Währenddessen schlief Alfred Wunderlich noch tief und fest.
Er ahnte weder etwas von seinem Pech, dass sein Wecker nicht geklingelt hatte, noch etwas von seinem Glück, dass an der Haltestelle zwei wohlbekannte Menschen in einem schicken Cabrio auf ihn warteten.
Sie hätten verhindern können, dass er zu spät zur Arbeit kam, wenn er nun aufwachen und sich beeilen würde, aber auch davon ahnte er nichts in seinem wohligen Schlummer. Er seufzte einfach nur selig im Schlaf der Gerechten und drehte sich noch einmal auf die andere Seite.
Immerhin hatte er mitnichten gestern vergessen, sich den Wecker zu stellen.
Der würde allerdings erst in einer Stunde klingeln, denn noch am Tag zuvor hatte Direktor Berentz die Probe auf den Nachmittag verschoben. Dass der Dirigent des Orchester dies ebenfalls wusste, davon war Alfred ausgegangen.
Er hatte sicherlich bis nach Mitternacht noch ferngesehen, um diesen Umstand noch als zusätzliche Erholung nach den letzten Tagen zu gebrauchen.
Als jedoch das Telefon klingelte und ihn abrupt aus Morpheus‘ Armen riss, schreckte er hoch, stöhnte leidend auf und stolperte murrend ins Wohnzimmer, wo der Apparat auf dem Regal stand. Natürlich kam er erst an, als es schon wieder aufgehört hatte zu klingeln und Alfred seufzte schläfrig, während er sich gähnend erst einmal die Augen rieb.
Er war schon wieder auf dem Weg ins Bett, als das Telefon erneut klingelte und er diesmal rechtzeitig den Hörer abnehmen konnte.
„Mhm?“, fragte er unmotiviert in seinem nurmehr halb wachen Zustand.
„Alfred?“, hörte er die fast panische Stimme von Darius Ottesen und zwang sich dazu, die Augen offen zu halten.
„Ja, am Apparat“, nuschelte er mit einem seligen Lächeln, „Einen wunderschönen guten Morgen!“
Darius schnaufte kurz, klang allerdings fast schon gestresst.
„Hast du verschlafen?“, fragte er und mit einem Schlag war Alfred hellwach.
Ein hektischer Blick auf die Uhr verriet ihm jedoch, dass er eben dies gar nicht hatte und so war er doch recht verwirrt.
„Nicht dass ich wüsste“, begann er, ehe er zögerlich eine ganz vorsichtige Frage stellte, „Es sei denn, ich habe vierundzwanzig Stunden länger geschlafen als beabsichtigt. Welches Datum haben wir heute?“
Darius schnaufte wieder, nun klang es beinahe amüsiert.
„Die Bahn ist gerade weggefahren. Unsere Bahn, mit der wir immer zur Arbeit fahren“, sagte er jedoch und Alfred zweifelte an allem, was er dachte zu wissen.
„Fangen wir heute etwa doch nicht später an?“, fragte er unsicher.
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
„Fangen wir heute etwa später an?“, fragte Darius dann vorsichtig.
Alfred konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
„Vierzehn Uhr“, nuschelte er noch, „Hat Berentz dich etwa auf eine andere Zeit bestellt als uns? Das wäre äußerst sinnlos, wenn du mich fragst.“
Verwirrt hörte er kurz Getuschel auf der anderen Seite und vergewisserte sich mit einem Blick aus dem Fenster noch, dass seine Uhr nicht stehen geblieben war.
„Darius?“, fragte er dann, „Bist du noch dran?“
Alfred konnte schwören, dass er neben Geraschel und Getuschel noch kurz die Stimme von Theresa Berentz hörte, was ihn zugegeben doch noch um einiges mehr verwirrte, dann aber konnte er wieder Darius vernehmen.
„J-ja, natürlich“, sagte dieser, „Das ist mir nun wirklich peinlich, entschuldige bitte. Das muss mir vollkommen entfallen sein. Es tut mir leid, dass ich dich umsonst geweckt habe.“
Alfred schnaufte erleichtert durch, dann musste er lachen.
„Hast du etwa die Bahn genommen?“, vermutete er belustigt.
„Nein“, sagte Darius schnell, „Um vollkommen ehrlich zu sein, stehe ich gerade nicht an meiner, sondern an deiner Haltestelle und warte auf dich.“
Alfred musste sich das Lachen verkneifen, weil er doch etwas peinlich berührt klang und er sich absolut keinen Reim aus der ganzen Sache machen konnte, aber noch viel zu müde zum nachdenklichen Grübeln war. Als Darius dann jedoch selbst lachen musste, war es um die Selbstbeherrschung dahin. Es war einfach zu kurios, aber durchaus angenehm.
„Wolltest du mir denn heute gar keinen Platz besetzen?“, scherzte er.
