Ich erinnere mich an die Begegnung, als wäre sie erst gestern gewesen, dabei liegt sie schon ein ganzes Leben zurück. Ich war damals gerade 20 Jahre alt, begierig darauf, die Welt zu entdecken, mich selbst zu finden, meine Zukunft zu erfahren. Heute bin ich fast 100 Jahre alt und ich spüre, wie der Tod nach mir greift.
Ich habe ein wundervolles Leben gehabt. Eine wundervolle Frau, tolle Kinder und Enkelkinder und ich durfte sogar mein Urenkelkind noch sehen, bevor ich bald die Reise ins Jenseits antreten werde, wo meine Frau auf mich wartet, das spüre ich genau. Ich habe ein ganzes Leben voller schöner Erinnerungen und Momente, auf die ich zurückblicken kann, und doch ist es eine einzige flüchtige Begegnung, die mir nicht aus dem Kopf gehen will, die mein Leben auf eine Weise geprägt hat, die ich mir niemals vorgestellt hätte.
Ich begegnete ihr zum ersten Mal im Zug. Ich weiß nicht mehr, wohin ich fuhr, vielleicht einfach auf den Horizont zu. Ich sah sie erst, als ich das Abteil betreten hatte, da ich gedacht hatte, ich wäre alleine. Sie richtete ihre Augen auf mich, die beinahe so weiß wie frisch gefallener Schnee waren. Noch all diese Jahre später erinnere ich mich genau an diese Augen. Sie schaute mich neugierig an und folgte mir mit ihrem Blick, als ich mich ihr gegenüber auf die Bank setzte.
Wir schwiegen eine ganze Weile, schauten uns nur an, versuchten einander zu gründen. Und dann brach sie die Stille mit einer einzigen Frage: „Wovon träumst du?“
Die Frage schien im ersten Moment so einfach. Eine Familie. Ein guter Job. Die Welt entdecken. Doch noch bevor ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie gewöhnlich diese Antwort war. Und sie war so ungewöhnlich, dass ich ihr nicht so eine einfache Antwort geben wollte. Stattdessen konterte ich: „Wovon träumst du?“
Sie lächelte, als hätte sie diese Antwort erwartet. Mir wurde klar, dass ich damit nur zum Ausdruck gebracht hatte, wie wenig Ahnung ich hatte. „Ich möchte für immer mit der transsibirischen Eisenbahn bis nach China fahren. Immer dem Sonnenaufgang entgegen.“
„Für immer?“, fragte ich irritiert.
Sie nickte nur, als wäre es völlig normal, eine Ewigkeit im Zug zu fahren. Vielleicht war es für sie normal, vielleicht war es auch für sie so außergewöhnlich wie sie selbst. „Und wovon träumst du?“
Noch immer wusste ich keine Antwort. Ich wusste nicht mal, wer ich war. Ich war noch auf der Suche nach mir selbst. Das sagte ich ihr auch. Und ich fragte sie, ob sie denn wisse, wer sie sei.
„Ich bin ein Niemand“, antwortete sie.
„Jeder ist ein Jemand. Auch wenn er es nicht weiß“, widersprach ich tröstend, obwohl sie nicht traurig wirkte.
„Muss ich denn Jemand sein? Wenn ich alleine Niemand bin, bin ich doch auch Jemand.“
Ich dachte lange über diese Frage nach. Eine befriedigende Antwort habe ich auch in meinem langen Leben nie gefunden.
Als ich aufwachte, war sie fort. Und ich sah sie nie wieder. Doch sie ließ mir die Gabe, in allem das Ungewöhnliche zu sehen und alles zu hinterfragen.
Ihr Bild stand damals in der Zeitung in dem Ort, in dem ich ausstieg. Sie hatte sich vor den Zug geworfen.