillen, die zuvor noch von so viel Zärtlichkeit geprägte Stimmung komplett zerstört zu haben.
Es war, als kämen sie in eben diesem Moment nach einem zauberhaften Rendezvous wieder in der Realität an, in der kein Platz für diese Träumereien war.
Schweigend setzten sie sich in Bewegung und als die Lichter der Straßen immer heller wurden, trennte sich die sanfte Berührung ihrer Hände schon beim Nahen des ersten Passanten.
Alfred warf ihm ein entschuldigendes, unsicheres Lächeln zu, das Darius kaum erwidern konnte, so sehr wie er sich in seinen Zweifeln verlor.
Auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass die ganze Sache mit Alfred mehr sein würde als gemeinsame Verabredungen zum Frühstück und heimliche Treffen im Park, so war es doch sicherlich töricht zu glauben, dass es funktionieren würde. So sehr sie wohl auch dasselbe wollten, es war kaum von Belang.
Nicht in der beruflichen Situation, in der sie sich befanden – und schon gar nicht in einem Umfeld, in dem ihnen sicherlich nicht viele Menschen wohlgesonnen wären.
Womöglich wäre es etwas anderes, wenn sie Mann und Frau wären und eigentlich sollte das vielleicht in der heutigen Zeit keine so große Rolle spielen, wie es aber dennoch tun würde.
Dass nicht jeder so viel Verständnis hatte wie Theresa, war Darius durchaus bewusst, dennoch hatte er sich selbst schon so oft vorgenommen, nichts auf die Meinung der anderen zu geben.
Eigentlich würde er sich auch niemals in einer direkten Entscheidung für die Karriere und gegen die Liebe entscheiden, doch wenn er die Wahl haben würde, beides unter einen Hut zu bekommen, würde er dies bevorzugen.
Die Erfahrung hatte jedoch gezeigt, dass mindestens eine Sache unter einem solchen Kompromiss leiden musste – und in einem schleichenden Prozess wäre am Ende sicherlich doch seine ehrgeizige Seite stärker als die romantische.
Einem Menschen wie Alfred wollte er das nicht zumuten.
Und eigentlich hätte er sich das alles früher überlegen sollen, bevor er seinen Gefühlen nachgab und ihm Hoffnungen machte.
An der Haltestelle angekommen, warf Darius einen Blick auf die Abfahrtszeiten und entschloss sich dazu, für die Wartezeit noch auf der Bank dort Platz zu nehmen. Die Schmerztabletten begannen, ihre Wirkung zu verlieren und auch wenn es bislang nicht mehr als ein dumpfes Pochen war, bemerkte er doch, dass er sich mit dem Spaziergang vielleicht verausgabt hatte.
Alfred blieb neben ihm stehen und sah sich um, als würde er nach irgendetwas Ausschau halten. Wohl wartete er auf einen unbeobachteten Moment, denn er streichelte ihm sanft über den Rücken.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er leise.
Darius sah zu ihm auf und rang sich ein schiefes Lächeln ab.
„Selbstverständlich“, meinte er mit brüchiger Stimme.
Alfred hob eine Augenbraue, „Selbstverständlich?“
Darius zuckte mit den Schultern.
„Das klingt für mich eher nach ‚selbstverständlich nicht‘, wenn ich ehrlich bin“, sagte Alfred besorgt und setzte sich nun doch neben ihn.
Mit einem Seufzen wich Darius seinem fragenden Blick aus, doch Alfred schien sich mittlerweile nicht mehr so einfach abwimmeln zu lassen.
„Was ist los?“, fragte er sanft, dann fügte er sehr viel leiser noch hinzu, „Wenn du Zweifel hast- wenn du denkst, dass es besser wäre, wir würden nicht-“
In diesem Moment fuhr die Bahn heran und beide standen hastig auf, um einzusteigen und sich den nächstbesten Sitzplatz zu suchen. Um diese Uhrzeit waren einige Plätze frei, doch ganz automatisch setzten sie sich nebeneinander, ehe Darius sich besann, dass er auch nach gegenüber wechseln konnte.
Alfred sah ein bisschen unglücklich darüber aus, sagte aber nichts.
Einige Haltestellen versuchte Darius, seinem besorgten Blick auszuweichen, bis er sich schließlich vorsichtig wieder zu Wort meldete.
„Wenn du möchtest- also wenn du nichts dagegen hast, du könntest wirklich noch- deine Jacke- also, ich wollte nur sagen-“
Darius holte Luft, aber Alfred schüttelte fast energisch den Kopf und er bemerkte zu spät, dass dies gar nicht ihm galt.
„Manchmal glaube ich wirklich, ich bin unfähig, einen kompletten Satz zu formulieren“, meinte Alfred nämlich und machte deutlich, dass er für sich selbst gerade nur ein Kopfschütteln übrig hatte.
