Sie nennen mich die dunkle Königin, hinter deren schwarzen Augen sich das Reich der Toten entfaltet. Und vielleicht haben sie Recht damit. Ich bin das Geistermädchen, das mit der Dunkelheit verschmilzt, die in meinem Inneren lauert. Die den Sterbenden die Seelen nimmt, sodass nur eine leere Hülle zurückbleibt.
Sie fürchten mich.
Weil die Menschen manchmal nicht verstehen, dass das, was sie böse nennen, zum Leben dazugehört. Dass es ein Teil dessen ist, was sie gut nennen.
Ich bin die Antagonistin in ihrem Spiel, weil ich in ihren Augen den Sterbenden das Licht, ihr Leben, stehle. Sie verstehen nicht, dass ich eine Bewahrerin bin. Ich bewahre die Seelen der Toten, ich beschütze sie vor denen, die sie den Lebenden rauben, sodass nur ein schwarzes Loch, die pure Finsternis, in einem Menschen zurückbleibt, keine Spur von Licht, von Güte und Menschlichkeit. Eine leere Hülle, ihrer wahren Seele beraubt.
Ich bin das Böse in ihrer Vorstellung, weil die Nächte kalt und dunkel sind. Die größte Macht in dieser Welt ist die Furcht, eine Furcht, die die Menschen verstummen lässt. Sie verschweigen ihre Befürchtungen und ihre Ängste, wenn die Nacht zu dunkel ist. Oft genug habe ich diesen Ausdruck in ihren Augen gesehen. Den Ausdruck, wenn das Wissen um ihre Sterblichkeit zur Realität wird, wenn sich der Tod nähert.
In diesen Momenten bin ich da, um die gefallenen Seelen auf ihre letzte Reise zu schicken. In der langen Zeit meiner Existenz habe ich unzählige Tode miterlebt. Am furchtbarsten sind die Kriege, die Schlachten, die schrecklichen Dinge, die Menschen einander für höhere Ziele antun. Manchmal verstehe ich nicht, warum sie mir die Schuld geben, wenn sie diejenigen sind, die den Tod in die Welt bringen. Wenn sie einander Grausamkeiten antun. Weil sie vergessen, dass der Krieg dafür sorgt, dass man die schönen Dinge auf der Welt vergisst.
Aber die Menschen brauchen das einfache Schema von Schwarz und Weiß, um sich selbst im Licht zu sehen. Um einander töten zu können, müssen sie die Schwärze in der Seele der anderen sehen. Sie vergessen dabei, dass sie damit die Schwärze lediglich in ihre eigene Seele lassen.
Ich fühle die Tode, ich spüre, wie das Leben die Körper verlässt, die nichts weiter als leblose Materie sind. Wie oft habe ich die Seelen der Sterbenden in ihren letzten Momenten begleitet, habe ihren Blick in den Himmel gesehen, als wollten sie ein letztes Mal Hoffnung schöpfen. Viele verstehen nicht, dass sie nun gehen müssen. Dass sie die Welt verlassen werden. Wie oft sind die Gefühle der Sterbenden schon auf mich eingestürzt, Erinnerungen, die nicht die meinen sind. Ich trage viele Erinnerungen in mir, Erinnerungen an Menschen, die nicht länger in der sterblichen Welt weilen. In meinem Reich sammelt sich die Energie ihrer Seelen, eine Energie, die das letzte ist, was auf dieser Welt von ihnen bleibt.
Niemand versteht, wie es ist, die Gefühle und Erinnerungen der Sterbenden zu spüren. Wie soll ich auch Gefühle erklären, die nicht meine eigenen sind? Wie soll ich erklären können, wie es ist, hunderte Male zu kämpfen und zu sterben? An einem einzigen Tag?
Die Menschen fürchten mich, nennen mich das Böse, weil sie es nicht verstehen. Sie verstehen nicht, dass ich kein Diebin bin, sondern eine Bewahrerin.
Ich schaue von oben auf mein Reich, über dem sich ein Netzwerk aus Energie spannt, das die Form eines Baumes angenommen hat, deren Äste sich über das gesamte Reich erstrecken und jede einzelne Seele miteinander verbindet. Seine Blätter schillern in einem sanften Licht, sie wirken so nah und sind doch so weit entfernt. Der Baum der Erinnerungen, der Baum der Toten. Er erscheint nur in der Abenddämmerung während des Sonnenuntergangs. Mit dem Versinken der Sonne hinter dem Horizont und dem Anbruch der Nacht verschwindet er. Auch nach all den Jahren kenne ich sein Geheimnis nicht. Ich weiß, dass er sich mit dem Anbruch der Nacht in einen Drachen verwandelt, der die ältesten Seelen mit sich fortträgt hinter den Horizont. Ich weiß nicht, was dort auf die Seelen wartet. Denn nicht einmal ich kenne alle Geheimnisse des Todes.