Auf der Bühne begannen die restlichen Musiker erst mit dem Stimmen, als Alfred sich hoffentlich unauffällig zu seinem Platz schlich und auf Jaspers panisch fragenden Blick hin nur lächelnd nickte.
Violine und Bogen hatte er ihm schon freundlicherweise auf dem Stuhl bereit gelegt und als er beides zur Hand nahm, um sich zu setzen und ebenfalls einzustimmen, sinnierte er kurz dankbar darüber nach, dass auf den Virtuosen eben nach wie vor Verlass war.
„Du hast etwas gut bei mir“, raunte er ihm leise zu und Jasper grinste nur leicht.
Er schien noch immer ein bisschen durch den Wind vor Aufregung und hatte Probleme, es sich nicht anmerken zu lassen. Aber zumindest Alfreds Anwesenheit und die hoffentlich hinreichend deutlich gemachte Entwarnung hatten wohl doch ein bisschen beruhigen Einfluss, sodass Alfred aus dem Augenwinkel sehen konnte, wie er noch schüchtern einen Blick über ein paar Köpfe hinweg zu Erwin zu warf, der ihm aufmunternd zuzwinkerte.
Als die letzten, sanften Töne verklungen waren, wurde es recht schnell sehr still im gesamten Saal und mit einem Mal spürte Alfred sein Herz rasend schnell gegen seinen Brustkorb schlagen. Kurz fühlte es sich an, als würde sich ein unangenehm heftiger Hustenreiz bemerkbar machen, den er glücklicherweise unterdrücken konnte.
Wie lange war es her, dass er eine Bühne betreten hatte? Die Bretter, die die Welt bedeuteten. Im Orchestergraben fühlte er sich recht wohl, keine Frage. Das war etwas anderes. Aber mit seinem Instrument in der Hand zwischen so vielen anderen auf der Bühne zu sitzen, anstatt vorn im Scheinwerferlicht zu stehen, fühlte sich nach all den Jahren noch immer etwas befremdlich an.
Er versuchte, die aufkommenden Gedanken zu vertreiben. Gerade war wirklich nicht der Zeitpunkt für die bitterliche Sehnsucht darüber, wie sehr er das Singen vermisste. Es war mucksmäuschenstill im Raum, als würde jeder Einzelne der Anwesenden die Luft anhalten.
Die Sekunden verschmolzen zu einer Ewigkeit und Alfred konnte nicht einschätzen, ob er sich wieder sorgen sollte. Selbst Jasper reckte kurz den Kopf, dann entbrannte mit einem Mal ein ohrenbetäubender Beifall und Alfred atmete erleichtert aus, als Darius mit federnden Schritten souverän die Bühne betrat.
Dass er Schmerzen beim Gehen haben musste, merkte man ihm keine Sekunde lang an, auf seinem Gesicht lag nur der Ausdruck verbissener Konzentration. Kurz wich dieser einem kleinen, feinen Lächeln, als er zuerst Alfred, dann Jasper und dann den drei anderen Solisten die Hand gab ehe er sich zum Publikum wandte und sich vor den Zuschauern verbeugte.
Für einige Momente hallten seine Schritte auf der Bühne noch in Alfreds Ohren nach, für ein paar Augenblicke fühlte er noch immer die sanfte Berührung seiner Finger, als hätte sie sich in sein Bewusstsein eingebrannt; zusammen mit diesem fast schon unerhört einnehmenden Blick aus den nun plötzlich voller Tatendrang funkelnden, tiefschwarzen Augen.
Dann jedoch lag schnell wieder die wohlbekannte Berührung des Bogens in seiner Hand, als Alfred sich zumindest rein körperlich für das Konzert bereit machte und seine Augen waren komplett auf Darius fixiert, als dieser sich zu den Musikern umdrehte.
Im Raum hätte man mittlerweile eine Stecknadel fallen hören. Nur ab und an hörte man noch ein Rascheln, ein Räuspern. Dann nichts mehr. Alfred wagte es nicht, den Blick aufs Publikum zu lenken. Jaspers aufgeregter Atem dröhnte geradezu in seinen Ohren.
Alfred sah zu Darius. Darius sah zu Alfred.
Darius hob den Taktstock. Alfred hob den Bogen.
Alle Musiker nahmen Haltung ein. Der schwere Vorhang der Stille schien durch unsichtbare Schwingungen zu erzittern, ehe Darius ihn mit einer erhabenen Bewegung auseinander schob und Alfred den Musikern bedeutete, ihn mit ihm gemeinsam komplett zur Seite zu ziehen.
