Das Mondkind
Du bist etwas Besonderes. Das hat meine Mama immer zu mir gesagt, als ich noch klein war. Damals habe ich nicht verstanden, was sie damit meinte. Ich wusste nur, dass die anderen Kinder Angst vor mir hatten. Und dass die Erwachsenen mich mit argwöhnischen Blicken beäugten. Selten traf mich auch ein neidischer oder bewundernder Blick aus der Ferne, aber alle hielten Abstand. Ich verstand nicht, warum sie es taten. Ich weiß nicht, wie oft ich mich nachts in den Schlaf geweint hatte, wenn die anderen Kinder mir wieder einmal nicht erlaubten hatten, mit ihnen zu spielen. Meiner Mutter brach es das Herz. Vergiss nicht, du bist etwas Besonderes. Du bist nicht wie die anderen. Das sagte sie immer wieder. Aber ich wollte nichts Besonderes sein. Ich wollte bloß normal sein. Normal wie die anderen Kinder und mit ihnen spielen.
Aber ich war nie normal. Und ich würde es auch nie sein. Es dauerte lange, bis ich das verstand und akzeptierte. Ich war nicht wie die anderen Kinder. Ich war nicht normal, aber normal war doch ohnehin relativ und Ansichtssache. Für mich war es völlig normal. Mein Leben wirkte angesichts der strahlenden Helden in ihren Rüstungen auf den großen Schlachtfeldern unserer Zeit, kämpfend für den Mond oder die Sonne und Könige, die sie nicht kannten, und den tapferen Frauen, die im Hintergrund ihre Fäden spannen, völlig banal. Für mich war es normal, von Dingen zu träumen, die an weit entfernten Orten geschahen, von mir durch Raum oder Zeit getrennt. Für mich war es völlig normal, Dinge zu sehen, die anderen offenbar entgingen. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass es eine besondere Gabe war, die nicht viele besaßen. Ich begann zu verstehen, was meine Mutter meinte. Ich begann, es zu akzeptieren. Ich war wirklich etwas Besonderes. Und ich begann, dieses Gefühl zu lieben. Aber große Gaben bringen große Verantwortung – und großes Leid.
Ich erinnere mich, dass es ein wunderschöner Frühlingstag war. Ich erinnere mich, dass die Vögel in den Bäumen gesungen haben. Und ich erinnere mich, dass die Sonne hoch am Himmel stand und ihre Strahlen meine Haut kitzelten. Es war das letzte Mal für eine lange Zeit, dass ich sie sah. Sie kamen am Mittag. Sie hatten von meiner Gabe gehört und wollten sie für sich. Große Gaben weckten immer Neid und Gier in den Menschen, das verstand ich an diesem Tag. Als ich mitansehen musste, wie sie meine Mutter töteten.
Sie nahmen mich mit und sperrten mich in einen dunklen Kerker.
Ich weiß nicht, wie lange ich bereits hier bin. Es waren zu viele Tage in der Dunkelheit. Genug Tage, um das Gesicht meiner Mutter langsam zu vergessen. Mit jedem Tag verschwimmt es mehr in einem Sog des Vergessens, verschwindet hinter einer grauen Nebelwand. Wie seltsam, dass ich zu jedem Ort und jeder Zeit Zugang habe in meinen Träumen, aber die eigenen Erinnerungen mir verschlossen bleiben…
Es war ein Tag wie jeder andere, als mein Leben eine unerwartete Wendung nehmen sollte. Ein Tag wie viele zuvor in unendlicher Dunkelheit, in der mir plötzlich ein Licht erschien. Ein Tag, an dem mein Schicksal besiegelt wurde. Es war mein Schicksal, diese Welt im Gleichgewicht zu halten. Ein Schicksal, das mich viel Leid und Schmerz kosten würde.
Dies ist meine Geschichte.
Meine Handgelenke fühlten sich taub an. Die Ketten hatten die Haut blutig gescheuert. Schon wieder. Es war bald Zeit für den Kerkermeister. Er kam jeden Tag um dieselbe Zeit, nur das half mir dabei, nicht die Orientierung in der Zeit zu verlieren. Wie oft er bereits da gewesen war, hatte ich vergessen. Jedes Mal stellte er mir dieselbe Frage: Ob ich bereit war, dem König des Mondes zu dienen? Meine Antwort war jedes Mal die gleiche. Ich sagte gar nichts. Menschen waren bedeutungslos angesichts der vielen Ebenen von Raum und Zeit, in denen ich mich bewegen konnte. Nur die Sonne und der Mond zählten, weil sie ewig waren.
