Das erste Mal, als er ihr begegnete, war er sieben. Sie kam im Traum zu ihm. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ein paar Spitzen ihrer weißen Haare lugte unter der Kapuze hervor, die ihr Gesicht in Schatten tauchte. Wie magisch war er von ihr angezogen worden, er hatte keine Angst verspürt, nur Neugierde. Sie hatten kein Wort gesprochen, aber dennoch hatte er sich von ihr mehr verstanden gefühlt als von seinem ganzen Volk. Schon damals war er immer anders gewesen. Er war verträumt und interessierte sich nur wenig für die Jagd und die alten Traditionen seines Volkes, was seinem Vater, dem Häuptling, nicht gefiel. Er hatte nie wirklich zu den anderen Kindern gepasst geschweige denn zu den Erwachsenen. Aber bei ihr war es anders. Sie schwiegen und er fühlte sich ihr verbunden.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, sagte er niemandem etwas von dem Mädchen in seinen Träumen, auch wenn sie ihm nicht aus dem Kopf ging. Den ganzen Tag konnte er an kaum etwas anderes denken und hoffte, dass sie wieder da sein würde, wenn er sich am Abend auf sein Lager bettete. Niemals zuvor war er so euphorisch schlafen gegangen.
Aber sie kam nicht. Wochenlang hoffte er ständig, sie wiederzusehen, doch sie erschien ihm nicht wieder. Er begann zu zweifeln. War sie vielleicht einfach nur ein Traum gewesen? Kein Geisterwesen aus einer anderen Welt oder gar eine reale Person? Sein Gefühl hatte ihm etwas anderes gesagt, aber konnte er sich sicher sein? Seine Hoffnung schwand mit jedem Tag. Selbst wenn sie nur eine Traumgestalt gewesen war, eine Erfindung seines Geistes, hätte er sie gerne wiedergesehen. Aber so sehr er es sich wünschte, so sehr er sich beim Schlafengehen ihre Gestalt vor Augen rief, er sah sie nicht wieder.
Es verging fast ein Jahr, bevor er sie wiedersah. Er erkannte sie sofort. Ihre weißen Haare waren länger geworden. Noch immer trug sie ihren dunklen Mantel mit der Kapuze, doch er spürte ihren Blick auf ihm ruhen, als er näher auf sie zu kam. Für einen kurzen Moment leuchteten ihre Augen im Dämmerlicht auf und er erhaschte einen kurzen Blick auf ihre violetten Augen. „Du bist zurückgekommen“, brach er das Schweigen zwischen ihnen.
Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und war umso überraschter, als ihre melodische Stimme erklang: „Ich habe immer auf dich gewartet.“
„Du hast auf mich gewartet? Warum?“
„Weil du ein Seher bist. Du bist in der Lage, die Geisterebene zu betreten. So können wir uns hier treffen.“
„Bist du real?“
Sie lachte ein glockenhelles Lachen. „Was bedeutet schon Realität?“
Er wusste keine Antwort.
Von diesem Tag an trafen sie sich fast jede Nacht in seinen Träumen. Er wurde bald süchtig nach diesen Begegnungen und die Nächte wurden seine eigentlichen Tage, während die Tage nur Momente waren, die er zu überdauern hatte, bis er sie wiedersehen konnte. In ihren gemeinsamen Träumen war alles möglich: Er wusste, dass es eigentlich nicht die Realität war, aber dort wurden Wünsche wahr. Sie reisten an fantastische Orte in den Tiefen ihrer Gedankenwelten.
