Sie schaute ihm in die Augen, die ihr so vertraut waren, auch nach all der Zeit, in der sie ihn nicht gesehen hatte. So viel Zeit, in der sie ihn vermisst hatte. Ihre große Liebe.
In der Schule waren sie ein Paar gewesen. Und obwohl ihre Leben kaum unterschiedlicher hätten sein können – er, der Erbe einer reichen Firma, sie, das mittellose Mädchen aus den Armutsvierteln der Stadt – waren sie zu einem dieser Pärchen geworden, von denen man ausging, dass sie ihr ganzes Leben zusammenblieben. Es war einfach perfekt mit ihnen gewesen, sie hatten einander verstanden und hatten sich ergänzt, wo sie einander nicht ähnlich gewesen waren. Sie hatte selbst geglaubt, dass es für immer halten würde.
Und dann kam der Abschlussball. Sie hatte gedacht, dass sie nun gemeinsam in eine aufregende, neue Zukunft starten würden. Doch dann hatte er ihr eröffnet, dass es für sie beide keinen gemeinsamen Weg geben würde. Er hatte sich von ihr getrennt, ihr Herz in tausend Scherben zerbrochen, die sie nur mit viel Zeit und Geduld wieder zusammengeflickt hatte. Dennoch hatte sie nie aufgehört, ihn zu vermissen, hatte nie aufhören können, ihn zu lieben.
Während ihr Leben beständig abwärts gegangen war, war sein Leben perfekt gelaufen. Manchmal hatte sie in den Zeitungen von ihm gelesen, er war in die Firma seines Vaters eingestiegen und gemeinsam hatten sie sie zu noch größerem Erfolg geführt. Sie hingegen hatte nach drei Semestern das Medizinstudium abbrechen müssen, um sich um ihre schwerkranke Mutter zu kümmern. Mit Gelegenheitsjobs, die aus harter Arbeit und schlechter Bezahlung bestanden, hatte sie versucht, sie beide über Wasser zu halten. Und dann war ihre Mutter gestorben, der letzte Mensch, der ihr noch geblieben war. Aber sie hatte sich wieder aufgerappelt, weitergekämpft und wollte dem letzten Wunsch ihrer Mutter folgend das Studium beenden und Ärztin werden. Menschen helfen. Aber nachdem sie ihr Stipendium verloren hatte, hatte sie keine Möglichkeit mehr, ihr Studium zu finanzieren und die einzige Chance war ein Ausbildungsplatz als Krankenschwester gewesen. Es war nicht das, was sie sich einst erträumt hatte, aber besser als nichts.
Und gerade als sie sich wieder gefangen hatte, kam die Diagnose. Hirntumor. Inoperabel. Bösartig. Die Ärzte gaben ihr noch sechs Monate. Sie hatte weiter gemacht, als wäre nichts. Was sollte sie auch anderes tun? Sie hatte niemanden und alle Wünsche, die sie einst gehabt hatte, waren unerfüllbar. Doch schließlich hatten die Symptome ihr unmöglich gemacht, weiterzuarbeiten und sie war beurlaubt worden. Auf unbestimmte Zeit. Aber im Grunde bedeutete es nur, bis sie sterben würde.
Und heute, vier Monate nach der Diagnose, war sie plötzlich ihm über den Weg gelaufen. Einfach so. Und all die vergessenen, verdrängten Gefühle waren wieder da gewesen. Sie hatte ihm ansehen können, dass es ihm genauso ging. Schon immer war es ihr leichtgefallen, hinter seine Fassade zu blicken und dort wartete derselbe Schmerz, dieselbe Sehnsucht wie sie sie kannte.
Sie waren in ein Café gegangen, hatten wie in alten Zeiten miteinander geredet. Er hatte ihr erzählt, dass sein Vater ihn damals unter Druck gesetzt hatte, weil sie nicht ‚standesgemäß‘ sei. Und er hatte nachgegeben – ein Fehler, den er bis heute bereute. Er bat um eine zweite Chance. Und sie wünschte, sie hätte die Zeit, um sie ihm zu gewähren. Um ihn beweisen zu lassen, dass er es bereute, sie gehen lassen zu haben. Aber ihnen blieb keine Zeit mehr.
„Ich werde sterben“, sagte sie, den Blick auf ihre Tasse gerichtet. Sie wollte ihn nicht ansehen, wollte ihm nicht diesen Kummer bereiten. Aber es gab nichts, was sie tun konnte.
„Wir alle sterben irgendwann“, entgegnete er irritiert. Er verstand es nicht – oder wollte es nicht verstehen.
„Ich bin todkrank“, erklärte sie. Dieses Mal hob sie den Blick, sah den Schmerz in seinen Augen aufblitzen.
„Wie lange hast du noch?“, brachte er erstickt heraus.
„Zwei Monate. Vielleicht mehr, vielleicht weniger.“
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was er tun sollte. Es gab nichts, was er tun konnte. Denn mit keinem Geld der Welt konnte man Zeit kaufen.