Ich habe in meinem Leben viel verloren und wenig gewonnen und ich weiß, dass meine Zeit abläuft. Schon lange lebe ich nur auf geborgte Zeit, der Tod wartet vor der Tür, die Hand zum Klopfen bereits erhoben.
Ich habe mein Leben gelebt – mit allen Fehlern und Problemen. Vielleicht ist die Krankheit, die mir mit jedem Tag mehr Leben entzieht die Strafe für meine Verfehlungen. Vielleicht sind es aber auch die Freunde, die vor mir gegangen sind und deren Abschied ich erleben musste. Der Schmerz ihres Todes verfolgt mich jede Nacht in den Träumen und lässt sich auch am Tag nicht abschütteln. Wir lernten uns kennen, als wir bereits alle dem Tod ins Auge sahen. Wir hielten zueinander, eine Freundschaft, tiefer als alle zuvor mit dem Tod vor Augen. Unsere Gruppe begann zu schrumpfen, als einer nach dem anderen verschied.
Nun bin ich die Letzte, die noch an dem Ort weilt, den wir alle Zuhause nennen konnten. Ein Ort, wo wir unsere letzten Tage in Frieden verbringen konnten. Ein Zufluchtsort.
Es war der Ort, an dem ich ihn kennenlernte. Einen Jungen, an der Schwelle zum Mann.
Eine letzte gute Sache möchte ich tun, ein Leben will ich retten. Das Leben eines Jungen an der Schwelle zum Mann. Er war krank – so wie wir alle. Doch für ihn gab es Hoffnung, eine Heilung. Aber er verweigerte die Behandlung. Seine Eltern waren bereits gestorben, ich hatte sie gekannt und hatte zusehen müssen, wie auch sie die Welt verließen. Nach ihrem Tod hatte ich seine Betreuung übernommen, ich war zu seinem Freund geworden, der über ihn wachte. Er lag mir sehr am Herzen und bevor ich starb, wollte ich dafür sorgen, dass er weiterleben würde. Ich wusste, er würde alleine sein und das war es, wovor er sich fürchtete. Aber eines Tages würde er ein neues Leben finden und das wollte ich ihm schenken.
Ich spürte seinen Missmut, während wir den verborgenen Pfad entlang gingen. Er hatte mir gesagt, er kannte den Ort, an den wir jetzt gingen. Aber er kannte nur die große Halle. Nicht das eigentliche Herz des Gebäudes. Wir nannten ihn den Goldenen Saal, weil er voller Licht war. Voller Erinnerungen.
Ich konnte das Staunen in seinen Augen lesen, als er den Saal betrat, auch wenn er es zu verbergen versuchte. Die Wände des Saals hingen voller Bilder. Bilder von glücklichen Menschen, lachend, strahlend, bevor sie wussten, was ihnen bevorstand. Bilder von Menschen, die es nicht geschafft hatten.
Die Bilder riefen in mir immer den gleichen altbekannten Schmerz hervor, den der Verlust meiner Freunde hinterlassen hatte. Er musterte mich stumm und sagte nichts, als würde er spüren, dass mir dieser Ort weh tat.
Ich erzählte ihm meine Geschichte. Und die Geschichte jener Seelen, die ich gehen hatte lassen müssen. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich um meine verlorenen Freunde weinte.
Am Ende führte ich ihn zu einer unauffälligen Liste, die in all den Bildern unterzugehen drohte. Die Liste war vollgeschrieben mit Namen, Menschen, die an diesem Ort gestorben waren und ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Es waren 108 Namen. Der letzte auf der Liste war mein eigener.
„Bitte lass deinen Namen nicht Nummer 109 werden“, bat ich ihn mit gebrochener Stimme. 108 Leben hatte ich verloren, ich hatte mein eigenes Leben verloren. Er war der Eine, den ich nicht sterben lassen konnte.
Seine Antwort habe ich niemals erfahren. Aber er wurde nicht die Nummer 109.