Mit den ersten kurzen sanften Sequenzen setzte das Orchester ein und Alfred war, als würde er den Boden unter seinen Füßen nicht mehr spüren. Er fiel nicht, er schwebte. Nein, ihm waren Flügel gewachsen und nichts hielt ihn auf diesen Brettern. Es interessierte ihn nicht, dass er in diesem heißen, schlecht belüfteten Raum saß. Was zählte, waren einzig und allein die Klänge am Horizont, denen er frei und schwerelos entgegen steuerte.
Was zunächst noch eine Adrenalin-bedingte Wahrnehmungsstörung gewesen sein musste, verselbstständigte sich schnell zu einem Mantra, als ihm mehr und mehr bewusst wurde, dass er sich nicht einfach gehen lassen konnte. Er musste die Balance wahren, auf der einen Seite sich vollkommen der Musik hingeben, auf der anderen Seite nicht nur konzentriert die eigenen Passagen meistern, sondern dabei auch noch die Führung innerhalb der Musiker koordinieren.
Und noch während er sich beinahe aus der Ruhe bringen ließ, fiel es ihm schon nach kürzester Zeit wie Schuppen von den Augen.
Hier galt weder das eine noch das andere Extrem.
Es war eine wundervolle, in sich ausgewogene und schon von allein ausgeklügelte Mischung aus allem, was er sich auf der Suche nach einer Verbildlichung vorstellen konnte. Wo das Adrenalin zuerst noch zu Aufregung geführt hatte, schärfte es nun seine Sinne, steigerte die Reaktionsfähigkeit, winzige Ungereimtheiten auszubügeln, ehe sie überhaupt deutlich wurden.
Schon allein das Zusammenspiel des Orchesters war eine zur Perfektion gebrachte Sinfonie, die sich in diesem Fall nicht aus einzelnen Tönen, sondern einzelnen Individuen zusammensetzte. Arrangements aus Ehrgeiz, Talent und Erfahrung, hier eine feine Verzierung aus Freundschaft, dort ein kleiner Schnörkel aus Rivalität, zusammengesetzt durch gemeinsame Proben, jahrelanges Üben und die Balance zwischen der Präsenz des Einzelnen und dem festen Platz im Gefüge.
Helge Marquardt hatte begonnen, dieses metaphorische Stück zu komponieren, doch war er es schneller leid geworden, als er es hatte vollenden können. Was für eine undankbare Mühe für denjenigen, der die zusammenhangslosen Scherben aufsammeln und auf eigene Art und Weise zusammensetzen musste.
Den Mut, sich an eine niedergelegte Arbeit wieder heran zu wagen, die von einem anderen Menschen gelegten Fäden wieder aufzunehmen und neu zu verknüpfen, hatte allein Darius Ottesen gehabt. Und dass es ihm vielleicht sogar besser als je zuvor geglückt war, das konnte man nun hören.
Nicht nur der vollen Klang dieser vor unzähligen Jahrzehnten niedergeschriebenen Noten, die in der Perfektion einer fehlerfreien Darbietung wieder zum Leben erweckt wurden, erfüllte den Konzertraum. Mitnichten nur die Aneinanderreihung von durchaus ästhetisch gewählten Intervallen und Akkorden, Tönen und Pausen, Melodie und Rhythmus, nein – In Alfreds Wahrnehmung war es so viel mehr in diesem Moment.
Es war die Musik von all diesen Menschen, die hier auf der Bühne gemeinsam versammelt waren. Die Klänge ihres Lebens, ihrer Schicksale, ihrer Nöte und Sorgen, ihrer Wünsche und Träume, ihrer Freude, ihrer Wut und ihrer Leidenschaft für eben diese Arbeit, die sich nun auszahlte. Womöglich fanden auch alle Menschen, die mit eben diesen Menschen zu tun hatten, in der Musik wieder. Womöglich spielte sich gerade das gesamte Leben, die gesamte Welt auf dieser Bühne ab.
Alfred hörte mitnichten nur die leidlich oft geprobten und immer wieder geübten Stücke. Er vernahm viel mehr all die Leute, die dafür verantwortlich waren, dass diese Musik nun gerade erklang.
Manche kannte er weniger gut, andere um einiges besser. Mit manchen hatte er sich nie eingehender beschäftigt, von anderen konnte er nicht genug bekommen. Manche davon waren zu guten Freunden geworden, andere blieben ein nahezu unerforschter Teil des großen Ganzen. Und doch gehörten sie alle zusammen.
Auch wenn Alfred versuchte, sich selbst aus dem Ganzen mehr oder weniger auszublenden, um sich nicht davon irritieren zu lassen, so hörte er im bildlich gesprochenen Sinn andere Menschen deutlich aus dem Gefüge heraus.
Helge Marquardt, der das sinkende Schiff ohne jeden weiteren Gedanken an sie verlassen hatte, sodass schon allein das Gefühl ihnen Genugtuung geben sollte, dass es eben doch nicht gesunken war. Der sicherlich nicht erwartet hätte, dass es ohne ihn geradezu mit voller Fahrt weiter über die sprichwörtlichen Meere segelte.
