Ich erinnere mich an unsere Schulzeit, an die vielen Diskussionen – meist lautstark auf dem Flur mit einer Menge amüsierter Zuschauer. Unsere Streitereien waren legendär. Ich erinnere mich an die vielen schlechten Anmachsprüche, die er mir immer entgegengeschleudert hat und die ich in mühsamer Kleinarbeit auseinandergenommen habe. Seine Sprüche haben mich immer furchtbar genervt und ich war fest davon überzeugt, dass er mich damit nur provozieren wollte. Die Hälfte der Schule glaubte dies ebenfalls. Die andere Hälfte war der Meinung, dass er wirklich bis über beide Ohren in mich verliebt sei und einfach nicht wisse, wie er es mir vermitteln sollte. Ich war an der Schule als Eiskönigin bekannt, kein Junge hatte es je geschafft, mein Herz zu erobern, obwohl viele es versucht haben. Irgendwann war es zu einer Art Spiel geworden und ich dachte, er wäre nur einer der vielen, die es versuchten. Auch wenn er der Einzige war, der nie aufgab. Bis er eines Tages einfach verschwand.
Ich erinnere mich, wie wir uns nach Jahren unerwartet wiedersahen. Es war auf einer Party am See gewesen und ich hatte nicht damit gerechnet, als er mir plötzlich einfach gegenübergestanden hatte – mit demselben unverschämten Grinsen, das ich noch aus unserer Schulzeit kannte. Ich erinnere mich, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Auf eine schräge Art und Weise freute ich mich, ihn wiederzusehen. Vielleicht war es verrückt, aber ich hatte ihn irgendwie vermisst. Wir lieferten uns ein Wortgefecht – ganz wie früher. Er machte dumme Sprüche, die ich abschmetterte, doch in seinen Augen lag ein Glanz, den ich nicht wirklich zuordnen konnte. Ich erinnere mich, was meine Freundin an diesem Tag zu mir sagte. Sie sagte, er hätte mich wirklich gern, denn selbst umgeben von tausend schönen Frauen lande sein Blick immer auf mir. Ich erinnere mich, wie verwirrt ich an diesem Tag war. Weil ich wollte, dass er mich mochte. Und weil ich ihn gleichzeitig für seine Art hasste. Der Tag endete damit, dass ich ihm eine runterhaute, weil er es mit seinen Macho-Sprüchen übertrieb. Doch als meine Freundin und ich gehen wollten, spürte ich in mir das brennende Gefühl, dass ich nicht einfach so gehen konnte. Weil ich Angst hatte, dass wir uns wieder für Jahre aus den Augen verlieren könnten, was ich aber nicht wollte. Aber meine Freundin schien sich getäuscht haben, denn seine Aufmerksamkeit war von einigen sehr freizügig gekleideten Damen gefesselt worden. Augenverdrehend hatte ich mich abgewandt und wir hatten die Party verlassen. Ganz offensichtlich bedeutete ich ihm nicht besonders viel.
Ich erinnere mich an den Traum in dieser Nacht. Er war anders als die meisten anderer meiner Träume, denn für gewöhnlich träumte ich beinahe jede Nacht von einem Mann, mit dem ich mich unterhielt, als wäre er real. Er war immer in Dunkelheit gehüllt und doch kam es mir oft so vor, als würde er wirklich existieren. Irgendwo. Irgendwann. Aber in dieser Nacht unterhielt ich mich nicht mit ihm. In dieser Nacht träumte ich von ihm. An meiner Seite.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich begriff. An dem ich verstand, dass meine Träume Teil einer Welt waren, die neben der unseren existierte. Dass es den Mann aus meinen Träumen wirklich gab – und er niemand anders war als er. Er rettete mir das Leben, als einige seltsame Gestalten mich zu entführen versuchten. Schergen des Dunklen, wie er ihn nannte. Sein Vater, vor dem er mich seit Jahren beschützte. Ich war so wütend, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Er mochte mich beschützt haben und doch sah ich nur, dass er mich manipuliert hatte. Ich dachte, dass er mir die Träume geschickt hatte, in denen ich ihn an meiner Seite sah. Meine Gefühle machten mir solche Angst, dass ich ihn fortstieß.
Ich erinnere mich, wie ich mich von ihm abwandte. Wütend. Verletzt. Verwirrt. Ich ging mit meinem besten Freund, von dem ich annahm, er würde auf mich aufpassen.
Doch dieser verriet mich. Lieferte mich den Schergen des Dunklen aus. Und im letzten Augenblick war er da. Obwohl ich ihn verletzt hatte, obwohl ich ihn fortgestoßen hatte, ihm gesagt hatte, ich würde ihn hassen, war er da, um mich zu beschützen. Ich werde mich für immer an diesen Blick erinnern, an sein Lächeln, mit dem er mir sagen wollte, dass alles gut werden würde.
Es war dieser Moment der Unachtsamkeit, der ihn das Leben kostete.
Der Schuss traf ihn in den Rücken. Er konnte den letzten Angreifer vernichten, aber es war zu spät.
Wie von selbst tragen mich meine Füßen an seine Seite, als er längst zu Boden gegangen ist, ich sinke auf die Knie an seine Seite, schaue ihm in die leuchtenden Augen, aus denen langsam das Licht weicht. Er stirbt. Und es ist meine Schuld.
Er hat mir das Leben gerettet, obwohl ich mich von ihm abgewandt habe. Seine Verletzung ist allein meine Schuld. Weil ich dem Falschen vertraut habe und nur gegangen bin, weil es mir solche Angst gemacht hat, welche Gefühle er in mir geweckt hatte.
Tränen steigen in meine Augen und tropfen auf sein Gesicht, das ich in meinen Schoß gebettet habe. Sein Atem geht schwer. Die Worte drängen sich aus mir heraus, plötzlich ist alles ganz einfach. „Ich liebe dich“, schluchze ich.
„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, dass du es endlich zugibst – ausgerechnet jetzt“, keucht er. Er streckt seine Hand aus, um mich an der Wange zu berühren, seine Augen fesseln meinen Blick. Seine Berührung ist leicht und sanft, seine Kraft verschwindet, als sie langsam wieder zu Boden gleitet.
Ich beuge mich vor und lege meine Lippen auf seine.
Ich kann seinen letzten Atemzug in unserem ersten und letzten Kuss spüren.