Der Wächter war eine Legende. Eine lebende Legende. Denn auch wenn kaum jemand ihn jemals gesehen hatte und kaum jemand etwas Genaueres über ihn wusste, so gab es doch viele wilde Gerüchte – und die Tatsache, dass er jedes Jahr kam, um eine Frau zu fordern. Niemand wusste, was mit den Frauen geschah, denn keine kehrte jemals zurück. Die wildesten Geschichten kursierten über das Schicksal dieser Frauen. Und keine Frau war sicher vor ihm: Ob jung oder alt, ob verheiratet oder ledig, ob klein oder groß – er wählte sie nach keinem erkennbaren Muster aus. Und keiner wusste, wie er seine Auswahl traf, ob er eine Möglichkeit hatte, uns zu beobachten oder ob er Geschichten hörte. Wenn die Zeit kam, nannte er unserem Anführer einen Namen und dieser brachte die Frau innerhalb eines Tages zu ihm. Widerstand war zwecklos.
Und so kam der Tag, an dem mein Name fiel. Mir blieben nur wenige Stunden, um Abschied von meiner Familie und meinen Freunden, von meinem ganzen Leben zu nehmen, bevor ich mich in ein ungewisses Schicksal aufmachte.
Auf den ersten Blick war er genau so wie ich ihn mir vorgestellt hat: in einen langen dunklen Mantel gehüllt und mit rabenschwarzem Haar war er eine finstere Erscheinung. Ich konnte die Angst nicht leugnen, die sich bei seinem Anblick in mein Herz schlich, aber da war noch etwas Anderes tief in mir, eine Verbindung, die nur darauf wartete, seine Kraft zu entfalten.
Er brachte mich in eine Welt, die sich auf schreckliche Art und Weise von der meinen unterschied. Wo ich nur Wälder und Wiesen gekannt hatte, offenbarten sich mir nun Berge aus Metall und Schrott, die unter einem giftig-orangen Himmel lagen. In seinem Unterschlupf erwartete mich eine wunderschöne Frau mit langen, schwarzen Haaren und gebräuntem Teint, die damit das genaue Gegenteil von mir war. Ich erinnerte mich daran, dass sie im letzten Jahr erwählt worden war.
Der Wächter ließ mich weitgehend in Ruhe, während ich mich einlebte, was mir nur recht war. Ich fühlte mich unwohl, wenn er in meiner Nähe war, aufgrund dieser Mischung aus Angst und diesem Gefühl der Verbindung, das ich nicht verstand, und so blieb ich auf Distanz. Dennoch begann ich langsam zu verstehen, dass er vielleicht unterkühlt wirken mochte, aber auch gütig war, freundlich und fürsorglich. So erzählte mir die andere Frau von seiner Aufgabe. Dass er die Menschen vor der Dunkelheit beschützte, die hinter den vielen Portalen lauerte. Und dass er immer auf der Suche war nach der Frau, die dazu bestimmt war, diese Dunkelheit zu vernichten, den Weg durch die Portale zu finden zu der verborgenen Welt der Finsternis. Sie erzählte mir von ihrer kleinen Tochter, die sie sehr vermisste, aber die sie durch ihre Hilfe, die sie dem Wächter schenkte, zu beschützen versuchte. Sie zeigte mir das Foto von dem kleinen Mädchen mit den zwei Zöpfen und Zahnlücke, das er ihr mitgebracht hatte, weil er Verständnis für ihren Kummer hatte und ihn zu lindern versuchte, selbst wenn das Schicksal einen anderen Weg für sie bestimmt hatte.
Ich erzählte ihr von meiner Furcht, von den Gerüchten über Vergewaltigungen und irgendwelchen Züchtungsvorstellungen und sie beruhigte mich mit einem Lachen über die Absurdität dieser Geschichten. Der Wächter habe noch keine Frau in sein Bett gezwungen. Natürlich habe es mit den Frauen die ein oder andere Liaison gegeben, aber es sei immer die freie Entscheidung der Frauen gewesen. Und von Züchtungen könne auch nicht die Rede sein, denn die Prophezeiung besage, dass er nur mit der Auserwählten ein Kind zeugen könne, ein Kind, das eine unglaubliche Macht in sich vereine und die Dunkelheit besiegen könnte – obwohl es auch ein Teil davon wäre. Der Wächter sei nicht das Monster, für das ihn alle hielten.