Als Schritte auf der Treppe erklangen, hörten sie sich anders an als sonst. Viel leichtfüßiger als der schwerfällige Mann, den ich als Einzigen seit meiner Ankunft hier gesehen hatte. Ich hörte das Klirren von Schlüsseln, als die Tür zu meiner Zelle aufgestoßen wurde. Das Licht der Fackel, die mein Besucher in der Hand trug, blendete mich und ich musste den Blick abwenden. Konzentriert schaute ich auf die steinerne Mauer und wartete, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, dass das flackernde Licht der Flamme in den Raum warf. Ich konnte die Unebenheiten auf den Steinen sehen, die ich normalerweise nur erspüren konnte. Meine Sinne waren angespannt und auf das Geschehen hinter mir gerichtet. Während meine Augen noch gegen den Schmerz durch das Licht ankämpften, horchte ich genau auf die Schritte des Fremden. Wer immer es war – der Kerkermeister war es gewiss nicht – er konnte nichts Gutes hier wollen. Ich glaubte nicht an die Geschichten meiner Mutter, in der ein tapferer Ritter die Jungfrau aus den Fängen des Bösen rettete. So etwas passierte nur in Märchen. Niemand würde nach mir suchen. Niemand wusste, dass ich hier war und wer eine Ahnung davon hatte, dem war es egal. Die Bewohner meines Dorfes hatten mich gefürchtet, sie waren sicher froh gewesen, mich los zu sein. Sie würden mich nicht vermissen und hatten mich sicher schon vergessen.
Der Fremde trat näher. Ich war sicher, dass es ein Mann war – das hatte mir der kurze Blick auf seine Statur verraten, bevor das Licht mich zum Wegsehen gezwungen hatte. Ich hörte das Klirren von Waffen, die offenbar an seinem Gürtel hingen. Er trat einige Schritte auf mich zu. Die Tür ließ er offenstehen. Nicht, dass ich hätte fliehen können, wo ich doch an die eisernen Ringe, die in die Wand eingelassen waren, gefesselt war.
Er war jetzt neben mir angekommen. Ich konnte seine Nähe spüren und die Wärme der Fackel. Ich schloss meine Augen, als das Licht in meinen Augen brannte. Ich brauchte die Augen nicht, um zu sehen. Er ließ sich neben mir nieder, ich konnte seinen Blick auf mir spüren, dennoch sprach er kein Wort. Wollte er mich nicht ängstigen? Was wollte er von mir? Ich hörte erneut das Klirren von Schlüsseln, ich hörte Metall auf Metall, dann fielen meine Hände zu Boden, als er die Kette von den Ringen löste. Die Metallringe um meine Handgelenke drückten sich kalt gegen meine Hand, erinnerten mich daran, dass ich immer noch eine Gefangene war.
Kampfgeist erwachte in mir. Das war meine Gelegenheit. Die Tür stand offen, ich war von der Wand losgekettet worden und was immer der Fremde von mir wollte, konnte nichts Gutes bedeuten. Die Menschen taten nie etwas Gutes, wenn sie nicht eine entsprechende Gegenleistung erwarteten. Und ich wollte gar nicht wissen, was dieser Mann von mir wollte. Ich sprang ruckartig auf die Beine, kam taumelnd auf die Füße nach so langer Zeit des Sitzens und nutzte das Überraschungsmoment, um meine Ketten um den Hals meines Opfers zu schlingen. Ich drückte zu. Keuchend ließ der Mann die Fackel fallen und versuchte, seinen Hals aus meiner Schlinge zu ziehen, doch ich zog noch fester an. Als ich spürte, wie er langsam ohnmächtig zu werden begann, ließ ich los. Keuchend stürzte er auf den kalten Steinboden und stützte sich ab, während er nach Luft rang. Ich drehte mich um und rannte auf die offene Tür zu. Meine Beine wollten mich kaum tragen, weshalb ich nicht so schnell war, wie ich gehofft hatte. Ich taumelte gegen den Türrahmen und musste mich für einen Moment abstützen. Ich warf einen Blick über die Schulter, wo sich mein Opfer langsam zu erholen schien. Mir blieb nicht viel Zeit!
