„Wir haben die Kontrolle verloren!“ Ihre Stimme klang panisch und Alexei verzweifelte. Er fühlte sich so furchtbar hilflos, während er nur über Funk zuhören konnte, wie seine beste Freundin Jessie mit ihrem Leben rang. Und dabei hatte sie nicht einmal dort sein sollen! Sie hatten sich gestritten und er hatte sie einen Feigling genannt, weil sie sich immer zu viel Sorgen machte, weil sie immer auf Nummer Sicher gehen wollte und nie spontan war. Er war einfach wütend gewesen und hatte diese Worte unbedacht dahingesagt, ohne zu ahnen, was er damit bei ihr auslösen würde. Denn um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hatte, hatte sie sich freiwillig für diese Außenmission gemeldet, um den neu entdeckten Planeten zu untersuchen. Dabei war das Shuttle beim Eintritt in die Atmosphäre in einen gravimetrischen Sog geraten, aus dem es sich nicht befreien konnte. Dieser Sog zog sie unaufhörlich weiter mit rasender Geschwindigkeit zu Boden und wenn sie nicht in wenigen Sekunden eine Möglichkeit finden würden, um es zu verhindern, würden sie beim Aufprall auf dem Boden zerschellen. Schweiß lief ihm über die Stirn, während er fieberhaft nach einer Lösung suchte.
„Wir müssen sie heraufbeamen!“, verlangte der Captain.
„Das ist unmöglich. Die Gravitation verhindert ein Durchkommen, wir müssten die Plattform rekalibrieren“, ließ der Wissenschaftsoffizier verlauten, „Der Computer würde zu lange brauchen.“
„Ich kann es manuell machen!“, schlug Alexei hektisch vor. Er konnte nicht zulassen, dass sie die Crew des Shuttles verloren!
Der Captain nickte ihm zu und er sprang auf, um durch die Gänge des Raumschiffes zum Beamer-Kontrollraum zu rennen. Ihm lief die Zeit davon! Er fühlte sich, als wäre er in einem Albtraum gefangen, in dem er einfach nicht von der Stelle kam.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er den Raum und stürzte sich auf die Geräte. „Lex, wenn wir es nicht schaffen, will ich, dass du weißt, dass es mir leidtut und dass ich dir nicht böse bin. Wir hätten uns nicht streiten sollen, nicht wegen so einer blöden Sache.“ Und vor allem hätte sie nicht mitgehen sollen!, wollte er ihr sagen, aber er wollte ihr keine Vorwürfe machen. Es gab so viele andere Dinge, die er ihr lieber sagen würde, aber die konnte er ihr sagen, wenn er sie sicher an Bord geholt hatte.
„Ich werde euch da rausholen!“, versprach er und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. „Geschafft!“, stieß er aus, als die Rekalibrierung abgeschlossen war. „Beamt sie hoch!“, gab er das Signal und das Gerät wurde in Gang gesetzt.
Die Lichter auf der Plattform kündigte die Ankunft des Boden-Teams an. Vier Lichter tanzten über dem Boden, bevor sie sich in feste Materie zu materialisieren begannen. Moment, vier Lichter? Es sollten aber fünf sein!
„Ein Teammitglied fehlt!“, stieß er hervor, als der Materialisierungsprozess gerade abgeschlossen wurde. Es war Jessie, die fehlte.
„Das Shuttle ist am Boden zerschellt“, kam der Bericht von der Brücke über den Funkkanal und ihm wurden die Knie weich. Die Beine sackten ihm weg und er kam auf dem Boden auf, während die Tränen in seine Augen stiegen, als er zu begreifen begann. Seine wundervolle beste Freundin, die ihm seit seinem ersten Tag an der Akademie, als er wegen seiner russischen Herkunft ausgegrenzt worden war, zur Seite gestanden hatte, war tot. Sie war tot und er würde niemals die Gelegenheit bekommen, ihr zu sagen, dass er sie liebte.
Er schreckte aus dem Schlaf hoch, das Bettlaken klebte nass an seinem verschwitzten Körper und sein Atem ging hektisch. Dieser Albtraum verfolgte ihn seit Monaten. Seit dem Tag, an dem er Jessalyn verloren hatte. Und leider war das Aufwachen keine Erleichterung. Seit Monaten schleppte er sich durch die Tage und Nächte, ohne jeden Antrieb. Mit ihrem Tod war auch seine Lebensfreude gestorben.
