„Wenn das nicht der große Balthasar Morrison ist!“ Die spöttische Stimme erklang in seinem Rücken und für einen Moment schloss er die Augen in einem Akt der Verzweiflung. Es war ein anstrengender Tag gewesen, er hatte mit vielen Wählern gesprochen, um sie zu überzeugen, dass er der beste Mann für das Amt des Bürgermeisters war. Er war echt nicht in der Stimmung, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Faizah Crawford, seine Erzfeindin aus der Collegezeit. Keiner hatte sich getraut, sich mit ihm anzulegen, nicht, wo er die gesamte Morrison-Familie hinter sich hatte, die nicht nur reich, sondern auch mächtig war. Alle waren bestrebt gewesen, ihn zu beeindrucken. Die Männer hatten sich bei ihm eingeschmeichelt und die Frauen hatten sich aufgetakelt, bis er sie bemerkte – und sie gerne mal für eine Nacht mit zu sich nach Hause nahm. Aber nicht Faizah. Sie stammte aus dem Armenviertel der Stadt und auch wenn er nie mit ihr über ihre Kindheit oder ihre Vergangenheit gesprochen hatte – genau genommen hatten sie ohnehin nur lautstark in der Öffentlichkeit brisante Themen ausdiskutiert – wusste er, dass sie es wohl nicht immer leicht gehabt hatte und früh gelernt hatte, sich durchzusetzen und sich zu verteidigen. Sie hatte es über ein Stipendium an das College gebracht, auf dem die meisten Kids aus reichen Familien stammten, und auch dort war es für sie nie leicht gewesen, woran er wohl auch nicht ganz unschuldig gewesen war. Aber er hatte es ebenso genossen wie es ihn frustriert hatte, dass sie ihm so energisch und stur entgegentrat, wo doch die meisten Menschen immer nur seine Meinung nachplapperten. Nach dem College waren sie getrennte Wege gegangen und bis heute hatte er sie nicht wiedergesehen, obwohl er gehört hatte, dass sie immer wieder als Aktivistin auffiel – wenn sie nicht gerade im Ausland bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘ arbeitete. Er bewunderte sie für ihre Courage, auch wenn er das vor ihr nie zugeben würde. Ein Wiedersehen hatte er sich jedenfalls anders vorgestellt, irgendwann, wenn er nicht so müde war, und keine Lust hatte, sich mit ihrer Streitlustigkeit zu befassen.
Er setzte sein antrainiertes Lächeln auf und drehte sich herum. „Faizah Crawford, wie schön, dich wiederzusehen.“
Sie zog lediglich unbeeindruckt die Augenbrauen nach oben. Sein Charme hatte bei ihr noch nie funktioniert. „Du siehst müde aus. Ist es so anstrengend, immer dieses falsche Lächeln aufzusetzen und den Leuten Honig ums Maul zu schmieren und ihnen zu sagen, was sie gerade hören wollen?“ Herausfordernd funkelte sie ihn an.
„Ich hatte ganz vergessen, wie wenig du von Politikern hältst“, spottete er.
„Politiker interessieren sich nur für sich selbst und die Politik ist voller Machtspiele und Intrigen. Niemand kümmert sich darum, was für das Volk das Beste ist, weil die meisten Politiker mit einer goldenen Nase geboren werden und keine Ahnung vom richtigen Leben haben!“
„Jetzt wirst du unfair.“
„Bist du etwa nicht in eine reiche Familie geboren?“ Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten, da sie beide wussten, dass es nur eine rhetorische Frage gewesen war, und fuhr fort: „Ich hatte ganz vergessen, wie schwer du es im Leben hattest!“
Sie hatte keine Ahnung, wie es war, unter einem dominanten Vater zu leben und sich ständig bemühen zu müssen, um ihm auch ja alles recht zu machen, da es ansonsten Schläge gab. Doch er würde einen Teufel tun und ihr davon erzählen, stattdessen höhnte er: „Ich habe nicht gesagt, dass du bezüglich mir Unrecht hast, ich sagte lediglich, dass du nicht alle Politiker über einen Kamm scheren kannst.“
„Wow, so viel Einsicht hätte ich dir gar nicht zugetraut“, spottete sie weiter.
Er streckte provozierend die Arme aus. „Tja, Schätzchen, ich habe mich seit dem College verändert. Ich bin viel weiser geworden.“
Sie hatte die Frechheit zu lachen und er verspürte das Bedürfnis, sie zu erwürgen. Oder zu küssen. Hauptsache, sie hielt endlich den Mund. Dieses Gefühl hatte er zuletzt im College gehabt. Sie war die Einzige, die ihn so in Rage bringen konnte. „Das glaube ich kaum. Du siehst noch genauso aus wie damals!“
„So gutaussehend? Danke, Baby!“ Er zwinkerte ihr zu.
„Versnobt!“, korrigierte sie und funkelte ihn böse an.
Er grinste bloß. „Hast du mich nur angesprochen, um mich anzupöbeln?“
„Du kannst mich mal, Arschloch!“
„Wer wird denn hier gleich so ausfällig werden?“
„Ich geb dir gleich ausfällig!“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und er hob nachgebend die Arme, obwohl er sich das spöttische Grinsen nicht verkneifen konnte. Er zweifelte trotzdem keine Sekunde daran, dass sie ihm wehtun würde.
„Was hältst du davon, wenn wir dieses Gespräch ein wenig zivilisierter angehen? Ich gebe dir einen Kaffee aus und du hast in aller Ruhe Zeit, mir alle deine Kritikpunkte darzulegen, die dich an meiner Person oder an meiner Politik nicht gefallen“, schlug er vor. Sie hatte ihn damals so manches Mal auf einen anderen Blickwinkel gestoßen. Faizah sprach für die kleinen Leute und die wollte er erreichen.
