Die Briefe, die sie in einer kleinen Schatulle aufbewahrte und hütete wie einen Schatz, sahen mitgenommen aus. Und das war wohl auch nicht verwunderlich, wenn sie daran dachte, was sie alles durchgemacht hatten. Von der Bannung der Worte auf das Papier mitten im Krieg über den weiten Weg nach Hause bis hin zu ihren Tränen, wann immer sie einen Brief von ihm erhalten hatte. Es waren Briefe der Hoffnung, des Verlustes, der Liebe zwischen zwei Liebenden, die nicht einmal der Krieg zu trennen vermochte.
Sie griff nach dem ersten Brief, den sie erhalten hatte. Jeden Tag hatte sie auf seine Ankunft gewartet, gebetet, gehofft, dass er ihr schreiben würde, obwohl sie im Streit auseinander gegangen waren. Jeden Tag hatte sie fieberhaft die Post durchgesehen in der Hoffnung, einen Brief von ihm vorzufinden, doch immer wieder war sie enttäuscht worden. Und dann endlich hatte sie einen Brief erhalten.
Mit zitternden Fingern hatte sie ihn geöffnet und die Worte verschlungen.
Liebe Jamie,
Ich bereue, dass wir im Streit auseinander gegangen sind. Ich weiß, dass Du Angst um mich hattest, Du wolltest nicht, dass ich gehe, dass ich in den Krieg ziehe und doch bin ich gegangen. Ich bereue, dass ich Dich nicht ein letztes Mal küssen konnte, dass ich Dir nicht noch einmal gesagt habe, dass ich Dich liebe. Ich weiß nicht, ob ich es wieder tun kann. Der Krieg ist die Hölle, so viele Menschen sterben und ich frage mich immer, ob der nächste Schuss mich trifft. Vielleicht hätte ich auf Dich hören sollen und bei Dir bleiben sollen, aber ich wollte kämpfen. Für Dich. Um Dich zu beschützen.
Ich kenne Dich, seit Du Deinen Bruder und mich als kleines Mädchen immer verfolgt hast. Damals hast Du mich immer genervt und ich hätte niemals gedacht, dass ich Dir einmal voller Sehnsucht diese Zeilen schreiben würde, aber das Leben spielt nie so, wie man es erwartet.
Ich erinnere mich noch an den Moment, an dem mir bewusst geworden ist, dass ich Dich liebe. Du hast mich geschlagen, als ich Deinen Bruder verletzt habe. Du hast mir die Nase gebrochen und ich war so schockiert. Aber insgeheim habe ich immer Deinen Mut und Deine Leidenschaft bewundert und wie du Dich für Deine Lieben einsetzt. Insgeheim habe ich mir gewünscht, ich würde zu ihnen gehören. Du warst schon immer eine Kämpferin.
Ich weiß noch, dass wir uns danach immer an die Kehle gegangen sind. Heute weiß ich, dass ich Dich verletzt habe, weil ich ständig mit anderen Frauen ausgegangen bin. Ich dachte damals, dass es niemals zwischen uns sein könnte. Du warst die kleine Schwester meines besten Freundes und er hätte mich umgebracht, wenn er herausgefunden hätte, dass ich Dich liebe. Er hielt mich nie für gut genug für Dich und ich kann es ihm nicht verdenken, ich hielt mich selbst nicht für gut genug. Und so habe ich versucht, in anderen Frauen zu finden, was ich bei Dir bereits gefunden hatte, aber keine war wie Du. Ich konnte Dich nicht vergessen, obwohl ich es wollte und so habe ich immer Deine Nähe gesucht, auch wenn es bedeutete, dass wir uns nur stritten. Du hast so hinreißend ausgesehen, wenn Du wütend warst und das eine oder andere Mal hätte ich Dich beinahe geküsst.
Und dann hast Du den ersten Schritt gemacht und mich geküsst. Ich war so perplex im ersten Moment, konnte es kaum glauben. Und ich war so unbeschreiblich glücklich. Meine Zeit mit Dir war die schönste Zeit meines Lebens und sie wird es immer bleiben.