Die anderen Teammitglieder sorgten sich um ihn. Auch sie hatten um Jessie getrauert, aber die meisten hatten ihren Tod mittlerweile akzeptiert. Manchmal fehlte sie auch ihnen noch, manchmal sah er, wie sie sich in lustiger Runde dem leeren Platz zuwandten, der einst ihr gehört hatte, bis ihnen wieder einfiel, dass sie nicht mehr da war, um mit ihnen zu lachen. Für Alexei war ihr leerer Stuhl wie ein Mahnmal für alle seine verlorenen Träume und Hoffnungen, ein Mahnmal seiner Schuld und seines Versagens und er konnte kaum jemals den Blick von ihm lösen. Immer wieder hatte er sie vor Augen, ihre Stupsnase, die Sommersprossen, das helle Haar, die blauen Augen. Er wollte sie nicht vergessen, wollte alle Erinnerungen an sie für immer bewahren und doch begannen sie allmählich zu verschwimmen. Immer wieder versuchte er sich den Duft ihres Haares in Erinnerung zu rufen, den der Wind an Sommernächten, wenn sie sich davongestohlen hatten, um im See baden zu gehen, zu ihm getragen hatte. Oder an das Funkeln in ihren Augen, wenn sie über etwas lachte. Ihre Begeisterung für das Weltall und die Sterne und all die unbekannten Geheimnisse, die sie erforschen wollte, was ihr nun für immer verwehrt bleiben würde. Oder ihr Lächeln. All das verschwamm immer mehr, je stärker er sich daran zu erinnern versuchte.
Er hatte ein Foto von ihnen beiden immer in seiner Tasche. Es war an dem Abend geschossen worden, an dem sie erfahren hatten, dass sie ausgewählt worden waren für die Mission zur Erkundung der Tiefen des Weltraumes. Sie hatten zusammen gefeiert und sie sah so glücklich aus auf dem Bild, so voller Hoffnung und Erwartung. Damals hatte keiner von ihnen beiden geglaubt, dass sie nicht zurückkommen würden. Natürlich wussten sie, dass ihr Job nicht ungefährlich war, dass die Reise viele Gefahren barg, aber sie waren erst real geworden, als sie gestorben war.
An dem Abend nach ihrem Tod hatte er stundenlang auf dieses Foto gestarrt, hatte ihre Gesichtszüge bis ins Detail studiert, ihr breites Lächeln. Es hatte ihm das Herz gebrochen, dass er sie nie wiedersehen würde. „Ich habe sie geliebt“, hatte er gemurmelt. Die ersten Worte seit ihrem Tod. Der Captain, der selbst betrübt gewirkt hatte, obwohl er längst nicht so am Boden zerstört war wie Alexei, hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. „Das wussten wir alle.“ Alle hatten es gewusst. Nur sie nicht. Er bereute bis heute, dass er es ihr niemals gesagt hatte.
„Die Shuttle-Crew ist zurückgekehrt!“, riss ihn sein Kollege aus dem Gedanken. Mechanisch öffnete er die Luke zum Ladedeck. Der Captain und der erste Offizier waren mit einigen Crew-Mitgliedern im zweiten Shuttle zu einem Erkundungsflug auf einen weiteren Planeten aufgebrochen. Er hatte es bisher nicht über sich gebracht, sich einem Erkundungsflug anzuschließen, weil er immer nur an Jessie denken musste. Wie viel Angst sie gehabt haben musste, wie alleine sie sich in ihren letzten Sekunden gefühlt haben musste. Er wünschte, er wäre bei ihr gewesen. Ohne sie war sein Leben ohnehin sinnlos.
Das Shuttle landete im Hangar und sie verriegelten die Tore, bevor sie durch die Schleusen traten, um die Crew in Empfang zu nehmen.
„Romanow!“, rief der Captain, sobald er die Luke des Shuttles hinuntergestiegen war.
„Captain?“ Mit müden Augen blickte Alexei seinen Captain an, bereit, jeden Befehl entgegen zu nehmen, dem dieser ihm auftragen wollte.
„Wir haben eine Überraschung für dich!“
„Ich mag Überraschungen nicht besonders“, gab er zurück und verzog das Gesicht.
Der Captain klopfte ihm auf die Schulter, als er ihn erreichte. „Oh, die hier wirst du definitiv lieben. Genau genommen liebst du sie ja bereits.“
Er folgte dem Blick des Captains zur Shuttle-Rampe, wo zwei der Crew-Mitglieder eine dritte Person zwischen sich stützten. Sie war schwach auf den Beinen und wirkte reichlich mitgenommen, ihre Haare waren schmutzig und sie hielt den Blick gesenkt, sodass es einen Moment dauerte, bis er sie erkannte. „Jessie“, brachte er keuchend hervor und konnte sie nur versteinert anstarren.