Während ich über die Worte der Frau nachsann, begann ich den Sog der Portale zu fühlen. Trotz der Furcht vor dem, was ich mich erwarten könnte, gelangte ich in fremde Welten voller Wunder und Schrecken. Als er herausfand, dass ich die Portale durchschritten hatte, war er nicht wütend, wie ich zunächst angenommen hatte, sondern vielmehr besorgt und von da an begleitete er mich bei meinen Streifzügen. Er war mir ein sicherer Begleiter und auch wenn wir nicht viel sprachen, da er sehr wortkarg war, fühlte ich mich ihm mit jeder gemeinsamen Reise näher. Und ihm schien es ähnlich zu gehen, auch wenn ich nicht verstand, was er an mir finden konnte, wo er doch diese wunderschöne Frau in seinem Unterschlupf leben hatte. Aber da war diese Verbindung unserer Seelen, gegen die wir uns irgendwann nicht mehr wehren konnten und irgendwann kam der Moment, an dem ich mich ihm hingab, an dem auch unsere Körper eins wurden.
Manchmal ging er fort. Ich wusste nicht, wohin er ging und auch die andere Frau konnte es mir nicht sagen. Und einmal wurde die Anziehung der Portale so groß, dass ich durch eines hindurchschritt, ohne auf ihn zu warten. Die Welt, die mich erwartete, war wunderschön. An einem großen See lebten viele Frauen, die mir mit viel Freundlichkeit begegneten. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie alle meine Vorgängerinnen waren. Und einige von ihnen warnten mich vor dem Wächter. Sie warnten mich davor, dass hinter seiner Fassade eine Dunkelheit lauerte, die alle Welten verschlingen könnte.
Er kam mir nach, ein stiller Begleiter und Beschützer, der mir keine Vorwürfe über mein Verschwinden machte, sondern einfach bei mir blieb in dieser Nacht unter dem Sternenhimmel, während die Funken des Lagerfeuers über den dunklen See tanzten. Es war diese Nacht, in dem ich ihm meine Vermutung mitteilte, die Ahnung, die sich schon eine Weile in mir festgesetzt hatte. Das Wissen, das in mir ein Kind heranwuchs. Sein Kind. Ich war schwanger. Als Antwort sagte er, er wisse es. Er hatte es längst gespürt, hatte gewusst, was diese Verbindung zwischen uns bedeutete. Hatte gewusst, dass seine lange Suche mit mir ein Ende gefunden hatte.
Selbst die andere Frau konnte es spüren. Sie, die sich auch einige Male auf ihn eingelassen hatte, sagte, es sei nicht dasselbe mit mir wie mit den anderen Frauen. Dass er mich aufrichtig lieben würde, obwohl ich so still und unauffällig war, aber ihm mit einem guten Herzen begegnete. Dass er seine Zuneigung nur über die körperliche Erfahrung ausdrücken konnte und er ganz anders mit mir umgehe.
Bald begannen die Träume. Träume, in denen ich zwischen den Portalen umherwanderte, auf ein Gefühl vertrauend, das ich nicht mit dem Verstand zu fassen vermochte. Es war wie eine Eingebung von einer unbekannten Macht, eine Eingebung, die mir den Weg wies. Eine Macht, die mich zu sich rief. Er warnte mich davor, mich auf die Suche nach dem schwarzen Loch, nach dem Portal der Mitte zu begeben und es war der erste Moment, an dem ich ihn wirklich ärgerlich und aufbrausend erlebte und die Dunkelheit spürte, vor der mich die Frauen gewarnt hatten. Ich wollte seiner Anweisung folgen, doch die Anziehung war zu stark. Und so machte ich mich auf zu dem Ort, den er so lange so verzweifelt gesucht hatte und von dem er mich so dringend fernhalten wollte.
Und erst an meinem Ziel begann ich zu begreifen. Ich begriff, dass er selbst die Dunkelheit der Welt war. Dass mein Kind ein Teil davon war. Und dass ich diejenige sein sollte, die ihn vernichtete.