„Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“ Er schaute sie durchdringend an, versuchte zu ergründen, was sie wirklich dachte. Sie war ein Rätsel für ihn. Seit dem Moment, an dem sie vor seiner Gefängnistür aufgetaucht war, um ihn zu befreien, hatte er keine Ahnung, wer sie war, was sie wollte, warum sie tat, was sie tat. Sie war ein Mysterium, das er einfach nicht lösen konnte.
Sie durchsuchte weiter das Regal. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Sie wurden seit Wochen verfolgt, er war ein bekannter Rebell, den die Regierung lieber hinter Schloss und Riegel sehen würde. Und sie… Wer sie war, wusste er selbst nicht so genau. Und er wusste auch nicht, ob sie unverschämt viel Glück hatte oder was der Grund sein mochte, warum sie bisher allen Fallen entkommen war. Sie war eine Trickserin.
Sie war diejenige gewesen, die ihn hierhergebracht hatte. In den Laden eines alten Mannes, der in seinem Keller eine Unmenge alter Dokumente und Karten aufbewahrte. Es gab Gerüchte, dass es auch eine Karte gab, die in die Alte Welt führte.
Die Alte Welt war eine Legende. Dunkle Gewässer mit vielen Gefahren lagen zwischen dieser Welt und der Alten, aus der damals die ersten Menschen gekommen waren. Die Reise dorthin war gefährlich und es war eine Reise, die man nur ein einziges Mal machen konnte. Und man konnte nicht wieder zurückkehren, wenn man einmal gegangen war. Die ganze Zeit, in der er mit ihr zusammen gewesen war, hatte sie von nichts anderem gesprochen. Nicht, als sie bei ihren Eltern gewesen waren, die in einem abgelegenen Haus wohnten. Es hatte sie nicht bekümmert, dass ihr Vater gestorben war. Sie hatte ihm von vielen Dingen aus ihrer Kindheit erzählt, an die sie sich erinnerte. Dinge, die geschehen waren, bevor sie wurde, wer sie wurde. Sie hatte ihm nicht gesagt, wer sie war. Und es war so gewesen, als gehörten diese Erinnerungen ohnehin nicht länger ihr. Es schien ihr nicht schwerzufallen, ihre Mutter zurückzulassen, alles zu verlassen, was sie je gekannt hatte, um sich auf eine lange Reise in eine unbekannte Welt aufzumachen.
Er verstand sie nicht. Irgendetwas in ihr schien sie zu drängen, fort zu gehen. Und er wollte mit ihr gehen, in all der vielen Zeit, die sie nun schon zusammen verbracht hatten, hatte er nie mehr das Gefühl gehabt, am richtigen Ort zu sein und seiner Bestimmung so nahe zu sein, doch er wusste nicht, ob er wirklich alles zurücklassen konnte.
Sie antwortete nicht, aber auch so kannte er ihre Antwort. Sie kannte keine Zweifel bezüglich ihres Weges.
Von oben drangen Geräusche zu ihnen. Sie schaute zur Treppe, bevor sie sich wieder dem Regal zuwandte und rasch eine Karte wählte, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
„Ist das die richtige Karte?“, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe es. Komm!“ Sie ging tiefer in den Keller hinein. Er vertraute ihr und folgte ihr. Ihnen blieb keine Zeit mehr und der Weg über die Treppe war ihnen versperrt. Sie hatte immer einen Weg hinausgefunden und sie würde sicher auch jetzt einen finden.
Er hatte keine Ahnung, woher sie den Geheimgang kannte, ob sie schon einmal hier gewesen war oder ob sie einfach gut geraten hatte, aber sie führte ihn wieder ins Freie. Ihr Blick richtete sich auf das Meer und den Hafen. „Ich werde gehen“, verkündete sie und schaute ihn dann an. Ihre unergründlichen Augen hatten ihn von Anfang an in den Bann gezogen. „Du musst nicht mit mir kommen“, betonte sie, „Es ist deine Entscheidung. Ich bin mir mein Leben lang sicher gewesen, aber vielleicht ist deine Bestimmung eine andere als meine.“
„Glaubst du das?“, wollte er wissen. Gab es etwas, dass sie über ihn wusste, von dem er keine Ahnung hatte?
„Ich glaube, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Und meiner führt mich fort von hier.“
Er wollte mit ihr gehen. Und doch war diese Welt alles, was er kannte und er fühlte sich nicht bereit, alles hinter sich zu lassen. Traurig schaute er sie an. „Ich kann nicht mit dir gehen.“
Sie lächelte, als hätte sie diese Antwort erwartet. „Ich weiß.“ Ohne einen Blick zurück ließ sie ihn stehen und machte sich auf den Weg zum Hafen, die Karte in ihrer Hand. Sie hatte sie nicht einmal angesehen, aber sie schien sich sicher zu sein. So wie immer. Er würde das Rätsel um sie wohl nie lösen.
Er wandte seinen Blick ab und wandte sich ebenfalls zum Gehen. Doch mit jedem Schritt, den er sich von ihr entfernte, wuchs die Leere in ihm, derer er sich zuvor nicht bewusst gewesen war. Vielleicht hatte er sich getäuscht, vielleicht war seine Bestimmung doch, an ihrer Seite zu bleiben.
Ohne Zögern drehte er um und rannte zurück zu dem Hügel, auf dem sie beide gestanden hatten. Er konnte den Hafen sehen, das Meer und in der Ferne den Nebel, hinter dem das Geheimnis der Alten Welt verborgen lag. Die Legende sagte, dass das Tor zur Alten Welt nur alle hundert Jahre geöffnet war. Für einen Tag. Der Tag war bald vorbei und ihm blieb nicht mehr viel Zeit, wenn er ihr noch folgen wollte.
Doch als er in Richtung Hafen eilen wollte, ertönten Schritte hinter ihm und ehe er sich versah, traf ihn ein heftiger Schlag, der ihn zu Boden schickte. Sie hatten ihn gefunden. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen und zu flüchten, doch er hatte keine Chance. Sie drückten ihn zu Boden und er konnte nur hilflos zusehen, wie in der Ferne ein kleines Boot vom Nebel verschluckt wurde.
Sie war fort.
Und er würde sie nie wiedersehen.