Sie hob den Blick und als ihre blauen Augen seine trafen, war jeder Zweifel beseitigt. Das war seine Jessie. Sie war am Leben! „Lex“, murmelte sie kraftlos und für ihn gab es kein Halten mehr. Er überwand die letzten Meter zwischen ihnen und zog sie fest in seine Arme. Ihn kümmerte das schelmische Schmunzeln der beiden Männer, die sie gestützt hatten und sie nun losließen, nicht. Ihn kümmerte gar nichts außer der Tatsache, dass er sie wieder in den Armen halten konnte, nachdem er monatelang geglaubt hatte, sie wäre tot. Er hatte so viele Fragen, doch er brachte keine heraus, so viele Gedanken schwirrten in seinem Kopf durcheinander. Was machte es auch schon, was passiert war, wie sie überlebt hatte, wie sie sie gefunden hatten, sie war am Leben und sie war wieder bei ihm! Er wusste nicht, ob er lachte oder weinte, vermutlich war es eine Mischung aus Beidem.
„Sie muss auf die Krankenstation“, unterbrach der Captain ihre Wiedersehensfreude und winkte den beiden Crew-Mitgliedern.
„Ich erledige das schon“, meinte Alexei. Unter keinen Umständen würde er sie jetzt alleine lassen, auch wenn es bedeutete, dass er seinen Posten während der Arbeitszeit verließ. Zum Glück hatte der Captain Verständnis und nickte nur, bevor er einen anderen anwies, Alexeis Posten zu übernehmen. Er selbst hob Jessie auf seine Arme, sie wirkte viel zu schwach, um selbst zu laufen. Sie war viel zu leicht.
„Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, dass ich dich wiederhabe“, murmelte Alexei ihr zu, während er durch die Flure auf die Krankenstation zustrebte. „Ich werde dich nie wieder alleine lassen.“
„Ich nehme dich beim Wort“, erwiderte sie, während sie den Kopf an seine Brust lehnte.
In der Krankenstation legte er sie auf eine der Liegen, bevor er ihre Hand ergriff und sie festhielt. Die Ärztin war bereits über die Ankunft der Patientin informiert worden und trat sogleich auf sie zu. „Sie sollten jetzt gehen, Romanow.“
„Ich bleibe hier!“, widersprach er.
„Sie sind bei der Untersuchung im Weg“, betonte die Ärztin und funkelte ihn streng an, „Sie können sie später besuchen.“
Jessie drückte seine Hand. „Ist schon in Ordnung.“
Nur widerwillig ließ er Jessies Hand los. Kurz beugte er sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich komme sobald wie möglich wieder. Es gibt da nämlich eine Sache, die ich dringend erledigen muss!“
Er konnte die Neugierde in ihren Augen sehen, grinste sie breit an und verließ die Krankenstation, um draußen auf dem Flur zu warten. Weiter würde er sich von ihr definitiv nicht entfernen. Kurz darauf kamen auch der Captain und der erste Offizier bei ihm an. „Wie geht es ihr?“, erkundigte sich der Captain.
„Die Ärztin hat ihre Untersuchung gerade begonnen“, berichtete Alexei und zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Wie habt ihr sie überhaupt gefunden?“, wollte er wissen und schaute zwischen seinen beiden Vorgesetzten hin und her.
„Wir sind auf dem Planeten auf ein Labor gestoßen und dort fanden wir sie. Offenbar hat der verrückte Wissenschaftler, den wir dort antrafen, sie vor dem Shuttle-Absturz fortgebeamt, was erklären würde, warum unser Beamer sie nicht erfasst hat. Wir wissen nicht genau, was er mit ihr gemacht hat und was er noch mit ihr vorhatte“, berichtete der erste Offizier.
Alexei schluckte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was Jessie die letzten Monate hatte durchmachen müssen. Ob sie wohl Hoffnung auf Befreiung gehabt hatte?
„Eins ist sicher: Sie wird dich brauchen“, sprach der Captain.
„Ich bin für sie da“, versprach er, „Ich werde bis an ihr Lebensende an ihrer Seite bleiben, so oder so.“ Selbst wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte, würde er ihr immer als ihr bester Freund zur Seite stehen.
