Darius fand keine Ruhe.
Nachdem Alfred in der Bahn so plötzlich aufgestanden war und fast fluchtartig an der nächstbesten Haltestelle ausgestiegen war, suchte er nun händeringend nach irgendeiner Erklärung dafür – und dabei am besten noch eine, die sich eben nicht so anfühlte, als hätte er doch im letzten Moment noch kalte Füße bekommen.
Es war mittlerweile fast Mitternacht und er hatte weder musikalisch etwas zustande gebracht, noch fühlte er sich in der Lage, jetzt zu schlafen.
Er saß einfach nur nutzlos kaffeetrinkend am Klavier und starrte auf die Tasten.
Irgendwann hatte er noch in der Wohnung alles auf Vordermann gebracht, aber da er kaum dort lebte, gab es auch nicht allzu viel für ihn zu tun.
Nach dem Staubwischen, Fegen und Wischen aller Räumlichkeiten, einer gründlichen Reinigung des Badezimmers und der sachgemäßen Pflege seiner Musikinstrumente kam es ihm allerdings fast schon idiotisch vor, nun mitten in der Nacht seine Fenster zu putzen.
Die gewaschene Wäsche hatte er längst aufgehangen, vielleicht konnte er noch die leeren Küchenschränke sinnlos auswischen, aber zumindest für einen anschließenden Abwasch bräuchte er wohl schmutziges Geschirr – außer der Kaffeetasse, die er jedes Mal nach dem Gebrauch abspülte, hatte er nichts benutzt.
Obwohl Darius sich ablenkte, halfen all diese Tätigkeiten wenig gegen die immer wieder um Alfred Wunderlich kreisenden Gedanken.
Oft hatte er sich dazu durchgerungen, nun endlich wenigstens ein bisschen für sich zu spielen, wenn er schon wieder eine kreative Blockade hatte und nichts zustande brachte.
Aber wann immer seine Finger voll guter Vorsätze die Tasten berührten, fühlte er sich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Ton zu spielen.
Die Stille hing so schwer über allem und doch schaffte er es nicht, sie zu durchbrechen. Nicht einmal sein Telefon klingelte.
In Ermangelung einer besseren Alternative hatte Darius noch einige Zeit damit verbracht, das Smartphone, das er für Alfred besorgt hatte, wenigstens schon einmal ordnungsgemäß einzurichten.
Ein bisschen verlor er sich darin, nach der Inbetriebnahme und wichtigen Updates auch noch nach verschiedenen Apps zu suchen, die Alfred möglicherweise benötigen könnte, sowie alles zu löschen, was ihn wohl eher verwirren würde und er sowieso nicht brauchte.
Gerade bei diesen Versuchen, sich in den Kopf von Alfred Wunderlich hineinzudenken, fiel Darius wieder einmal auf, wie wenig er eigentlich von ihm wusste.
Falls Alfred das Handy jemals benutzen würde, hätten sie nun allerdings zumindest schon einen Teil der Arbeitsschritte hinter sich.
Darius speicherte vorsichtshalber noch seine eigene Rufnummer unter dem Namen „D. Ottesen“ ins Kontaktverzeichnis.
Danach fiel ihm nichts mehr ein, was Alfred noch brauchen würde, was er nicht sowieso längst im Kopf haben musste, wenn er all die Zeit ohne Mobiltelefon zurechtgekommen war.
Die restlichen Nummern konnten sie ja zusammen eintragen, dann wusste Alfred auch gleich, wie das funktionierte.
Falls er das Ding überhaupt wollte.
Falls sie in der nahen Zukunft überhaupt noch eine Gelegenheit haben würden, zu zweit allein zu sein.
Es war wahrscheinlich, dass sie sich erst wieder sahen, wenn das restliche Orchester fast eine ganze Woche lang rund um die Uhr dabei sein würde. Davon abgesehen, dass sie sowieso zu tun haben würden, wäre es um die Privatsphäre dahin.
Alfred hatte gesagt, er würde morgen anrufen.
