Vom Fernsehbildschirm leuchtete ihr sein Foto in gestochenen Details entgegen, regelrecht anklagend. GESUCHT, stand in Großbuchstaben unter seinem Foto. Ein Foto, das so gar nicht zu ihm passen wollte, viel zu streng, keine Spur von dem Lächeln, das er sonst immer auf den Lippen trug. Das Lächeln, in das sie sich verliebt hatte. Verliebt in das fröhliche Funkeln in seinen Augen. Augen, die auf dem Bildschirm langweilig aussahen. Sie mussten sein Passfoto genommen haben. Keines, auf denen er wie ein normaler Mensch aussah, der er offenbar nicht war. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt.
Vor sechs Monaten war er in ihr Leben geplatzt, plötzlich war er da gewesen und es war schnell mit ihnen gegangen. Vielleicht zu schnell. Aber sie hatten beide eine Verbindung gefühlt, hatten sich gut verstanden, einander zum Lächeln gebracht. Warum hätten sie dem nicht nachgeben sollen? Und jetzt das – er hatte Fähigkeiten, von denen andere nur träumen konnten. Im ersten Moment hatte sie es nicht glauben wollen, aber sie hatten Videos angefügt, auf denen eindeutig zu erkennen war, wie er Elektrizität manipulierte. Und dann war ihr eingefallen, wie er einmal gesagt hatte, dass manche Gabe ein Fluch sei. Damals hatte sie es nicht verstanden, doch jetzt begriff sie, worauf er angespielt hatte.
Im Fernsehen hieß es, dass er auf der Flucht sei. Warum hatte er sich nicht bei ihr gemeldet? Vertraute er ihr nicht? Oder glaubte er, dass die Beamten, die ihn verfolgten, sie überwachen würden? Sie hoffte, dass er wusste, dass sie ihm helfen würde, wenn er sich bei ihr melden würde. Sie wusste aus tiefster Überzeugung, dass es nicht stimmte, was im Fernsehen gesagt wurde. Dass er Menschen getötet hätte. Er war Kinderarzt, der mit einer Leidenschaft für jedes einzelne Leben, für jeden einzelnen Patienten kämpfte, ihnen zuhörte und kleine Geschenke und Geschichten mitbrachte. Er litt mit ihnen mit. Schon einige Male hatte sie seine Tränen trocknen müssen, wenn er einen Patienten verloren hatte. Er war ein herzensguter Mensch. Niemals würde er jemanden töten. Höchstens in Notwehr. Und so wie die Soldaten im Video gegen ihn vorgegangen waren, obwohl er ihnen nichts getan hatte, bevor sie ihn provozierten, konnte sie es absolut verstehen.
Obwohl sie ahnte, dass es sinnlos sein würde, rief sie ihn auf seinem Handy an. Sofort ging die Mailbox ran und seufzend legte sie das Telefon wieder weg. Wie sollte sie ihn finden? Sie würde ihn gewiss nicht dort draußen alleine lassen. Mochte er seine Gabe als Fluch betrachten, sich selbst als Monster sehen, sie würde das niemals glauben.
Er wünschte sich ein normales Leben und wenn er es nicht bekommen sollte, dann würde sie mit ihm ein unnormales Leben führen.