Wie jeden Tag der vergangenen Woche fand ich mich auch an diesem Abend in der mir mittlerweile vertraut gewordenen Gasse wieder. Sie war dunkel, es gab keine Lampen, die die Dämmerung erhellen könnte, geschweige denn die Finsternis der Nacht, die bald hereinbrechen würde. So wie jeden Abend der vergangenen Woche. Ich kannte das kleine Rinnsal an Wasser, das sich in der Mitte der Gasse seinen Weg bahnte. Dem Geruch nach war es vermutlich nicht nur Wasser. Vielleicht war aber auch die alte, verbeulte, schmutzige Mülltonne ein paar Meter weiter der Grund für den Gestank. Es kümmerte mich nicht, ich war nicht wegen der Gasse hier oder weil ich mich hier so wohl fühlte. Ich war auf der Suche und das war wohl noch verrückter als alles andere. Ich war auf der Suche nach dem Mann, durch den ich meinem Tod ins Auge geblickt hatte.
Eine Woche war seit unserem Zusammentreffen in genau dieser Gasse vergangen. Genau sieben Tage war es mittlerweile her, dass er mich angegriffen hatte. Ich hatte in seine roten Augen gesehen, in denen etwas lag, das mich faszinierte. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, während der wir uns nur in die Augen sahen. Und ganz plötzlich, so schnell wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Ich verstand nicht, warum er mich gehen lassen hatte.
Ich war jeden Tag zurück in die Gasse gegangen, um das Schicksal herauszufordern. In der Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen. Es war seltsam. Er übte eine Anziehung auf mich aus, die ich nicht verstand. Tief in mir spürte ich, dass nur er mein Tod sein würde. Und doch konnte ich nicht aufhören, immer und immer wieder hierher zu kommen. Es war wie ein Zwang, ein Zwang, der sich einfach nicht kontrollieren ließ. Ich musste einfach hierher zurückkommen. Ich musste ihn suchen. Oder vielleicht wartete ich auch nur darauf, gefunden zu werden, weil ich nicht wusste, wo ich suchen sollte.
Es war nur ein Windhauch, der meine Haare sanft bewegte, aber er verriet mir, dass er endlich gekommen war. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich mich zu ihm herumdrehte.
Er stand am anderen Ende der Gasse. Seine hellen Haare umschmeichelten in sanften Wellen sein blasses Gesicht. Er war schöner als alle Männer, die ich jemals gesehen hatte, aber ich vermutete, dass es zu ihm gehörte. Sicher war es seine Masche, mit der er Jagd machte, mit seinem Aussehen lockte er die Menschen an wie das das Licht die Motte und wickelte sie ein wie eine Spinne ihre Beute. Ich konnte ihn nur anstarren, brachte kein Wort über meine Lippen, obwohl er darauf zu warten schien, dass ich das Wort ergriff. Doch wir schauten einander nur an. Seine roten Augen bohrten sich in meine und kein Geräusch durchbrach die vollkommene Stille, alles erschien mir so unendlich weit entfernt, während wir in dieser schmutzigen Gasse standen, in der er wie ein Licht in der Finsternis wirkte.
„Du solltest nicht immer wieder hierher zurückkommen“, beendete er die Stille zwischen uns. Seine melodische Stimme hallte wie Musik in meinen Ohren wider.
„Ich konnte nicht anders“, war alles, was ich als Erklärung herausbrachte. Wie sollte ich auch erklären, was ich selbst nicht begreifen konnte?
Ich meinte, ein hauchzartes Seufzen aus seinem Mund zu hören, aber es konnte auch der Wind gewesen sein. „Komm nicht wieder!“, ermahnte er mich noch, bevor er wieder verschwunden war, als wäre er nie hier gewesen.
„Warte!“, rief ich, doch vergebens, wie es schien. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken und dennoch spürte ich seine Anwesenheit. Er war noch hier. „Bitte, geh nicht fort!“
Es war, als ob ein Wirbelwind mich packen würde und ehe ich mich versah, waren wir nicht mehr in der Gasse. Es sah aus wie ein verlassenes Haus, ein altes, verfallenes Anwesen, irgendwo im Nirgendwo, aber im Dunkeln war es schwer, Einzelheiten auszumachen. Nur er schien zu leuchten. Mit seiner blassen Haut schien er selbst beinahe so hell wie der Mond. „Ich meine es ernst, du solltest nicht dorthin zurückkommen. Nicht jeder von uns würde dich gehen lassen, so wie ich es getan habe.“
„Warum hast du mich gehen lassen?“, stellte ich die Frage, über die ich mir seit einer Woche den Kopf zerbrach.
Er antwortete nicht und erwiderte auch meinen Blick nicht.
„Ich will es nur verstehen!“, flehte ich. Was war es, dass ihn davon abgehalten hatte, mich zu töten?
„Ich bin ein Monster, Maggie“, sprach er und ich wunderte mich nicht, woher er meinen Namen kannte. „Aber du, du warst so rein und unschuldig in der Seele, dass ich es nicht über mich bringen konnte, dich zu töten. Und das hat beinahe mir selbst das Leben gekostet.“
„Warum?“
Er seufzte. „Du wirst nicht aufhören zu fragen, bis du alles weißt, oder?“
Ich schüttelte nur den Kopf. „Ich will wissen, warum du glaubst, ein Monster zu sein.“
„Ich glaube es nicht, ich bin eines. Ich bin verflucht. Ich bin ein Jäger. Für jeden Menschen, den ich töte, wird mir Zeit geschenkt. Ein weiterer Tag. Und ich kann nicht aufhören, ich kann nicht sterben, selbst die größten Schmerzen können mich nicht töten, ich werde ewig leben und ewig leiden, wenn ich nicht tue, was von mir verlangt wird. Eine Seele für jeden Tag. Ein Tod und mir läuft die Zeit nicht mehr davon. Ich versuche nur die bösen Menschen zu töten, denn niemand ist besser geeignet, ein Monster zu töten als ein anderes Monster. Und ich habe viele getötet, also sollte ich es wissen. Aber auch das gelingt mir nicht immer, manchmal bleibt mir keine andere Wahl.“ Prüfend musterte er mich. „Du hast keine Angst“, stellte er fest.
Wieder schüttelte ich den Kopf. „Wovor denn? Du tötest nicht, weil du es möchtest, sondern weil du es musst. Du machst diese Welt zu einem besseren Ort. Du entscheidest, ob du ein böses oder ein gutes Monster bist.“
„Was macht es für einen Unterschied? Ich bin ein Monster.“
„Vielleicht sind wir alle Monster. Was bedeutet es schon?“
Er blieb stumm und schaute mich nur an. „Komm nicht wieder zurück. Es ist sicherer für dich.“
Und mit diesen Worten verschwand er. Ich lächelte nur. Ich wusste genau, dass ich ihn eines Tages wiedersehen würde. Denn eines Tages würde er mein Tod sein.