Dass er das auch wirklich tun würde, konnte Darius nur hoffen.
Ein zuverlässiger Mensch war Alfred wohl in jedem Fall, doch nach den jüngsten Ereignissen lagen so viele unbekannte Variablen zwischen ihnen, die er nicht einschätzen konnte.
Wenn er so dringend hatte zu seinem Vater müssen, vielleicht wäre er da noch etwas länger beschäftigt. Wenn sein Vater allerdings nur an plötzlicher Priorität gewonnen hätte, weil Alfred sich noch aus der Affäre hatte ziehen wollen, würde der Anruf womöglich gar nicht viel nützen.
Vielleicht würde er lediglich anrufen, um sich zu entschuldigen.
Vielleicht würde er auch anrufen, um sich zu erklären oder zu rechtfertigen.
Darius brauchte keine Rechtfertigung. Er verlangte nicht einmal eine Erklärung und erwartete keine Entschuldigung.
Einzig und allein hoffte er doch irgendwie noch, dass Alfred anrufen würde, um sich wenigstens für den morgigen Tag mit ihm zu verabreden.
Aber ob er nun darüber nachdachte oder nicht, es änderte nichts.
Darius hatte keine andere Wahl, als bis zum nächsten Tag zu warten, um in Erfahrung zu bringen, wie es nun weitergehen würde.
Lange Zeit starrte er noch auf das Telefon für Alfred und gab sich dennoch trübseligen Gedanken hin. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich lösen konnte, alles wieder zusammenpackte und aufstand, um die benutzten Alltagsgegenstände wieder an ihren Platz zu räumen.
Gerade hatte er beschlossen, dass es vielleicht doch besser wäre, endlich zu Bett zu gehen, da klingelte es an der Tür.
Wer um alles in der Welt-
Sein Blick huschte zur Uhr.
Es war wahnsinnig spät. Kein normaler Mensch würde um diese Uhrzeit bei einem anderen Menschen klingeln, wenn er nicht sicher wusste, dass derjenige aus welchen Gründen auch immer noch wach war.
Sämtliche Jalousien waren geschlossen. Dass Licht brannte, konnte von draußen nun wirklich niemand erkennen.
Und dennoch klingelte es ein weiteres Mal.
Das durchdringende Geräusch ließ ihn brutal zusammenfahren und mit panischem Herzklopfen packte er sein Telefon und schlich auf leisen Sohlen zur Tür.
Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, Kristian seinen Wohnort zu verraten? War ihm auch nur eine Sekunde bewusst gewesen, dass er dadurch nun jederzeit bei ihm aufkreuzen konnte?
Hätte er sich bei ihm gemeldet, vielleicht wäre die Sache doch noch ins Reine gekommen. Womöglich hätte er nun die freien Tage vor der Fahrt noch nutzen können, um nach Paris zu fliegen und Monsieur Chevalier zu treffen.
Am Ende hätte er sich gar darauf eingelassen, ohne eine weitere gemeinsame Nacht von ihm zu verlangen.
Aber nein, Darius hatte ja auf stur schalten müssen.
Hatte alles verdrängt, weil er gedacht hatte, das Problem würde sich von allein lösen – das hatte es nicht getan. Womöglich fingen die noch viel problematischeren Konsequenzen jetzt gerade erst an und während er nicht wusste, was er tun sollte, klingelte es schon ein drittes Mal.
Er musste nicht öffnen.
Er könnte einfach weiterhin gedankenverloren am Klavier sitzen, nicht arbeiten, nicht schlafen, und die Türklingel ignorieren.
Kristian würde sich nicht die Mühe machen, bei ihm einzubrechen.
Aber warum hatte Darius überhaupt diese Angst?
Diese tief sitzende Furcht, die gerade so sehr von ihm Besitz ergriffen hatte, dass er nicht einmal auf das Knöpfchen drücken konnte, mit dem sich die Haustür unten automatisch öffnen würde, sodass er allein die Treppen nach oben kommen konnte. Sein Herz raste.
