Ich schaue sie an. Vielleicht sollte ich Wut empfinden, aber ich tue es nicht. Ich schaue ihn an. Vielleicht sollte ich verletzt sein, aber auch das bin ich nicht. Ich fühle mich nur leer.
Sie alle haben mich für eine Heldin gehalten, haben mich verehrt, auch wenn sie nicht wussten, wer ich bin. Und dann hat sie meinen Platz eingenommen, hat sich als mich ausgegeben, als die Heldin, die alle verehren. Und ich konnte nur hilflos danebenstehen, zum Schweigen verdammt und musste zusehen, wie sie all den Ruhm und die Ehre bekam. Und die Liebe. Der Ruhm kümmerte mich nicht, er war bedeutungslos. Aber die Liebe des Volkes und vor allem seine Liebe war das, was mich stark gemacht hat. Und je mehr sich alle von mir abwandten, desto mehr verlor ich von meinen Kräften – bis nichts mehr übrigblieb.
„Ich danke dir“, grinst der Mann, den ich eigentlich bekämpfen sollte, und fixiert sie. Er war aufgetaucht und sie hatte alle retten, alle beschützen sollen, so wie es immer meine Aufgabe gewesen war. Aber natürlich konnte sie es nicht. Weil alles nur eine Lüge war. Die Enttäuschung über diesen Verrat war beinahe mit Händen unter den anwesenden Menschen greifbar, doch es blieb die Hoffnung, dass die wahre Heldin zurückkehren würde. Aber sie existierte nicht mehr. Es gab niemanden mehr, der sie beschützte, weil niemand mehr an mich geglaubt hatte.
Sie windet sich unter seinem Blick, fühlt sich unwohl. Ich habe kein Mitleid mit ihr, empfinde aber auch keine Genugtuung. Alles ist leer, alles ist verloren. „Es tut mir leid“, murmelt sie.
Er lacht. „Es muss dir nicht leidtun. Du hast meinen Sieg besiegelt. Ist es nicht so?“ Er schaut mich an. Er weiß die Wahrheit, hat mich zielstrebig in der Menge ausfindig gemacht.
Ich spüre die Blicke der Menschen auf mir ruhen, als ich mir meinen Weg zu ihm bahne und mich an seine Seite stelle. Ich gehöre ihm. So ist es vereinbart. Ich habe für das Gute in den Menschen gekämpft, sie haben mich durch ihren Glauben gestärkt. Doch ihr Verrat hat mich meine Kräfte gekostet. Es gibt nichts Gutes in den Menschen. Sie sind einfältig, selbstsüchtig.
Sie wendet mir ihren Blick zu, den ich ausdruckslos erwidere. Tränen der Reue glitzern in ihren Augen. Sie wusste die Wahrheit, hat es ausgenutzt, dass ich keine Stimme habe, um zu protestieren. „Es tut mir so leid“, entschuldigt sie sich wieder. Aber dadurch macht sie nichts wieder gut. Sie bietet mir mein Leben an, will alles zurückgeben, den Ruhm, die Ehre, die Liebe. Vor allem seine, der geschockt neben ihr steht, als sich alles als Lüge erwiesen hat, woran er geglaubt hat. Aber ich will ihr Angebot nicht. Nicht mehr. Es ist zu spät. Mit seiner Liebe habe ich endgültig meine Aufgabe verloren, meinen Selbstwert. Ich bin ein Nichts geworden, so wie ich es immer sein sollte.
„Du hast meinen Sieg besiegelt, Kleine“, erklärt mein Gegner der Verräterin.
„Das war nicht meine Absicht“, beteuert sie.
„Natürlich nicht“, meint er spöttisch, „Du hast nur an deine Selbstsucht gedacht, nur an deine eigenen Träume und Wünsche, hast dir genommen, was dir nicht gehört und damit den Glauben an sie gestohlen.“ Er deutet auf mich. „Euer Glauben an sie hat ihr ihre Kräfte verliehen. Als du ihren Platz eingenommen hast, hat sie alles verloren.“ Er seufzt. „Das war fast ein bisschen zu einfach für meinen Geschmack. Und jetzt gehört sie mir.“
„Nein!“, protestiert er, den ich einst liebte. Bevor er auf eine Verräterin hereinfiel, die ihn täuschte und die er nicht durchschauen konnte – trotz seiner immer wieder beteuerten Liebe zu mir.
Mein Gegner lacht. „Du kannst nichts dagegen tun! Gehen wir“, wendet er sich an mich.
„Das kannst du nicht zulassen! Du musst kämpfen – und wenn es nur für dich ist, weil wir es nicht verdient haben!“, ruft er mir zu. Ich wechsele einen letzten Blick mit ihm, ein letzter Funken meiner Gefühle leuchtet auf und verglüht sogleich wieder. Dann drehe ich mich um und gehe fort.
Mir wurde alles genommen. Nichts bleibt mehr. Ich bin eine Sklavin seines Geistes.
Du musst lernen, an dich selbst zu glauben, erklingt eine Stimme in meinem Kopf. Aber wie soll das gehen?