Erwin Gebauer, der nicht mehr rebellierte, sondern weiterhin tat, was er immer getan hatte, der souveräne Orchesterveteran. Der die neue Situation nicht mehr nur bloß mit Ignoranz toleriert, sondern inzwischen beinahe in voller Zufriedenheit akzeptiert hatte und den Dingen harrte, die noch kommen mochten.
Jasper Sundström, der gerade durch und durch konzentrierte Ruhe ausstrahlte und bei manchen Passagen gar entrückt wirkte, so wie er sich der Musik nun hingeben konnte. Der endlich aus dem Schatten der Menschen treten konnte, die ihn bewusst klein gehalten hatten, damit er ihnen mit seinem unglaublichen Talent als Virtuose nicht über den Kopf wuchs.
Und der Mensch, der Jasper diese Chance anscheinend überhaupt erst ermöglicht hatte. Der Mensch, der Erwin mehrfach auf die Palme und wieder herunter gebracht hatte. Der Mensch, der Doktor Marquardt niemals hatte ersetzen wollen, sondern lediglich in einer Notsituation seinen Platz eingenommen hatte – nicht um sie alle in den Wahnsinn zu treiben, sondern um ihnen zu helfen.
Da stand er. Mit dem hoch erhobenen Haupt wirkte er fast stolz, mit seinem festem Rückgrat komplett aufrecht. Die grazilen Bewegungen strahlten Eleganz und Würde aus, seinem intensiven Blick entging nichts, was im Orchester vor sich ging. Er gab nicht nur den Takt an, leitete nicht nur Übergänge ein, gab nicht nur kleine Hinweise für Einsätze, führte Ausdruck und Interpretation.
Nein, es war so viel mehr.
Er hielt eine Einheit zusammen, die schon vor ihm bestanden hatte, durch ihn jedoch schon in kürzester Zeit an sich selbst gewachsen war. Er führte eine Gruppe von Menschen, die er kaum kannte und doch anhand der Musik genügend einschätzen konnte, dass es funktionierte.
Niemals hätte Alfred gedacht, diese Art von stiller Bewunderung, ja, beinahe gar Ehrfurcht zu fühlen, wenn er in das Gesicht von diesem Mann blickte. Und so viel mehr noch dazu, das er gar nicht in Worte fassen konnte.
Und genau in diesem Moment hörte er sich selbst durch all diese Klänge durchdringen. Es war nicht seine Stimme, wie er es gewohnt war, viel eher sprach er durch seine Violine, die ihm eine ganze Weile im Leben so fremd geworden war, als er sich anderweitig orientiert hatte. Doch war sie ihm treu geblieben, ließ ihn nun zu Wort in dieser Sinfonie aus so vielen Menschen kommen, bis er keine andere Wahl hatte, als sich selbst endlich einmal zuzuhören.
Vielleicht war ihm die Violine lange nicht wichtig gewesen. Vielleicht hatte er sich lange als zu gut empfunden, in der Masse einer Gruppe unterzugehen.
Und ja, es hatte unsagbar schlimme Zeiten gegeben, über die er nicht mehr gern nachdachte. Ja, er war teilweise auch der festen Überzeugung gewesen, dass nichts mehr einen Sinn hatte und besser früher als später geendet hätte, um ihm noch mehr Leid zu ersparen.
Doch er war immer noch hier. Und er fühlte es, wie sehr er hier war. Er fühlte die Klänge, fühlte die Musik seiner Selbst, die weder den damaligen noch den heutigen Zustand in Betracht zog. Die ihn weder auf sein Talent noch auf seinen Fleiß reduzierte, nicht auf sein Äußeres, nicht auf sein Inneres, sondern das Ganze, den gesamten Weg.
Woher er kam, welche Umwege er genommen hatte, welche Abkürzungen und wohin er gehen würde. Denn vor ihm breitete sich der Horizont aus und der Weg war lange nicht vorbei.
Er hörte nicht nur sich selbst. Er hörte nicht nur die anderen.
Alfred fühlte in diesem Moment geradezu, welche Rolle er im Gefüge einnahm. Er vermittelte. Innerhalb des Orchesters, zwischen den Musikern und ihrem Dirigenten, zwischen seinen eigenen Zweifeln und seinem Glauben an das große gemeinsame Ziel, das sich in diesem Konzert manifestiert hatte.
Irgendwo war ihm noch bewusst, dass danach nicht nur die Anspannung abfallen würde, sondern sich auch die Frage stellen, ob Darius blieb oder nicht. Irgendwo wusste er, dass sich durch diesen Rausch der intensiven Gefühle nicht alle Probleme auf der Welt in Luft aufgelöst hatten.