Darius sah mit feuchten Augen aus dem Fenster.
Alfred tat ihm wahnsinnig leid. Er hatte nicht verdient, nach diesem wunderschönen Abend nun aus heiterem Himmel so abweisend behandelt zu werden.
Des Gedankenlesens war er sicherlich nicht mächtig und eigentlich war Darius ihm zumindest eine Erklärung schuldig.
Allerdings bekam er gerade wirklich kein Wort heraus.
Die verbliebene Energie nutzte er, um nicht wie ein kompletter Idiot einfach in Tränen auszubrechen, weil sein Herz und sein Kopf sich wieder einmal stritten.
Wieder einige Haltestellen später regte sich Alfred jedoch und Darius spürte wieder die wohlige Wärme, die er ausstrahlte, als er sich ungefragt neben ihn setzte und unauffällig über seinen Arm strich.
„Ein Königreich für deine Gedanken“, murmelte er schmunzelnd und wirkte gleichermaßen verunsichert wie auch entschlossen, „Ich möchte mir nicht anmaßen, zu behaupten, dass ich mir bewusst wäre oder irgendwie einschätzen könnte, wie kompliziert die Situation an sich wäre, aber-“
Nachdem er begonnen hatte, machte Alfred nun eine kleine Pause, in der Darius es tatsächlich schaffte ihn anzusehen.
„Von der Arbeit einmal ganz abgesehen“, fuhr Alfred fort, „Ich würde sehr gern- ich meine, wir könnten-“
Er brach wieder ab, als würde es ihm einerseits Probleme bereiten, anderseits aber auch so wichtig sein, dass er nicht einfach verwerfen konnte, was er sagen wollte. Alfred holte tief Luft und sah schließlich fest in Darius‘ Augen.
„Ich möchte dich wiedersehen“, sagte er ernst, „Dich. Als Person, nicht als den Dirigenten des Orchesters, in dem ich spiele. Unabhängig von der Arbeit möchte ich mich mit dir als Menschen wieder treffen.“
Darius‘ Herz spielte vollkommen verrückt.
Einige Momente starrte er Alfred einfach nur an und auch wenn dieser ob dieser Befremdlichkeit eher etwas verunsichert und immer noch besorgt wirkte, sah Darius in ihm gerade so viel mehr als sein gütiges Lächeln, seine warmen Augen und die vergangenen Tage zusammen.
Er sah nicht, was gewesen war oder was Alfred für ihn gerade darstellte.
Auch wenn Darius es mit Gedanken gar nicht fassen konnte, sehnte sich doch emotional alles in ihm nach dem, was irgendwann einmal sein könnte.
Es war, als würde er in diesem Moment alles sehen, was die Zukunft zumindest in seinem Wunschdenken für sie bereithalten könnte.
Und wie ernst es war, bemerkte Darius erst als die Stimme der Bandansage der Straßenbahn ihn wissen ließ, dass es nun zu spät für große Worte war.
Nach einem hastigen Blick über seine Schulter war ihm plötzlich sehr egal, was die teilnahmslosen Gesichter der wenigen anderen Personen ohne Namen darüber denken würden oder welche Meinung sie dazu hatten.
Darius lehnte sich zu Alfred und küsste ihn wieder.
„Wir sehen uns morgen“, hauchte er dann atemlos mit einem kleinen Lächeln.
Alfred wirkte kurz perplex, lächelte dann aber herzlich und nickte schnell.
Während die Bahn schon langsamer wurde, stand er hastig auf und drückte noch einen kurzen Kuss auf Darius‘ Stirn.
„Schlaf schön“, meinte er zärtlich, „Wenn noch etwas ist- zuhause bin ich ja telefonisch erreichbar! Du kannst jederzeit anrufen. Aber natürlich, wir sehen uns ja sowieso- also ähm, ja. Ich wünsche dir süße Träume. Bis morgen!“
„Bis morgen“, Darius schmunzelte sanft, „Gute Nacht, Alfred.“
Alfred hob noch immer lächelnd die Hand zum Gruß und Darius sah noch lange zur Tür, als er längst ausgestiegen war.
Erst kurz vor seiner eigenen Haltestelle, besann er sich darauf, dass er sich ebenfalls in Bewegung setzen sollte und in der spiegelnden Oberfläche der Fenster erhaschte er noch einen Blick auf sich selbst.
Davon abgesehen, dass sein Haar komplett zerzaust aussah und noch immer ein Rotschimmer auf seinen Wangen lag, fiel ihm dabei aber vor allem ein anderes Detail an seinem Erscheinungsbild sofort ins Auge.
Er trug immer noch Alfreds Jacke.