Sie zögerte für einen Moment und nickte dann zu seiner Überraschung. „Na schön.“
Hoffentlich war ihre Liste nicht zu lang…
Ihre Liste war viel länger, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Sie fragte ihn Löcher in den Bauch, was er genau im Amt vorhatte zu tun und über die meiste Dinge, die ihr anscheinend wichtig waren, hatte er sich bisher wenig Gedanken gemacht und natürlich bohrte sie erst recht nach, als sie es merkte. Es würde noch eine Menge Arbeit auf ihn zukommen, wenn er wirklich Bürgermeister werden wollte. Und er fürchtete, dass er die beste Hilfe beim Feind bekommen würde. Seine größte Kritikerin könnte seine wichtigste Verbündete werden. „Du hast nicht zufällig Lust, meine Wahlkampfberaterin zu werden?“, warf er ein und unterbrach sie gerade bei einer ihrer Tiraden.
Für einen Augenblick war sie aus dem Konzept gebracht, dann schnaubte sie missbilligend. „Ich habe einen Job, der viel wichtiger ist als dein dummer Wahlkampf. Und warum sollte ich für einen reichen Snob arbeiten?“
„Vielleicht, weil du damit die Chance hättest, deine eigenen Ideen einzubringen? Betrachte mich einfach als formbare Masse!“, schlug er vor. Sie schnaubte wieder, schien aber darüber nachzudenken und er setzte nach. „Ich würde dich auch bezahlen. Sehr gut sogar.“
Faizah verdrehte die Augen. „Das war klar.“
„Und was sagst du?“
Sie seufzte. „Na schön. Aber ich habe Bedingungen.“
„Lass hören.“
„Okay, erstens: Keine Albernheiten oder lächerliches Verhalten. Keine Frauengeschichten, sondern produktive Arbeit!“
„Also bitte, was hältst du von mir?“
Sie warf ihm nur einen Blick zu, der ihm alles verriet.
Er hob die Hände. „Okay, okay, einverstanden. Sonst noch was?“
„Ja, du hörst mir aufmerksam zu und hörst auf mich. Und keine Versprechen, die du nicht halten kannst!“
„In Ordnung.“
„Und zuletzt: Du spendest meine Bezahlung an Ärzte ohne Grenzen.“
„Einverstanden. Also haben wir eine Abmachung?“ Er hielt ihr seine Hand hin.
Sie schlug nach einem kurzen Zögern ein. „Die haben wir.“
So hatte ihre erste Begegnung seit dem College ausgesehen. Sie hatten zusammengearbeitet, Faizah war unermüdlich gewesen und hatte ihm kaum eine Sekunde Ruhe gegönnt, aber er musste zugeben, dass ihre Ideen gut waren und sie kamen auch gut beim Volk an. Sie verschaffte ihm tatsächlich die Stimmen, die er brauchte, um zum Bürgermeister gewählt zu werden. In all der Zeit hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, sich besser kennengelernt und ihm war ihre unnachgiebige Art regelrecht ans Herz gewachsen. Sie wusste, was sie wollte und setzte es durch. Es hätte ihn also nicht wundern sollen, dass sie nach getaner Arbeit zu ihrer eigentlichen Berufung zurückkehren wollte. Er erinnerte sich noch gut an ihre letzte Begegnung…
„Und du willst wirklich gehen? Ich könnte deine Hilfe echt gebrauchen, das weißt du?“ Seine Stimme klang neutral und er gab sich gleichmütig, obwohl er nichts lieber gehabt hätte, als wenn sie bei ihm geblieben wäre.
„Du hast dich ziemlich gut gemacht, du kriegst das auch ohne mich hin“, entgegnete sie locker.
„Wow, war das gerade beinahe ein Kompliment?“
Sie verdrehte die Augen und stieß ihm gegen den Arm. Selbst das würde er vermissen, obwohl sie einen guten Schlag draufhatte, der ihm schon den ein oder anderen blauen Fleck eingebracht hatte.
Er seufzte. „Dann pass wenigstens auf dich auf, ja?“
„Höre ich da etwa Sorge um mich?“, zog sie ihn auf.
„Ich kann es mir nicht leisten, meine größte Kritikerin zu verlieren“, gab er zurück.
„Ach, keine Sorge, ich werde ein paar Freunde von mir dazu anstiften, dich regelmäßig mit Kritik zu überschütten. Und wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, können wir gerne noch mal wieder einen Kaffee trinken, in Ordnung?“ Sie zwinkerte ihm zu und verließ dann sein Büro.
Er schaute ihr hinterher und seufzte. Er würde sie vermissen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass er sie nie wiedersehen würde.
Die roten Blumen vor dem Grabstein mit ihrem Namen waren ein viel zu greller Farbklecks vor dem grauen Stein, den man als Erinnerung an sie aufgestellt hatte. Es gab kein Grab, ihre Leiche war wie die hunderter anderer nie gefunden worden.
Es war ein Einsatz gewesen. Sie hatte im Katastrophenteam von ‚Ärzte ohne Grenzen‘ gearbeitet. Ein Erdbeben in Südamerika mit vielen Toten und Verletzten sollte ihr letzter Einsatz werden. Ein Nachbeben löste ein Tsunami aus. Das Krankenhaus, in dem sie sich um die Verletzten gekümmert hatte, war vom Wasser vollständig verschluckt worden. Ihr Körper war hinaus aufs Meer getragen worden, eine Reise ohne Wiederkehr.
Er hätte sie aufhalten müssen, als sie gehen wollte, obwohl er genau wusste, dass nichts sie hätte halten können. Er vermisste sie.
Er hätte ihr sagen sollen, dass er sie geliebt hatte.