Ganz plötzlich war sie wieder da. Stand unerwartet vor ihm, ohne dass er damit gerechnet hatte. Ebenso überraschend, wie sie verschwunden war. Fast ein Jahr war vergangen, seit sie gegangen war. Es gab Gerüchte, unzählige Geschichten über ihren Aufenthaltsort, über den Grund ihres Verschwindens, eine Geschichte wilder als die andere. Sie war immer das seltsame Mädchen gewesen, das niemand kannte. Das Mädchen, das verrückte Dinge tat und lauter lachte als alle anderen. Wenn er damals nur gewusst hätte, was wirklich in ihrem Kopf vor sich ging, obwohl er sie wohl besser kannte als jeder andere. Er war ihr bester Freund – zumindest hatte er das immer angenommen.
Sie sprach nicht mit ihm. Obwohl er das ganze letzte Jahr versucht hatte, sie zu erreichen, obwohl er auf sie zuging und sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie winkte nur ab und hüllte sich in Schweigen hinter einem mysteriösen Lächeln, als er sich erkundigte, wo sie gewesen war. Sie war schnell wieder der Mittelpunkt der Schule, das lustige Zentrum und doch lag etwas in ihren Augen, das ihm Angst machte. Ein Ausdruck, als hätte sie zu viel gesehen. Zu viel vom Leben gesehen.
Es war ein normaler Tag, ein Tag, an dem er sie beinahe schon aufgegeben hatte, als ein Lehrer sie darauf ansprach, wo sie gewesen sei. Selbst die Lehrer hatten nicht mehr als Gerüchte erfahren und dieser schien zu glauben, dass sie ein Jahr im Ausland gewesen sei. Sie brachte kein Wort heraus und stürmte letztlich aus dem Raum. Er sah die Tränen in ihren Augen brennen und ihm wurde bewusst, dass er sie noch nie weinen gesehen hatte. Zwei Freundinnen folgten ihr, kamen aber bald unverrichteter Dinge zurück. Denn wenn er eines über dieses Mädchen wusste, das einmal seine beste Freundin gewesen war, dann, dass sie sich von niemandem in die Karten schauen ließ. Nicht einmal von ihm. Nicht einmal als sie noch Kinder waren.
Aber dieses Mal wollte er sich nicht so einfach abschütteln lassen. Er folgte ihr und obwohl sie ihm sagte, er solle verschwinden, ließ er sie nicht alleine. Er wollte für sie da sein, so wie sie all die Zeit für ihn da gewesen war. Sie sagte ihm nicht, was los war, aber sie machten sich zusammen davon, schwänzten den restlichen Tag und es war beinahe wie in alten Zeiten, als sie viel Spaß zusammen hatten. Doch der Ausdruck in ihren Augen war so anders, als er ihn kannte. Oder hatte er einfach nie genau hingeschaut?
Es war dieser Tag, als er ihre Narben sah. Er war so schockiert, dass er im ersten Moment kein Wort herausbekam. Als sie merkte, dass er es gesehen hatte, zog sie die Ärmel ihres Pullovers wieder herunter, aber er hatte es gesehen und ihm ging der Anblick der unzähligen weiß schimmernden Narben auf ihren Armen nicht aus dem Kopf. Narben, die von einer großen, wulstigen Narbe durchschnitten wurden. Eine Narbe, die nur eine Bedeutung haben konnte. Nicht nur, dass sie sich oft selbst zu verletzen schien, sie hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Und er war nicht da gewesen. Er hatte es nicht bemerkt. Er hatte nicht gesehen, wie schlecht es ihr ging. Er fühlte sich schuldig, mitverantwortlich dafür, wie weit es gekommen war.
Sie schien in seinen Augen zu lesen, was in ihm vorging. Sie sagte ihm, es wäre nicht seine Schuld gewesen, es wäre ihre eigene Entscheidung gewesen. Eine Entscheidung, die sie für ein Jahr in eine Klinik gebracht hatte.
Er glaubte ihr in diesem Moment nicht. Und erst recht nicht, als er später die Wahrheit erfuhr.
Sie versuchte nach diesem Tag, ihn wegzustoßen. Er verstand es erst viel später.
Sie hatte Angst gehabt, dass er sie wieder verletzen könnte. Denn sie liebte ihn. Gefühle, von denen sie gedacht hatte, dass er sie nie erwidern würde. Weil er nicht da war, um ihr zu zeigen, dass sie das Wichtigste in seinem Leben war. Genauso wie er das Wichtigste in ihrem Leben war, die einzige Konstante, die sie zusammenhielt, während ihre ganze Welt zu zerfallen begann.
Wenn sie es ihm gesagt hätte, wenn er es früher bemerkt hätte, dann wäre sicherlich alles anders gekommen. Dann hätte er ihr sagen können, dass alles gut werden würde. Dass er für sie da wäre. Dass er sie liebte, seit sie als kleines Kind mit Zahnlücke, zwei Zöpfen und Sommersprossen sein Eis geklaut hatte.
Wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte, dann wäre es anders gekommen. Dann hätte es keinen zweiten Versuch gegeben, bei dem ihr mehr Erfolg beschieden war als bei ihrem ersten… Aber die Wahrheit der Menschen liegt immer verborgen in ihrem Inneren, unsichtbar vor den Blicken der anderen.