Ich vermisse Dich und ich weiß, dass ich erst das nächste Mal, wenn ich Dein Gesicht sehen sollte, wieder Tageslicht sehen werde.
In Liebe,
Michael
Sie erinnerte sich, wie sie damals ängstlich aufs Datum gesehen hatte. Er war bereits einige Wochen alt und seitdem konnte viel passiert sein. Die Angst hielt ihr Herz umklammert, als sie daran dachte, dass er womöglich schon tot war. Das war der Moment gewesen, in dem sie sich entschieden hatte, sich als Krankenschwester zu melden.
Sie hatte sich ins Kriegsgebiet versetzen lassen, dorthin, wo seine Abteilung stationiert war – und auch ihr Bruder. Damals hatte sie erfahren müssen, dass er in Gefangenschaft geraten war. Doch er hatte wahnsinniges Glück gehabt, eine Offensive hatte ihn aus den Händen der Feinde befreit. Und so hatten sie sich wiedergesehen.
Er hatte es kaum glauben können, als sie plötzlich vor ihm stand und seine Wunde am Arm versorgen wollte. Er hatte sie angestarrt wie eine Erscheinung und als sie ihn zaghaft angelächelt hatte, war er in eine wütende Schimpftirade ausgebrochen. Er sagte, dass er sie am liebsten erwürgen würde, weil sie sich dermaßen in Gefahr begeben hatte. Ihr Bruder, der alles mit angehört hatte, hatte nur gelacht und gemeint, dass er sie liebe. Damit hatte er ihnen endlich seinen Segen erteilt, nachdem er zuvor wirklich skeptisch gewesen war. Michael hatte sie an sich gezogen und sie geküsst. Er wollte sie nicht einmal seine Wunde versorgen lassen, weil er sie einfach nur im Arm halten wollte.
An diesem Abend hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte. Weil er nicht wusste, was die kommenden Jahre bringen würden, aber weil er wusste, dass er sie mit ihr verbringen wollte. Alles würde sich geben. Irgendwann. Irgendwie. Überglücklich hatte sie Ja gesagt.
Ihnen blieben nur wenige Tage, eine Zeit, die sie genutzt hatten so gut es möglich war. Sie hatte gespürt, dass er sich verändert hatte. Er sprach nicht von den Dingen, die er erlebt hatte, aber sie konnte in seinen Augen sehen, wie sehr er darunter litt, Freunde sterben gesehen zu haben. Viele Freunde, die irgendwo namenlos in der Fremde begraben liegen. Sie bedrängte ihn nicht, darüber zu sprechen, aber wann immer sie daran dachte, dass er es gewesen sein könnte, schmiegte sie sich enger in seine Arme, wollte ihn nie wieder loslassen.
Und dann kam der Abschied, als sie wieder ausrücken mussten. Sie kehrte zurück nach Hause. Jeden Tag bangte sie um ihn, seine Briefe, die sie erreichten, waren alles, was ihr blieb.
Sie gewannen den Krieg. Aber wie konnten sie von einem Sieg sprechen, wenn so viele Leben verloren waren? Im Sterben waren Sieger und Verlierer gleich.
Sie griff nach dem letzten Brief. Er war aus dem Nichts gekommen, das Chaos in den letzten Tagen des Krieges hatte seine Zustellung um Monate verzögert. Es ist seltsam, wie ein einfacher Brief Zeit und Raum verändern kann, wie er die Vergangenheit lebendig macht.
Es hieß, die Zeit heile alle Wunden. Vielleicht lässt sie nur vergessen – aber sie kann nicht vergessen. Und sie will ihn auch nicht vergessen.
Ihre große Liebe, die nicht zurückgekehrt war.
Ein Brief, der sie lange nach seinem Tod erreicht hatte und nur fünf Worte enthielt.
Ich liebe dich. Für immer.