Es war finsterste Nacht, als er die Treppen zum Turm hinaufstieg. Der Mond und die Sterne versteckten sich hinter dunklen Wolken und tauchten den Nachthimmel in ein endloses Schwarz. Eine endlose, schwarze See – wie sein Herz.
Seine bloßen Füße hinterließen kein Geräusch, wenn sie auf die kalten Stufen traten. Er spürte die Kälte nicht, sie kümmerte ihn nicht. Er war entschlossen, es zu beenden. Heute Nacht würde alles enden. Er würde auf den Turm gehen, ein letztes Mal, und hinunterspringen. Heute Nacht würde sein Leben enden und damit die Leere und Kälte in ihm, die sein Herz und seine Seele gefangen hielten und gegen die er einfach nicht ankam. Wie kämpfte man auch gegen etwas, das nicht existierte? Die Leere war ein Nichts – und doch so erdrückend.
Er erreichte die Spitze des Turmes und trat hinaus auf die Plattform, die von einer flachen, steinernen Brüstung umgeben war. Sie würde ihn heute nicht aufhalten können, heute würde er es tun.
Wie viele Nächte er schon hier oben gestanden hatte, wusste er nicht. Wie viele Nächte hatte er sich auf die Mauer gesetzt und in die Tiefe geschaut, daran gedacht, wie wenig zu seinem Tod noch fehlte. Doch er hatte sich nie getraut, den letzten Schritt zu machen. Eine letzte Entscheidung. Ein endgültiger Schritt. Aber heute war es anders.
Ohne Zögern trat er auf die Brüstung und stellte sich in den kalten Nachtwind. Mit ausgebreiteten Armen atmete er tief die frische, eiskalte Luft ein, die in seinen Lungen brannte, und ihm ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte. Wie seltsam, wie lebendig er sich im Augenblick des Todes fühlte. Er schloss die Augen und lauschte nur dem Frieden in ihm.
„Hallo!“, ertönte plötzlich eine Stimme neben ihm.
Erschrocken riss er die Augen auf und schaute zur Seite, wo ein Mädchen auf der Brüstung saß. Ihre langen Haare flatterten im Nachtwind und sie schaute ihn forschend an, aber es war kein Mitleid in ihren Augen, keine Furcht. Sie wirkte einfach neugierig auf ihn. „Wer bist du?“, fragte er. Er hatte sie noch nie gesehen. Und er kam oft hierher.
„Nach der Antwort suche ich noch.“
Er ging nicht auf ihre rätselhafte Antwort ein, mit dem sie ihm aus der Seele zu sprechen schien. Er wusste auch nicht, wer er eigentlich war. Er wusste nur, dass er nun hier auf der Brüstung des Turms stand, dass er eigentlich in den Tod springen wollte und dennoch eine seltsame Neugierde auf das fremde Mädchen, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war, verspürte. „Wie ist dein Name?“
„Was ist ein Name schon mehr als bloß Buchstaben auf einem Blatt Papier?“, gab sie wieder zurück. „Ich nehme an, du bist hier, weil du runterspringen willst, also entweder solltest du das jetzt tun oder du setzt dich neben mich und erzählst mir, was dich überhaupt auf diese Brüstung getrieben hat.“
Überrascht von ihrer Direktheit starrte er sie an. „Du würdest mich nicht aufhalten, wenn ich springen würde?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es deine Entscheidung ist, werde ich dich nicht aufhalten. Aber ich würde es natürlich vorziehen, deine Geschichte zu hören.“
Einen Moment zögerte er noch, dann folgte er ihrem Wunsch und setzte sich neben sie. Er konnte immer noch später springen. Wenn seine Neugierde gestillt war. „Es gibt eigentlich keine Geschichte“, versuchte er zu erklären, was nicht zu erklären war, „Mein Herz fühlt sich einfach leer an, ich fühle mich völlig taub, als wäre ich unter Wasser und würde alles nur gedämpft mitkriegen, während mir die Luft zunehmend schwindet.“
„Du fürchtest dich zu leben?“
Wenn sie es so formulierte, klang es falsch und zugleich traf es den Kern der Sache.
Sie schien ihm die Antwort anzusehen und lächelte sanft. „Weißt du, man hat nur Angst vor Dingen, denen man sich unterlegen glaubt.“
Er erwiderte nichts. „Warum bist du überhaupt hier?“
Sie lachte. Es war ein glockenheller Klang, den der Wind mit sich forttrug. „Ich komme oft hierher, aus dem gleichen Grund wie du. Ich schaue in die Tiefe und überlege, ob ich springen soll.“
„Warum hast du es noch nicht getan?“
„Weil ich mich, jedes Mal, wenn ich hierherkomme, daran erinnere, dass ich nichts zu verlieren habe. Warum also nicht weiterleben oder es zumindest versuchen?“
„Darüber habe ich nie nachgedacht.“
„Das solltest du vielleicht, bevor du deine Entscheidung triffst.“ Sie lächelte ihm ein letztes Mal zu, bevor sie ihre Füße von der Brüstung schwang. „Ich muss jetzt gehen. Leb wohl.“
„Warte!“, rief er, weil er Angst hatte, wieder allein zu sein, seinen Gedanken völlig ausgeliefert, die sie wie ein Herbststurm die Blätter eines Waldes vollkommen durcheinander gewürfelt hatte. „Werden wir uns wiedersehen?“
Sie antwortete nicht und ihr trauriges Lächeln war das Letzte, was er sah, bevor die Schatten sie verschluckten.
Am nächsten Abend stieg er wieder auf den Turm empor. Die Leere in ihm war immer noch mächtig, die Dunkelheit scheinbar undurchdringlich, doch eine kleine Flamme der Hoffnung und des Mutes brannte wieder in ihm, entfacht von einem Mädchen in seiner dunkelsten Nacht, ein Licht in der Finsternis. Die Hoffnung erfüllte ihn, sie wieder zu treffen.
Der Wind trug geflüsterte Worte mit sich: Vergiss nie, wann du dich zu kämpfen entschlossen hast.
Er kämpfte. Er lebte. Und Nacht für Nacht stieg er hinauf auf den Turm. Doch er sah sie nie wieder.
Sie gab ihm ihre Flügel und flog hoch in den Himmel, verfehlte die Wolken, die sie verzweifelt zu retten versuchten, bevor sie in die Tiefe fiel.