Er beobachtete sie aus der Ferne. Beobachtete, wie sie ihre Büchertasche schulterte und den Klassenraum verließ. Beobachtete, wie sie über den Flur lief und dabei völlig unbeachtet blieb. Beobachtete, wie sie dem Kapitän des Eishockey-Teams auswich, der mit seinen beiden besten Freunden wieder einmal durch die Flure lief, als würden sie alleine ihm gehören. Als sie kurz danach auch ihn passierten, hörte er, dass sich ihr Gespräch wieder um die Eisläuferin drehte, die seit vergangener Woche Gesprächsthema Nummer Eins im Eishockeyteam, besonders bei dem Kapitän, aber auch in der ganzen Schule zu sein schien, wobei die Meinungen gespalten waren.
Beim letzten Spiel des Eishockey-Teams der Schule war die Eisläuferin in der Pause aufgetaucht. Sie hatte eine Maske getragen, aber vermutlich wäre sie auch ohne kaum zu erkennen gewesen, denn plötzlich waren die Lichter ausgegangen und nur sie hatte noch durch in ihrer Kleidung angebrachte Lämpchen geleuchtet – und hatte so ihre Botschaft präsentiert, während sie ihre Akrobatik auf dem Eis zur Schau gestellt hatte. Sie hatte die Farben des Regenbogens getragen. Ihre Forderung nach Freiheit und Akzeptanz aller Menschen gleichermaßen, gleich welcher sexuellen Orientierung. Und es war gewiss kein Zufall, dass dieser Auftritt nur eine Woche nach dem Schulwechsel einer Schülerin erfolgt war, die nach ihrem Outing aufgrund ihrer homosexuellen Orientierung ziemlich gemobbt worden war. Und es war sicher auch kein Zufall, dass besagte Schülerin ihre beste Freundin war. Und doch hatte keiner diese naheliegenden Schlüsse gezogen. Weil niemand ihr so etwas zutrauen würde. Weil niemand sie wirklich sah.
Während also die ganze Schule versuchte, das Rätsel um die Eisläuferin zu lösen, während die eine Hälfte ihren Mut bewunderte und sie feierte, die andere Hälfte ihr aber die Störung der heiligen Eishockey-Hallen übelnahm, war er der Einzige, der genau wusste, wer sie war. Ein Wissen, dass der Eishockey-Kapitän nur zu gerne hätte, der so weit gegangen war, sogar Aushänge in der Schule zu machen, dass sie sich doch bitte bei ihm melden sollte – und als Belohnung einen Kuss von sich selbst anbot. Der Kapitän war eben ausgesprochen von sich selbst überzeugt. Ihm war nicht ganz klar, ob es dem Kapitän darum ging, sie zu finden, weil sie die Aufmerksamkeit von ihm selbst abgelenkt hatte oder ob er nicht doch auch tatsächlich beeindruckt war. Vielleicht hatte er zu viele Filme gesehen und sich in sie verliebt, nur weil sie ihn herausgefordert hatte. Aber da sie es dem Kapitän nicht sagen würde – davon war er überzeugt -, würde der es nie erfahren. Er war einfach nicht aufmerksam genug für die Dinge, die außerhalb seines Selbst lagen. Nicht so wie er.
Der Kapitän hatte nie einen Blick auf die Schüchterne, die Ruhige der Klasse verschwendet. Er hatte sich nie neben sie gesetzt, nie mit ihr in Chemie zusammengearbeitet. Er hatte nie gesehen, wie sie nervös mit ihrer Kette spielte. Und er hatte ganz gewiss nicht eben diese Kette an dem Eingang auf die Eisfläche gefunden, den die mysteriöse Eisläuferin benutzt hatte. Gut, zugegeben hatte der Kapitän auch nicht zufällig direkt neben dem Eingang gesessen. Und doch war er überzeugt, dass er die schmale Kette sicherlich übersehen hätte, wenn es so gewesen wäre.
Er ging gerne zu den Spielen, aber nicht, weil er die Mannschaft besonders mochte oder das Eishockeyspielen an sich. Er liebte lediglich das Knacken, Knirschen und Kratzen des Eises unter den Kufen. Er hatte nie Eislaufen gelernt, aber er stellte sich gerne vor, wie es sein musste mit unglaublicher Geschwindigkeit über das Eis zu fegen, sich in Kurven zu legen, dieses großartige Gefühl von Schnelligkeit und Freiheit und Grenzenlosigkeit des Körpers, dass es nichts gab, was einen aufhielt. Und sie hatte es auf eine Weise verkörpert, die ihn atemlos zurückgelassen hatte. Wie gerne würde er dieses Gefühl einmal selbst erleben!
Wie jede Mittagspause hatte sie sich auf eine Bank in einer Ecke gesetzt und gerade ein Buch herausgeholt, als er sich neben sie setzte. Mit einem schüchternen Lächeln hielt er ihr ihre Kette hin. „Die hast du verloren.“
Für einen Augenblick wirkte sie überrascht, dann nahm sie die Kette mit einem leisen „Danke“ entgegen. Und als sie sein Lächeln erwiderte, wussten sie beide, dass sie fortan ein Geheimnis teilten.