Ich stieß mich ab und taumelte in den Gang. Beinahe wäre ich gestürzt, doch ein zweiter Mann, der offenbar draußen gewartet hatte, griff nach mir. Er hielt mich auf den Beinen, doch sein Griff schloss sich zugleich so fest um meine Handgelenke, dass ich keine Chance mehr zur Flucht hatte. Ich zischte leise, als sich die eisernen Schellen auf die offenen Wunden drückten. Der Mann ließ etwas locker, als er merkte, dass er mir weh tat, aber er ließ mich nicht los. Ich versuchte verzweifelt, mich zu befreien, doch es war zwecklos. Ich saß in der Falle. Die Tränen rannen mir über die Wangen. Wie bitterlich mein kleiner Hoffnungsfunken erloschen war!
„Wir wollen dir nichts tun!“, versicherte mir der Fremde.
Ich sagte nichts. Nicht nur, weil ich meiner Stimme nicht traute, sondern auch, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Der Kerkermeister hatte mir auch jeden Tag gesagt, dass er mir eigentlich nichts tun wollte. Ich sollte doch endlich kooperieren, dann würde es mir viel besser gehen. Menschen waren eigennützig. Das war die einzige Sache, die ich mit Sicherheit sagen konnte. Ich hörte auf, mich zu wehren, weil ich wusste, dass ich ohnehin keine Chance hatte und meine Kräfte besser sparen sollte.
Der Mann schaute über meinen Kopf hinweg auf die Kerkertür. „Ist alles in Ordnung?“ In seiner Stimme schwang Sorge mit, als er den ersten Mann erblickte, der aus meiner Zelle trat.
„Ja, alles gut“, krächzte er und hustete. „Pass bloß auf, dass die kleine Wildkatze dich nicht auch noch angreift.“
Der Mann, der mich festhielt, lachte. „Keine Sorge, ich bin charmanter als du und jage den Mädchen nicht bei meinem Anblick so große Angst ein.“
Ich spürte die wütenden Blicke, die sich in meinen Rücken bohrten und die sowohl mir als auch dem zweiten Mann galten. Der Mann aus der Zelle schob sich an uns vorbei, nicht ohne mir einen letzten zornigen Blick zu schenken. Seine dunklen Augen bohrten sich in meine und ich blickte herausfordernd zurück. Egal, was diese Männer mit mir vorhatten, ich würde ihnen beweisen, dass ich nicht so schnell klein zu kriegen war. Ich hatte Ausgrenzung erlebt, den Tod meiner Mutter, Gefangenschaft und Folter. Es konnte nicht mehr schlimmer kommen.
Sie brachten mich in ihren Palast. Sie waren offenbar die Prinzen des Sonnenreiches, das seit Ewigkeiten mit dem Mondreich im Krieg lag, in dem ich geboren und auch gefangen gehalten worden war. Eine Dienerin half mir bei einem Bad, da ich ziemlich schwach auf den Beinen war, und ich wehrte mich nicht. Mir war dennoch nicht entgangen, das vor der Tür zu dem großen Gemach, das man mir zugewiesen hatte, zwei Wachen standen. Ich war immer noch eine Gefangene, darüber konnte auch die luxuriöse Umgebung nicht hinwegtäuschen. Ich wurde in ein Kleid gesteckt, das edler war als alles, was ich je besessen hatte, aber es fühlte sich falsch an.
Schließlich ließ die Dienerin mich alleine. Ich stellte mich an eines der großen Fenster, das sich nur einen Spalt öffnen ließ, aber ich wollte die frische Luft auf meinem Gesicht und in meinen Lungen spüren. Befreit atmete ich tief durch und vergaß für einen Moment, wo und in welcher Lage ich mich befand. Es würde sich so schnell nichts wieder daran ändern, dass ich eine Gefangene war. Vermutlich würde mein ganzes Leben so aussehen. Was war mein Leben dann schon wert?
„Wie ich sehe, seid Ihr nun gewaschen“, erklang eine Stimme hinter mir.
Mit einem letzten bedauernden Blick nach draußen in die Freiheit, drehte ich mich zu dem Prinzen um, den ich im Kerker mit meinen Ketten gewürgt hatte. Es war das erste Mal, dass ich ihn bei Tageslicht sah. Er hatte hellbraune Locken, ein ziemlich markantes Gesicht, von dem ich sicher war, dass es die Frauen nur so dazu brachte, von ihm zu schwärmen. Wozu sicher auch seine Augen beitrugen. Hatte ich sie anfangs für beinahe schwarz gehalten, wirkten sie im Licht der Sonne beinahe golden. Auch er schien mich zu mustern und ich fragte mich, was er wohl sah oder was er wohl sehen wollte und wonach er suchte.