Ihm wurde schlecht und alles drehte sich.
Verdammt nochmal, es war doch bloß Kristian.
Ein Mann von Namen und gutem Ruf, mittlerweile sogar Intendant der Pariser Oper und vielleicht der Mensch auf der Welt, der Darius in- und auswendig kannte.
Er war kein Monster, das ihn zerfleischen würde – gottverdammt, er war lediglich sein Exfreund, es ging keinerlei Bedrohung von ihm aus! Das alles spielte sich doch bloß in seinem chronisch gestressten Hirn ab.
Er hatte nichts zu befürchten, wenn er einfach zur Tür gehen und ihm sagen würde, dass er weder Zeit für ihn noch Interesse an ihm hatte.
Und doch lähmte diese Angst ihn endgültig.
So viele Szenen aus der Vergangenheit spielten sich vor seinem inneren Auge ab. Unzählige Bilder sah er dabei, unendlich viele, in erster Linie wahnsinnig bedrückende Gefühle kamen in ihm hoch.
Erst als es wieder klingelte, schlug Darius fast verzweifelt auf den Knopf.
Mit einem leisen Summen öffnete sich unten die Haustür.
Seine Hand lag auf dem Griff der Wohnungstür. Noch hatte er die Wahl, egal wie albern es auch wirken würde, wenn er ihn ins Haus, aber nicht in die Wohnung lassen würde.
Er konnte Schritte auf den Treppenstufen hören.
Bedrohlich knarzte das Holz unter den fast schon schwerfälligen Schritten.
Dann wieder Stille- und ein zaghaftes Klopfen.
Es hatte doch alles keinen Sinn, er musste nun öffnen. Die Entscheidung war längst gefallen. Er würde öffnen. Jetzt gleich. Sofort.
Darius nahm noch einen tiefen Atemzug, dann öffnete er die Tür.
Noch in seiner Bewegung erstarrte er.
Er stand einfach nur da und starrte schockiert auf die durchnässte Gestalt mit der fast lächerlich großen Plastiktüte im Türrahmen, die ganz außer Atem seinen Fußabtreter mit Regenwasser volltropfte.
Vor ihm stand nicht Kristian.
Es war-
„Alfred?“, fragte Darius verwirrt.
Der Angesprochene lächelte schief und nickte etwas verlegen.
Darius war einige Momente lang einfach nur sprachlos.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, fragte er dann, als er endlich seine Stimme wiederfand, „Geht es dir gut?“
Alfred zuckte nur etwas unbeholfen mit den Schultern.
Darius konnte es einfach nicht fassen.
„Ich- ich wollte-“, Alfred räusperte sich, „Es tut mir leid.“
Entgeistert beobachtete Darius, wie Alfred noch mitten auf der Türschwelle in die Plastiktüte griff und daraus etwas zog, das aussah wie-
Nein. Es sah nicht nur so aus, es war genau das, was er vermutete.
Ein Blumenstrauß. Ein sehr hübscher sogar, um diese Uhrzeit gekauft musste er ein halbes Monatsgehalt wert sein – gebunden aus weißen Rosen und Lavendel.
„Meine Güte, Alfred“, entfuhr es Darius und noch während er den Strauß in Empfang nahm, den ihm Alfred mit einem schüchternen Lächeln überreichte, winkte er ihn auch schon mit sich in die Wohnung, „Warum- du bist doch komplett- Mensch, komm erst mal rein!“
Als er die Tür hinter ihnen beiden schloss, hielt er doch kurz inne, um den Blumenstrauß genauer zu betrachten.
Wann hatte er zuletzt Blumen bekommen?
Nicht, dass Darius an und für sich besonderen Wert darauf legte, solche doch recht eindeutig konnotierten Geschenke zu erhalten – aber irgendetwas sagte ihm, dass Alfred Wunderlich nicht oft und auch nicht bei zahlreichen Menschen mitten in der Nacht mit Blumen vor der Tür stand.
