Ich beobachtete den Mann, der vor dem Grab seiner geliebten Frau stand. In seinen blinden Augen glänzten die Tränen, die er noch nicht vergossen hatte. Ich fragte mich, wie er sich fühlen musste. Er hatte seine Frau geheiratet, mit ihr gelebt, gearbeitet und geliebt und nun hatte er sie begraben müssen – ohne sie jemals gesehen zu haben. Er wusste nicht, wie rot ihr Haar in der Sonne geleuchtet hatte, bevor es langsam grau geworden war mit der Zeit. Er wusste nicht, wie blau ihre Augen gewesen waren, so blau wie der Sommerhimmel, den er auch niemals erblickt hatte.
Ich fühlte das Mitleid in mir für ihn. Nicht nur dafür, dass er seine Frau verloren hatte, sondern auch dafür, dass er nie erfahren würde, wie sie ausgesehen hatte. Und ich hatte Mitleid mit ihr. Wie mochte es wohl für sie gewesen sein, dass er sie nie angesehen hatte? Dass er ihr nie gesagt hatte, wie wunderschön sie aussah?
Ich schloss die Augen, horchte auf die Geräusche des Windes, der Bäume und der Tiere, die sich in den Nischen versteckt hielten. Ich fühlte die Wärme der Sonne auf meiner Haut und wie der Wind mein Gesicht streichelte, meine Haare liebkoste. Ich roch den Duft des frischen Frühlingsregens, der die Welt erst vor einer Stunde mit Lebendigkeit erfüllt hatte. Ich schmeckte die Freiheit auf meiner Zunge.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so frei gefühlt, wie in dem Moment, in dem ich mit all meinen Sinnen erlebte, was ich sonst nur als schwaches Abbild vor Augen sah. Ich lebte.
Und ich begriff, dass er sie nicht mit den Augen gesehen hatte. Dafür hatte er in ihre Seele geschaut, weil sie sich geliebt und alles miteinander geteilt hatten. Für die Augen war das Wesentliche doch stets unsichtbar. Er hatte ihre Schönheit gesehen – auch ohne Augenlicht.