„Eigentlich wollte ich dich mit dem Auto einsammeln“, sagte Darius lachend und Alfred überlegte kurz, ob er sich richtig entsann, dass Darius noch vor ein paar Tagen gesagt hatte, dass er gar kein Auto besaß.
„Du hast dir ein Auto gekauft?“, fragte er ungläubig, aber doch vorsichtig, um nicht in irgendein Fettnäpfchen zu treten, wenn er sich doch falsch erinnerte.
Darius musste lediglich noch einmal lachen.
„Nein, nein“, sagte er schnell, „Theresa hat mich abgeholt und ich dachte, wenn wir doch einen ähnlichen Weg haben, kann ich mich für die Mitfahrgelegenheit kürzlich revanchieren!“
Alfred wunderte sich im Stillen, aber Darius sprach schon weiter.
„Immerhin wäre es doch sehr schade gewesen, so dachte ich zumindest, würden wir die Tradition des Bahnfahrens zu einer solchen Gelegenheit nicht einmal durch eine kleine Ausnahme in der Regel pflegen“, meinte er, „Nun hatte ich für einen Moment noch angenommen, ich würde dir die Haut retten, dass du nicht zu spät kommst. Allerdings hast du mich nun eher davor bewahrt, zu früh zu erscheinen!“
Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ Alfred sich auf den Stuhl sinken, den er für längere Gespräche neben dem Telefon platziert hatte. Er war eindeutig zu müde, um so lange zu stehen, aber deswegen dieses Gespräch frühzeitig beenden wollte er um keinen Preis.
„Ich möchte Frau Berentz‘ Großzügigkeit zwar nicht mit Füßen treten, aber in diesem Fall wäre es wohl auch äußerst unangebracht, sie noch länger aufzuhalten, wenn ich im Gegensatz zu ihr noch gar nicht los muss. Allerdings-“, er zögerte kurz, aber Darius schien interessiert zu lauschen, „Allerdings könnte ich zumindest dir anbieten, dass wir noch in Ruhe frühstücken, ehe wir zur Arbeit müssen. Dann stehst du zumindest nicht allein an meiner Haltestelle!“
Kurz wieder Stille, die nur durch unverständliches Getuschel unterbrochen wurde. Nun konnte Alfred diesen Umstand um einiges besser einschätzen, immerhin sprach Darius sich wohl gerade mit Theresa Berentz ab.
Dies wiederum ließ ihn hoffen, dass er das Angebot zumindest in Erwägung zog und Alfreds Herz klopfte aufgeregt bis zum Hals.
„Sehr gern“, sagte Darius nach einigen Momenten, „Ich kann gern hier auf dich warten, dann können wir spontan entscheiden, ob wir wieder zum Schwedenplatz fahren oder uns noch eine andere Lokalität einfällt!“
Alfred spürte, wie er rot anlief. Glücklicherweise konnte Darius dies am Telefon nicht sehen, trotzdem fühlte er sich ertappt.
„Nun-“, begann er zögerlich, „Ich bin eben erst aufgewacht, trage noch meinen Schlafanzug und würde daher eine ganz besondere Lokalität vorschlagen, von der ich dir gern die Adresse durchgebe, damit ich mich zuvor noch schnell in einen Menschen verwandeln kann?“
Darius schien einige Augenblicke entweder zu überlegen oder zu zögern.
„Bei dir zuhause?“, fragte er dann überrascht.
Alfred lachte kurz verlegen, „Ja, das war meine Idee. Aber ich kann dich auch schnell abholen, vielleicht kann Frau Berentz ja noch zehn Minuten warten?“
„Ach, Unsinn“, sagte Darius schnell und lachte leise, „Wir finden das schon. Du kannst dir in Ruhe Zeit lassen, dann gehen wir noch schnell zur Bäckerei und wenn du fertig bist, stehe ich mit frischen Brötchen vor deiner Tür!“
Alfred rieb sich hastig den Schlaf aus den Augen und fuhr sich durchs Haar.
„Ja?“, fragte er angenehm überrascht, „Gegenüber von der Haltestelle Richtung Park, ihr fahrt die Straße rein, dann rechts hoch und immer geradeaus, bis es dann links wieder reingehen würde, da aber auf der rechten Seite, dann seid ihr schon da! Die Nummer zweihundert achtundsiebzig sieben. “
Kurz herrschte betretenes Schweigen und Alfred schüttelte den Kopf über sich selbst. Was für eine wunderbar aufschlussreiche Wegbeschreibung, er war einfach noch nicht wirklich wach.
„Das habe ich mir natürlich exakt merken können!“, Darius lachte kurz, „Aber wie gesagt, wir finden das schon. Dann sehen wir uns gleich!“
Alfred schmunzelte, „Du hast ja dieses sehr moderne Telefon, zur Not meldest du dich einfach nochmal. Ich beeile mich, bis gleich!“
„Bis gleich“, sagte Darius nochmals und erst einige Minuten nachdem er aufgelegt hatte, sah Alfred sich dazu imstande, den Hörer in seiner Hand nicht mehr verträumt anzuschauen, sondern hastig auf die Gabel zu legen.
