Er wusste nicht, wie es möglich war. War sie eine Einbildung seiner Schuldgefühle oder war sie wirklich ein Geist? Er hatte keine Antwort darauf und es spielte auch immer weniger eine Rolle. Er wusste nur vier Dinge sicher.
Er wusste, dass er sie hätte retten können und es nicht getan hatte. Er wäre ein passender Spender für eine Knochenmarkspende gewesen, aber er hatte abgelehnt. Weil er so auf sich selbst fixiert gewesen war, weil er seine Karriere als wichtiger erachtet hatte als die Rettung eines Menschenlebens. Seine unerträgliche Arroganz, die ihm mittlerweile so zuwider war, hatte ihren Tod verursacht.
Er wusste, dass sie hier war. Mochte sie eine Einbildung sein oder ein Geist, sie war hier, um ihn daran zu erinnern, was die wirklich wichtigen Dinge im Leben waren. Zu Anfang hatte er sie als Hirngespinst, als Halluzination abgetan und sich geweigert, ihr zuzuhören. Sie würde nur erlöst werden und Ruhe finden, wenn er gelernt hatte. Mittlerweile wollte er nicht lernen, weil sie dann gehen musste. Und er wusste, dass dieser Gedanke absolut egoistisch war.
Er wusste, dass er sie retten wollte. Wenn es eine Möglichkeit gab, dass er sie zurückholen könnte, würde er sie sofort ergreifen. Wenn er sein eigenes Leben geben könnte, damit sie eine neue Chance erhielt, würde er es tun.
Er wusste, dass er anders gehandelt hätte, wenn er sie damals gekannt hatte. Bevor sie gestorben war. Es war nicht richtig, er sollte sich schuldig fühlen, nicht weil sie gestorben war, sondern weil überhaupt jemand gestorben war. Und doch bereute er ganz besonders, dass er den Tod dieses einzigartigen Menschen auf dem Gewissen hatte, der ihn seit Wochen begleitete. Zu Anfang hatte es ihn wahnsinnig gemacht, dass er bei jedem Gespräch mit ihr schräg angeguckt wurde, weil niemand sonst sie sehen konnte und er für verrückt gehalten wurde. Er hatte versucht, sie zu ignorieren, aber das war ganz unmöglich, zu jedem seiner Taten hatte sie einen spitzen Kommentar gehabt und ihn in den Wahnsinn getrieben.
Irgendwann hatte er gelernt, ihr zuzuhören. Hatte von ihrem Leben erfahren, das schon immer von ihrer Krankheit geprägt worden war und dass sie von allen im Stich gelassen worden war. Irgendwann hatte er angefangen, Mitleid mit ihr zu empfinden, aber das hatte sie nie gewollt. Trotz allem war sie immer eine Kämpferin gewesen. Und irgendwann hatte er sich in ihre Stärke und in ihr Lächeln verliebt. Und er hatte begonnen, an seinem Verstand zu zweifeln, denn wie konnte er einen Geist lieben? Und doch war es so. Er liebte sie und wünschte, er hätte sie zu Lebzeiten gekannt.
„Ich werde nicht ewig bleiben können“, erinnerte sie ihn. Sie schien oft seine Gedanken lesen zu können, noch nie hatte er sich so verstanden gefühlt wie bei ihr.
„Vielleicht ja doch. Manche Bindungen sind vorherbestimmt. Vielleicht sind wir füreinander bestimmt und auch dein Tod hat nichts daran geändert“, entgegnete er. Er klammerte sich an den Gedanken, dass alles gut werden würde, dass sie einen Weg finden würden. Und doch wusste er, dass es nicht so einfach war. Er konnte nicht einmal beweisen, dass sie real war, obwohl sie für ihn realer war als sein ganzes Leben, in dem es vor falschen Worten und Menschen nur so wimmelte. Er hatte sie gebraucht, um das zu erkennen.
Sie lächelte traurig. „Wir sind nicht füreinander bestimmt, denn mein Schicksal ist der Tod, deines das Leben. Du solltest deine Energie nicht dafür einsetzen, eine Tote halten zu wollen.“
„Und wenn ich genau das will?“ Er streckte die Hand nach ihr aus, doch wie die Male zuvor glitt sie einfach durch sie hindurch. Er wünschte sich, dass er sie berühren könnte. Wenigstens ein Mal. Er wandte seinen Blick ab, damit sie seine Tränen nicht sah. Er schämte sich für seine Schwäche, auch wenn sie sich nie darum gekümmert hatte.
„Wir können uns unser Schicksal nicht immer aussuchen. Wir können nur das Beste aus dem machen, was uns gegeben ist.“ Ihre Worte hallten noch eine ganze Weile nach.
Als er sich ihr zuwandte, war sie fort. Und er wusste, dass sie nicht wiederkommen würde. Vielleicht war sie auch nie da gewesen. Das Loch in seinem Herzen würde jedoch für immer bleiben.