Ich erinnere mich an Niklas als einen netten, durchaus hübschen Jungen. Wir gingen zusammen zur Schule und eine Zeit lang glaubte ich, ich wäre in ihn verliebt. Natürlich war ich zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Ich beobachtete ihn nur zwischendurch aus der Ferne und stellte mir vor, wie er, wenn er mich auf dem Nachhauseweg mit dem Fahrrad überholte, stattdessen neben mir blieb und sich mit mir unterhielt. Ich stellte mir vor, wie ich mit dem Fahrrad stürzte und er zur Stelle war, um mir zu helfen. Er würde mein Held sein, mich zu sich nach Hause nehmen und wir würden uns so gut verstehen, dass er mich nie wieder gehen lassen würde. Ich stellte mir vor, dass seine Familie mich wie selbstverständlich aufnehmen würde, ohne Schwierigkeiten und Probleme, wie sie zu Hause auf mich warteten. Mit ihm würde mein Leben endlich glücklich werden, perfekt.
Natürlich beachtete er mich nie und wenn sein Blick mich streifte, ging er einfach durch mich hindurch. Ganz selten schenkte er mir ein Lächeln, das Hoffnung in mir entfachte und mich für Wochen nur von ihm träumen ließ, bis die Zeit auch diese kleine Flamme der Zuversicht wieder erstickte.
Auch Jahre später stellte ich ihn mir vor. Ich stellte mir vor, wie ich mich auf dem Friedhof um das Grab meines Großvaters kümmerte. Ich würde eine alte Dame sehen, die sich mit der schweren Arbeit an einem anderen Grab abmühte und ich würde ihr meine Hilfe anbieten. Sie würde mich auf ein Stück Kuchen zu sich nach Hause einladen als Dank. Natürlich war sie zufälligerweise die Großmutter von Niklas. Und er würde zufällig an diesem Tag für einen Besuch vorbeikommen und wir würden uns nach all den Jahren wieder begegnen. Er würde sehen, wie sehr ich mich verändert hatte, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Wie offen ich geworden war. Und später würden wir zusammen gehen. Er würde mich ein Stück begleiten und dann fragen, ob wir uns wiedersehen.
Weiter hatte ich nie gedacht, weil ich selbst genau wusste, dass ich zu gebrochen war, um darüber hinaus zu denken. Für mich gab es kein Happy End, auch in meinem Träumen nicht. Sie ließen die Möglichkeit offen, aber ich wusste tief in mir genau, dass sie niemals wahr werden würde und das machte sie wertlos. Meine Träume waren nichts weiter als Asche, die der Wind mit sich forttrug.
Asche, die sich mit der Erde vermischte, die auf dem Grab vor mir lag. Das Foto auf dem Grabstein zeigte sein schönes Lächeln, an das ich mich so gut erinnerte, und das seine Augen strahlen ließ. Eine Erinnerung, gebannt auf Papier, während das Leben, dem es gehört hatte, erloschen war.
Es war ein Autounfall gewesen, der ihn mit 21 Jahren aus dem Leben gerissen hatte. Ein Leben, das viel zu kurz gewesen war. Ein Mensch, der es nicht verdient gehabt hatte, so früh zu gehen, weil er noch so viel vorgehabt hatte und so viel erreicht hätte.
Ich konnte nur den Namen auf dem Grabstein anstarren. Ich konnte nur daran denken, dass ich nie die Gelegenheit gehabt hatte, ihm zu danken, dass er mich manchmal angelächelt hatte.
Warum fallen die Engel als Erste?