Doch es sollte ihn gerade nicht interessieren. Nicht jetzt. Nicht hier.
Alles, was gerade zählte, war die Musik.
Ganz und gar im Taumel der Musik versunken, konnte Alfred beim tosenden Applaus nach dem zweiten Stück kaum fassen, dass sie zeitlich bereits die Hälfte des Konzerts hinter sich gebracht hatten. Er hatte nicht die Zeit, sich darüber im Klaren zu werden, ob er Wehmut oder Erleichterung dabei fühlen sollte. Er hatte nicht einmal Gelegenheit, im begeisterten Publikum Ausschau nach seinem Vater zu halten, ob dieser sich zur Pause gleich nach draußen begeben oder hier auf ihn warten würde.
Noch bevor das Licht im Saal anging, machten sich alle Musiker bereit, die Bühne zu verlassen, um sich wieder in die privaten Räumlichkeiten zurückzuziehen oder sich wahlweise ein bisschen unter die Leute zu mischen.
Darius wandte sich zum Publikum und Alfred schaffte es nicht einmal, nach seiner fast schon demütigen Verbeugung vor ihren Zuschauern einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, ehe er sich schon hastig in Richtung der Treppe am Rand der Bühne begab.
Irgendetwas stimmte nicht.
Und das Schlimmste war, dass Alfred eine recht eindeutige Vermutung hatte.
Darius würdigte weder ihn noch irgendjemand anderes auch nur noch eines Blickes, aber um einiges auffälliger war sein krampfartig versteifter Gang, der kurz vor den Stufen deutlich holpriger wurde, um dann vollends ins Wanken zu geraten.
Der Bühnentechniker hatte die Güte, wenigstens die Scheinwerfer abzuschalten, ehe ein Raunen durch die noch nicht sowieso aus dem Saal heraus eilenden Menschen ging und Alfred ungeachtet irgendwelcher gesellschaftlicher Normen Jasper wieder seine Violine in die Hand drückte, abrupt aufsprang und zu den Treppenstufen hastete.
„Darius!“, entfuhr es ihm, als dieser stolperte, gerade noch das Geländer zu fassen bekam, kurz darauf aber komplett in sich zusammensackte.
Schneller als er selbst schauen konnte, war Alfred mit einem Satz nach vorn zur Stelle und verhinderte womöglich Schlimmeres, indem er ihn geistesgegenwärtig noch im Sturz auffing und sicher in seinen Armen barg. Er selbst landete unsanft mit dem Gesäß auf einer Treppenstufe, aber das war halb so wild, wenn man bedachte, dass Darius sonstwas hätte geschehen können.
Die Platzanweiser hatten mittlerweile begonnen, die wenigen Schaulustigen diskret aus dem Raum zu bitten. Es dauerte keine zwei Minuten, ehe Jasper bei ihm war und Alfred hören konnte, wie Erwin die restlichen Musiker hinter die Bühne schickte. Wie eine Löwin kämpfte sich eine blonde Frau mit wallender Mähne durch die restlichen Leute, um neben Alfred auf die Knie zu fallen.
Er hatte keine Zeit, zu reagieren. Er hatte keine Gelegenheit, noch irgendetwas zu tun oder sich der Situation überhaupt bewusst zu werden. Alles was Alfred tun konnte, war zumindest so gut es ging zu versuchen, den bewusstlosen Körper in seinen Armen halbwegs aufrecht zu halten. Dafür zu sorgen, dass ihm nichts weiter geschah; dass er bei ihm sicher war.
„Oh Alfred“, hörte er die zittrige Stimme von Theresa Berentz, ehe sie ihm kurzerhand um den Hals fiel und ihm damit die fast schon panisch besorgte Sicht auf das reglosen, blassen Züge versperrte.
Dann konnte er selbst mit vor verängstigten Tränen verschleierten Augen nicht einmal sehen, wer die beiden rot gekleideten Männer waren, die vollkommen rücksichtslos die bodenlose Frechheit besaßen, ihm Darius aus seinen Armen zu entreißen, wo er doch so sicher und geborgen gewesen war.
Er wollte sich heftigst beschweren, er wollte sie um jeden Preis davon abhalten. Aber letzten Endes blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf die Vernunft zu besinnen, nachdem er so von seinen Gefühlen übermannt worden war.
Alfred verfluchte sich innerlich für seine Nachlässigkeit. Vielmehr für alles, was er nicht getan hatte, als für das, was er möglicherweise hatte tun können. Und doch überwogen eindeutig die Sorgen.
Um die Musik ging es Alfred schon lange nicht mehr, viel weniger um dieses verdammte Konzert.
Es ging ihm einzig und allein um Darius.