Der Captain nickte zufrieden, als die Ärztin aus der Krankenstation trat. Drei Augenpaare richteten sich erwartend auf sie. Alexei gefiel ihr Ausdruck nicht. Sie sah aus, als würde sie schlechte Nachrichten bringen. Mit einem traurigen Seufzen ergriff die Frau das Wort: „Wir haben ein Gift in ihrer Blutbahn entdeckt. Offenbar hat der Doktor, wie Miss Franklin ihn nennt, ihr das Gift eingeflößt und ihr regelmäßig das benötigte Gegengift verabreicht, das nur er kennt und besitzt. Auf diese Weise hat er sie von sich abhängig gemacht. Oder hätte im Falle eines Fluchtversuches jegliche Zeugen vermieden.“
„Also können Sie sie ohne das Gegengift nicht heilen?“, erfasste der erste Offizier die Situation.
„So sieht es aus.“
„Dann müssen wir zum Doktor zurück und das Gegengift besorgen!“, drängte Alexei.
Der Captain verzog bedauernd das Gesicht. „Selbst wenn wir noch genug Zeit hätten, wir haben bei unserem Fluchtversuch das Labor vernichtet und den Doktor getötet.“
„Das heißt, wir können nichts machen?“ Entgeistert schaute Alexei zwischen den dreien hin und her. Sollte er Jessie gerade zurückbekommen haben, nur um sie gleich wieder zu verlieren?
Die Ärztin nickte traurig mit dem Kopf.
„Wie lange bleibt ihr noch?“, stellte der Captain die Frage, die Alexei nicht aussprechen wollte.
„Ein paar Stunden vielleicht. Genau sagen kann ich es nicht, aber die Nacht wird sie wohl nicht überleben“, verkündete sie mit Grabesstimme.
Ihre Worte hallten in Alexeis Kopf wider. Eine Nacht. Eine Nacht würde ihnen bleiben, bevor sie ihn erneut verlassen würde. Endgültig. Ohne Chance auf überraschende Rückkehr. „Kann ich zu ihr?“, fragte er wie betäubt.
Die Ärztin nickte. Alexei achtete nicht weiter auf die anderen, sondern betrat die Krankenstation. Jessie wandte ihm den Kopf zu und schenkte ihm ein schwaches Lächeln, während er sich näherte. Er konnte nicht verhindern, dass ihn bei diesem Anblick die Tränen in die Augen stiegen. „Die Ärztin hat es dir also gesagt“, murmelte sie, „Es tut mir leid, dass ich dich schon so bald wieder verlassen muss.“ Er griff ihre Hand, umfasste sie mit seinen beiden Händen und ließ sich an ihrer Seite nieder. Eine Träne rann über seine Wange und sie hob ihre freie Hand und strich sie ihm sanft fort. „Du musst nicht weinen.“
„Wie könnte ich es nicht? Die letzten Monate ohne dich waren die Hölle und kaum habe ich dich wieder, wirst du mich bald wieder verlassen. Ich kann aber nicht wieder ohne dich leben. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, als ich versprochen habe, dich bis zu deinem Lebensende zu begleiten.“
Sie lächelte nur traurig. „Bleibst du bei mir?“ Ihre Stimme zitterte, er war sich nicht sicher, ob aus Angst oder aus Schwäche, weil das Gift in ihren Adern ihr das Leben raubte.
Er nickte unter Tränen. „Natürlich.“ Sie rutschte ein Stück zur Seite und er legte sich an ihre Seite, schloss sie fest in seine Arme, während sie einander einfach nur ansahen. Eine einzelne Strähne seines blonden Haares schob sie sanft aus seiner Stirn. „Du wolltest noch etwas erledigen, hast du gesagt.“
„Das ist jetzt ohne Bedeutung.“ Was nützte es ihnen noch, wenn er ihr die Wahrheit sagte? Er würde sein ganzes Leben lang bereuen, dass er es ihr nicht eher gesagt hatte, sodass sie wenigstens die Zeit zusammen hatten, die sie gehabt hätten.
„Sag es mir trotzdem.“
Er schwieg, schaute sie einfach nur an, versank in ihren blauen Augen. Er überbrückte die wenigen Zentimeter zwischen ihnen und küsste sie. Die Tränen liefen ihm über die Wangen und er spürte die Nässe auf ihren. Der Kuss war wunderschön und beide wussten, dass ihnen nicht viele davon bleiben würden. Er löste sich wieder von ihr. „Ich liebe dich. Und ich hätte es dir so viel eher sagen sollen, dann wäre alles vielleicht ganz anders gekommen.“
Sie schluchzte. „Ich liebe dich. Von Anfang an.“
Er zog sie noch fester in seine Umarmung. Und so hielt er sie, bis sie im Morgengrauen ihren letzten Atemzug tat.