Meine Liebe!
Wenn du diesen Brief erhältst, werde ich tot sein. Ich hoffe, dass ich der Letzte bin, der in diesem Krieg stirbt, ansonsten wirst du diesen Brief wohl niemals lesen, weil die gesamte Menschheit ausgelöscht wurde.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich habe es immer getan, seit wir Kinder waren, und ich werde dich für immer lieben. Ich hoffe, dass wir ein gemeinsames Leben haben werden, dafür kämpfe ich, aber wenn ich nicht zurückkehre, will ich, dass du dich bis zum Ende daran erinnerst, dass ich es für uns tat.
Ich weiß, du hast mir einmal gesagt, dass du dir nicht sicher bist, ob der Zerstörer der Welt wirklich ein „Bösewicht“ ist. Du sagtest, jeder habe einen Grund für die Dinge, die er tue. Aber ich kann den Zerstörer nicht verstehen. Ich werde es nie können und deshalb werde ich alles versuchen, um ihn aufzuhalten.
Ich liebe dich!
Sie ließ den Brief sinken, den sie in der Hand hielt. Seine geschwungene Schrift auf einem einfachen Stück Papier – das war alles, was ihr geblieben war.
Manchmal bildete sie sich ein, ihn zu sehen, ihn zu spüren, aber sie wusste, dass er nicht da war. Niemand war mehr da.
Es stimmte. Sie hatte ihm gesagt, jeder Mensch habe seine Gründe. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit, jeder einen Beweggrund für sein Handeln, auch diejenigen, die das Böse in den Augen der Menschen darstellen.
Er hatte versagt. Er hatte versucht, die Krankheit aufzuhalten, die dabei war, die gesamte Menschheit auszulöschen. Er hatte nach einem Heilmittel gesucht und war erfolglos geblieben, weil er das übersehen hatte, was direkt vor seiner Nase lag.
Er hatte versagt, als er versucht hatte, sich dem Zerstörer entgegen zu stellen.
Er hatte versagt, weil er nicht damit gerechnet hatte, sie vor sich zu haben. Sie hatte ihn töten müssen, weil es sein musste, auch wenn es ihr weh getan hatte. Er war der Mensch gewesen, der ihr am meisten bedeutet hatte, aber auch derjenige, der die größte Gefahr darstellte. Sie hatte seine Suche nach dem Heilmittel sabotieren können, aber er hatte nicht aufgegeben. Ihr war keine Wahl geblieben.
Niemand hatte geglaubt, dass sie hinter allem steckte. Ein liebes Mädchen, das immer hilflos und schwach wirkte. Niemand hatte geahnt, was in ihr steckte. Als er die Wahrheit erkannt hatte, hatte er sie gefragt, was aus dem lieben Mädchen geworden war, das sie einmal gewesen war. Das Mädchen, das er geliebt hatte. Sie hatte ihm geantwortet, dass sie einfach gelernt hatte zu akzeptieren, was sie war. Sie hatte nicht mehr unterdrückt, wer sie war.
Sie hatte die Menschheit vernichtet. Dabei hatte sie jedem das gesagt, was er hören wollte: Sie wollte die Welt reinigen, Gott hätte es gewollt, wie es schon bei Noah geschehen war. Doch es war nicht Gott, der die Menschen vernichtet hat, das waren sie selbst gewesen, sie hatte den Prozess bloß beschleunigt.
Diese Welt hatte ein besseres Schicksal verdient, als die Menschheit ihr zugedacht hatte. Menschen enttäuschten ohnehin immer, sie waren schwach und wankelmütig.
Nun war sie die letzte, die letzte nach der Zerstörung der Erde, wie sie alle kannten. Die Menschen waren tot, die Tiere und Pflanzen würden sich nun ihr Reich erobern. Die ersten Ruinen waren bereits von Ranken überwuchert. Die Natur holte sich schnell zurück, was ihr vor langer Zeit gestohlen worden war. Verfallene Häuser schließen Geheimnisse in sich ein, die letzten Hinweise auf die Anwesenheit von Menschen.
Sie stand am Rande eines Sees. Die Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche. Die Reste einiger Schiffe trieben auf dem Wasser, halb versunken ragten sie aus der Tiefe. Auch sie waren nur Reste einer Erinnerung.
1000 Tage waren vergangen, seitdem der vorletzte Mensch gestorben war. Sie war schon lange Zeit vorher ohne menschlichen Kontakt gewesen, nur Einbildungen waren ihr geblieben, mit denen sie reden konnte. Aber sie fühlte sich nicht einsam. Sie genoss die Ruhe, die sie unterbrechen konnte, wenn sie es wollte.
Sie war der letzte Mensch und bald würde sie auch dahingehen. Reue empfand sie nicht. Die Erinnerungen an die Menschen würden vergehen und die Natur würde vergessen. Sie würde wieder leben, wieder stark sein. Und eines Tages würde die Erde auch von den letzten Spuren der Menschheit befreit sein, nur Staub wird von einer versunkenen Kultur bleiben, die der Erde mehr geschadet als genützt hatte. Nun hat die Erde Frieden.
Mit langsamen Schritten betritt sie den See, das Wasser begrüßt sie mit einem leisen Platschen, ihre Schritte senden Kreise als Botschaften in die Mitte des Sees. Auch von ihr wird nichts bleiben, nichts wird die Ewigkeit überdauern. Denn alles ist vergänglich.
Und das hat sie den Menschen bewiesen.