Manchmal hatte er eben doch noch Glück im Leben.
Den gesamten Sonntag über hatte er sich den Kopf zerbrochen, noch am Tag zuvor hatte er seine aktuelle Gefühlslage ausgerechnet Renate in einem fünfseitigen Brief anvertraut, den er wohl niemals abschicken würde. Doch scheinbar hatte er sich umsonst gesorgt – nicht nur um Darius‘ Zustand, sondern auch um diese ganze zutiefst verwirrende Sache zwischen ihnen, die er immer noch nicht richtig zuordnen konnte.
Egal wer dieser Mann gewesen war, mit dem Darius nach dem Konzert auf der Bank gesessen hatte, bevor er ohne eine Verabschiedung verschwunden war, es hatte scheinbar nichts an der Tatsache geändert, dass sie sich weiterhin zum Frühstück verabreden würden.
Der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich nicht damit zufrieden geben mochte.
Er sollte nicht alles weitere, was er sich da in seinem verwirrten Kopf zusammen gesponnen hatte, über diese zart keimende Freundschaft stellen. Solange Darius Ottesen mit ihm frühstückte, sollte es Alfred herzlich egal sein, mit welchen Frauen und Männern er sich ansonsten traf.
Immerhin schien er gern seine Gesellschaft zu teilen, auch ohne dabei eine Zigarette zu rauchen. Und das war angenehm genug, dass es reichen sollte.
Sich dabei mehr zu erhoffen oder gar zu erwarten, war nicht nur überaus anmaßend, sondern lag doch eigentlich auch gar nicht in Alfreds Sinn.
Eigentlich- oder? Nein. Doch. Egal!
Kopfschüttelnd erhob er sich vom Stuhl und eilte ins Badezimmer, um diese verwirrten Gedanken beim Haarewaschen abzuspülen, sich mit einer unbedachten Bewegung beim Rasieren gefühlt zentimetertief ins Kinn zu schneiden, laut zu fluchen und in all der Hektik dann noch fast über seine Hausschuhe zu stolpern, als er sich auf nur einem Fuß stehend mit dem anderen im Hosenbein verhedderte.
Weil es bis dahin weder an der Tür geläutet noch das Telefon geklingelt hatte, ging Alfred davon aus, dass er noch Zeit hatte. Trotzdem beeilte er sich, Kaffee zu kochen und den Tisch fürs Frühstück zu decken.
Erst als er in einem Anflug von Angst, ein schlechter Gastgeber zu sein, nicht nur den halben Inhalt des Kühlschranks, sondern auch alles Brauchbare aus sämtlichen Vorratsregalen auf der Tischplatte verteilt und schön angerichtet hatte, fiel ihm auf, dass er womöglich übertrieben hatte.
Davon abgesehen, dass vielleicht das gesamte Orchester von diesem Frühstück satt werden würde, hoffte Alfred sowieso inständig, dass Darius etwas mehr Appetit als beim letzten Mal mitbringen würde. Er stibitzte sich im Vorübergehen einen Traube von der fast lächerlich liebevoll gestalteten Käseplatte, stellte bewusst kein Zuckerdöschen neben das Milchkännchen und verwarf den albernen Gedanken, dass er eigentlich auch noch Pfannkuchen hätte backen können.
Als er zwei Servietten tadellos gefaltet, einen extra Teelöffel für jede Sorte Konfitüre geholt und die Buttermesser auf eventuelle Flecken hin überprüft und eilig noch poliert hatte, kam ihm langsam der Gedanke, dass er sich wohl umsonst einen solchen Stress gemacht hatte und noch gut in der Zeit lag.
Als er dann wiederum jedoch beschlossen hatte, dass er die verbleibenden Minuten noch für den vergeblichen Versuch nutzen konnte, das wilde Chaos auf seinem Kopf irgendwie ansehnlicher zu gestalten, fiel ihm beim plötzlichen Geräusch der Türklingel vor Schreck der Kamm aus der Hand.
Erst jetzt fiel Alfred auf, dass er das erste Mal seit Jahren einen anderen Gast als seinen Vater erwartete. Kurz fragte er sich noch, was in aller Welt eigentlich in ihn gefahren war, ausgerechnet den neuen Dirigenten seines Orchesters spontan zu sich nach Hause einzuladen.
Dann gestand er sich ein, dass die Antwort auf der Hand lag, dass Darius um einiges mehr war als sein Vorgesetzter und dass es sich unter Anbetracht der Umstände eben gerade angeboten hatte.
Vor allem aber bemerkte er in diesem Moment, dass es ihn nicht im Geringsten interessierte, was andere Leute dazu sagen würden.