„Du bist verrückt“, murmelte er leise, vielleicht sogar zum Teil mehr zu sich selbst, wenn er es recht bedachte.
Dann aber wandte er sich zu Alfred, der immer noch wie ein begossener Pudel und eindeutig voller Unsicherheit neben seiner Tür stand und wohl nicht so recht wusste, wohin mit sich.
„Ich musste dich wiedersehen-“, begann er leise.
Ungeachtet der Tatsache, dass er natürlich keine Jacke anhatte und von oben bis unten pitschnass vom Regen war, schloss Darius ihn fest in seine Arme und hielt ihn lange Zeit einfach nur an sich gedrückt.
„Ich wollte mich entschuldigen“, nuschelte Alfred.
Darius schüttelte sanft den Kopf und zog ihn nur noch näher.
„Ich habe dich wirklich nicht so einfach sitzen lassen wollen“, fuhr Alfred jedoch unbeirrt und noch leiser als zuvor fort.
Darius legte einen Finger auf seine Lippen.
Alfred sah ihn an. Darius sah Alfred an.
In seinen Augen konnte er erkennen, dass es ihm ehrlich leid tat, ihn zuvor in diese seltsame Situation gebracht zu haben. Aber das war nicht wichtig.
Viel relevanter war alles andere, was in seinem Blick zu liegen schien.
Eine gewisse melancholische Verträumtheit, die seine Seele so endlos wirken ließ. Das lebendige Leuchten in seinen warmen Augen, das ihm sagte, dass er einfach nur froh war, ihn zu sehen und bei ihm zu sein.
Und das eigentlich niemals gegebene Versprechen, das Darius dennoch so sicher sein ließ, dass er immer gut zu ihm sein würde.
Wie hatte er ihm misstrauen können?
Was fiel ihm überhaupt ein, Alfreds Gründe für sein Handeln zu hinterfragen?
Vielleicht war das Timing denkbar schlecht gewesen, doch Blut war schon immer dicker als Wasser gewesen und nur weil er noch dringend etwas mit seinem Vater hatte klären müssen, änderte dies nichts zwischen ihnen.
Er hatte ihn nicht abgeschrieben, er hatte das Treffen lediglich verschoben.
Darius zog ihn fester an sich, als er bemerkte, dass Alfred zitterte.
Eigentlich sollten sie zusehen, dass er schleunigst aus den nassen Klamotten kam, sich abtrocknete und wieder ein wenig aufwärmte.
Doch so wie Alfred sich an ihn drängte und sich an ihm festhielt, war das wichtigste in diesem Moment die Nähe zueinander.
Diese Nähe war gerade das Einzige, was zählte.
„Ich wollte dich wirklich nicht enttäuschen“, hauchte Alfred in sein Ohr, „Und jetzt wollte ich einfach nur bei dir sein.“
Darius küsste seine Wange. Alfred entkam ein seliges Seufzen und er schloss die Augen, während er sich nur ein bisschen reckte, um seine Stirn an die von Darius zu lehnen.
Einige Momente genossen sie wohl beide, dass sie einander wieder hatten.
Mit sanften Fingerspitzen streichelte Darius durch die nassen Locken, dann hob er das Kinn, um Alfreds Stirn zu küssen und löste sich langsam.
„Ich hole dir schnell ein Handtuch“, meinte er schmunzelnd, dann fügte er noch mit einem Augenzwinkern hinzu, „Und stelle die Blumen in die Vase – falls ich irgendwo noch eine finden sollte. Für gewöhnlich- ich meine, ich habe nicht damit gerechnet, dass irgendjemand-“
Darius musste lachen und schüttelte den Kopf über sich selbst.
Ihm fiel auf, dass er sich vielleicht doch beeilen sollte.
Immerhin schlotterte Alfred mittlerweile am ganzen Körper und kurz vor der langen Konzertreise wäre eine Erkältung doch eher suboptimal.
„Was ich eigentlich sagen wollte-“, er ging zurück zu Alfred und hauchte einen Kuss auf seine Wange, „Danke.“