Und so wuchsen sie gemeinsam heran, teilten alle Geheimnisse, Ängste, Wünsche und Sorgen, kannten den anderen besser als irgendjemanden sonst. Sie wurden Freunde, Vertraute. Für sie beide waren ihre Begegnungen so real, wie sie nur sein konnten, auch wenn sie in der eigentlichen Realität vielleicht nicht existierte, für ihn war das ohne Bedeutung. Er mochte sie nicht berühren können, was er oft bedauerte, aber sie war dennoch wirklich für ihn. Sie war die Einzige, die sein Innerstes auf diese Weise berührte, die Einzige, die ihn wirklich verstand. Er wusste nicht viel über ihr Leben, aber auch das war nicht von Bedeutung. Er fühlte sich wohl bei ihr und je älter er wurde, desto mehr begann er die Natur seiner Gefühle zu bezweifeln: War es wirklich nur Freundschaft für ihn? Er sprach nie mit ihr darüber, aber das war auch nicht nötig: Er wusste, dass sie ihn verstand. Sie war in seinen Träumen, sie war seine Träume, sie wusste immer, was er dachte und er wusste oft, was sie dachte. Er spürte, dass auch sie etwas für ihn fühlte, er war ihre Welt und sie war die seine.
Doch es war nicht alles perfekt, wie es schien. Immer mehr Erwartungen richteten sich an ihn in dem Leben außerhalb seiner Träume. Als Sohn des Häuptlings war er auch designierter Nachfolger, auch wenn ihm nichts daran lag. Sein Vater wollte, dass er Verantwortung übernahm, während er nur bei dem namenlosen Mädchen mit den violetten Augen in seinen Träumen sein wollte.
„Ich habe mich am Anfang oft gefragt, wieso ich so oft von dir träume“, sprach er eines Tages zu ihr, „Dabei sollte ich mich eher fragen, ob nicht dein ganzes Ich nur ein Traum von mir ist.“
„Vielleicht ist unser ganzes Leben nur ein Traum. Wer sagt dir, dass das hier nicht die Wirklichkeit ist?“, antwortete sie und ließ ihn ratlos zurück.
Sein Leben wurde immer komplizierter. Sein Vater wollte ihm die Führung seines Volkes überlassen und er suchte ihm eine Frau. Seine Verlobte spürte, dass sein Herz bereits einer anderen Frau gehörte, doch sie konnte nicht mit ihr konkurrieren, weil sie in einer anderen Dimension als sie selbst existierte und sie ahnte nichts, weil er noch immer seine Visionen vom Mädchen mit den violetten Mädchen verschwieg.
Und dann stand sie eines Tages vor ihm. Sie waren auf der Jagd im Wald, keine Beschäftigung, die er gerne machte, aber die notwendig für die Versorgung des Volkes war. Er hatte eine Spur verfolgt, die ihn von den anderen entfernt hatte, als er sie plötzlich mitten im Wald auf einer Lichtung vor ihm stand. Sie trug nicht ihren Mantel, der ihr Gesicht in den letzten Jahren vor ihm verborgen hatte, doch er erkannte sie ohne Schwierigkeiten. Das weiße Haar, die violetten Augen… Und das Gefühl, das sie immer in ihm auslöste. Er konnte sie nur anstarren – nicht nur, weil sie wunderschön war, sondern auch weil er es nicht glauben konnte. Sie lächelte nur. Er streckte die Hand aus und sie folgte seiner Bewegung. Ihre Hand war warm, als er sie mit seiner berührte. Es war elektrisierend, sie endlich richtig berühren zu können.
Sie trafen sich nicht mehr nur in ihren Träumen, sondern auch am Tag. Sie träumten gemeinsam, ein ganzes Leben.
Doch Träume zerplatzen wie Seifenblasen.
Sie stand auf der Lichtung, still und leise, wie immer, und dennoch fühlte es sich anders an als sonst. Sie wirkte abwesend, verklärt, wie ein Traum. Träumte sie? Er schlich näher zu ihr, er wagte kaum zu atmen. Sie reagierte nicht auf seine Anwesenheit. Und als er sie berührte, zerfiel sie unter seinen Händen zu Staub, Staub, den der Wind mit sich forttrug, so als hätte es sie nie gegeben.
Sie kam nie zurück. Fortan war er allein. In seinen Tagen und Nächten, seine Träume waren farblos ohne sie. Das Mädchen mit den violetten Augen war fort – und vielleicht war sie auch nie da gewesen.