Das Wasser der Pfütze ist schlammig braun. Der Regen der vergangenen Tage hat den Boden aufgeweicht, jeder Schritt über den Platz wird von einem Schmatzen des Matsches unter den Füßen begleitet. Die Nässe schleicht sich unter die dünne Kleidung, die der kommenden Kälte des Winters nichts entgegen zu setzen hat.
Aufmerksam mustert das Kind sein Spiegelbild in der Pfütze, verfolgt jeden Zug des Gesichts, das ihm fremd erscheint. Zaghaft hebt es die Hand, im schlammigen Abbild sieht es, wie sich die Hand dem fremden Gesicht nähert, dann spürt es die Berührung an seiner Nase. Fest hält es die Nase mit der Hand umklammert, als wolle es sich vergewissern, dass sie nicht verschwinden würde, sobald das Kind sie losließe. Dann wandert es mit den Fingern weiter, streichelt über die Haut auf ihren Wangen, berührt die Lippen und die Ohren und gleitet schließlich zu den Augen, die sich flatternd schließen. Das Kind sieht nicht, wie die Hand die Augenlider berührt, doch es kann die sanfte Berührung spüren.
Es lässt die Hand wieder sinken und öffnet die Augen. Das Abbild der Pfütze wird von einer leichten Brise, die die Oberfläche des Wassers in Bewegung versetzt, verzerrt. Das Kind fröstelt im kalten Wind, wendet den Blick aber nicht von seinem Spiegelbild ab. Es sucht und sucht und doch kann es nichts finden. Nichts, was es von anderen Menschen unterscheidet. Es hat eine Nase, einen Mund, zwei Ohren, zwei Augen. Es kann die Haut unter seinen Fingern spüren, die sich genau so anfühlt wie bei den anderen Menschen.
Das Kind legt die Hand auf seine Brust, dort, wo das Herz schlägt. Ruhig und gleichmäßig schlägt sein Herz und pumpt unablässig Blut durch ihren Körper. Und mit jedem Atemzug weitet sich die Brust des Kindes und sinkt wieder zusammen. Das Herz schlägt. Das Kind atmet. Es lebt. Ist es nicht das, was ein Mensch ist?
Doch die anderen nennen sie nicht Menschen. Sie nennen sie Flüchtlinge. Migranten. Asylanten. Von Menschen sprechen die anderen nie. Was unterscheidet das Kind von den anderen, dass sie es nicht Mensch nennen wollen? Liegt es daran, dass das Kind eine andere Geschichte zu erzählen hat? Eine Geschichte voller Angst und Unsicherheiten? Weil es nie weiß, wo es schlafen kann, ob es was zu essen findet. Ob es bleiben darf. Denn nirgendwo scheint es willkommen zu sein.
Sollte es nicht anders sein? Sollten Menschen denn nicht zusammenhalten, einander helfen? War Güte, Freundlichkeit und Mitgefühl nicht eigentlich das, was sich hinter der Menschlichkeit verbarg? Aber warum ließen die anderen dann so viele von ihnen sterben? Warum interessierten sie sich nicht für deren Geschichten? Die Geschichten derer, die wie der Vater des Kindes in der Kälte und Dunkelheit des großen Meeres versunken waren? Die Geschichten derer, die wie seine Mutter verzweifelt um das Überleben ihrer Kinder kämpfte, die hungerte, nur damit ihre Kinder einen Bissen mehr zu sich nehmen konnten? Die Geschichten derer, die wie seine kleine Schwester krank geworden waren und die gestorben waren, weil es für sie keine Medizin gab? Die Geschichten derer, die wie sein großer Bruder auf der Flucht von ihren Familien getrennt worden waren, die plötzlich auf sich allein gestellt waren immer in Sorge und Unwissenheit über das Schicksal der Lieben?
Noch einmal betrachtet das Kind sein Spiegelbild. Zwei Ohren. Zwei Augen. Eine Nase. Ein Mund.
Das Herz schlägt. Es atmet. Es lebt.
Doch ist das Kind wirklich ein Mensch? Oder doch bloß ein Wort, dass leicht vergessen ist?