Schließlich legte sich ein breites Grinsen auf seine Lippen. „Wie ich sehe, hat sich unter all dem Schmutz eine echte Schönheit verborgen gehalten.“ Und deshalb war er plötzlich nicht mehr wütend auf mich?
„Seid Ihr immer so oberflächlich?“, entgegnete ich.
Für einen Moment wirkte er aus dem Konzept gebracht. Offenbar wurden nicht oft seine Worte in Frage gestellt. Weil er ein Prinz war und weil er gutaussehend war. Damit standen ihm alle Wege offen. So war es in der Welt der Menschen eben, egal an welchem Ort und egal zu welcher Zeit.
„Ihr seid ganz schön frech“, bemerkte er.
„Warum? Weil ich Euch eine Frage gestellt habe? Ist das nicht erlaubt?“
„Doch, natürlich. Aber Ihr habt mit dieser Frage angedeutet, dass Ihr mich für oberflächlich haltet.“
„Oh, es war nur eine Andeutung? Ich dachte, ich hätte es klarer ausgesprochen.“
„Ihr wisst schon, dass mein Vater der König ist, oder?“ Ah, jetzt spielte er diese Karte aus.
Unbeeindruckt zuckte ich mit den Schultern. „Er ist nicht mein König. Was sind schon sterbliche Könige und Menschen gegenüber der Macht des Schicksals, das alles auf dieser Welt durch Raum und Zeit miteinander verbindet?“
„Ihr redet wie jemand, der es gesehen hat.“
„Und wenn es so wäre?“ Er wusste sicherlich genau, welche Gabe ich besaß. Sonst wäre er wohl kaum gekommen, um mich zu „befreien“. „Was habt ihr nun mit mir vor?“, wollte ich wissen und drehte mich wieder um. Ich schloss die Augen, um besser sehen zu können und ich wollte nicht, dass er merkte, wie ich es tat. Ich fühlte nach seiner Aura und versuchte einen Funken Unehrlichkeit zu entdecken.
„Euch wird hier nichts geschehen, Ihr seid hier sicher“, versprach er und tatsächlich konnte ich keine Lüge an ihm entdecken.
„Ich bin dennoch eine Gefangene – wenn auch in einem goldenen Käfig.“
„Nein“, widersprach er hastig, doch ich bemerkte das Zögern in seiner Aura und die Spur der Unehrlichkeit, die sich hineinschlich.
„Ihr seid ein Lügner“, erwiderte ich ruhig, „Ihr wollt mich benutzen, nur deshalb habt Ihr mich aus diesem Kerker geholt.“
„Wir wollen Euch nach Hause bringen“, meinte er, aber ich spürte, dass es noch nicht alles war.
„Und als Gegenleistung erwartet Ihr was genau?“
„Wir erwarten gar nichts.“ Die Lüge stand so deutlich im Raum, dass sie mich beinahe erdrückte, als sie sich ausbreitete.
Ich drehte mich wieder zu ihm herum. „Ihr seid gekommen, um mich zu holen, weil Ihr von meiner Gabe gehört habt und doch habt ihr vergessen, was es bedeutet. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen und Eure Lüge ist für mich so klar, dass Ihr mich nicht täuschen könnt. Menschen erwarten immer eine Gegenleistung und Ihr bildet keine Ausnahme. Also sagt mir, was Ihr wollt, dass ich für Euch tue, dann kann ich entscheiden, ob ich es vorziehe zu helfen oder mein Dasein in Eurem Kerker zu fristen. Es würde wohl kaum einen Unterschied zu vorher machen. Und was mein Zuhause angeht: Die Mühe könnt Ihr Euch sparen, es ist nichts mehr davon übrig“, sagte ich ohne den Funken eines Gefühls. Gefühle waren lästig und unbrauchbar und ich hatte vor langer Zeit begonnen, diese nutzlosen Dinge in mir auszurotten.
Ich spürte sein Mitleid und verzog angewidert das Gesicht. Menschen waren so einfältig. „Wir erwarten nichts von Euch“, brach er das Schweigen zwischen uns nach einer Weile, „Wir wollen Eure Hilfe, aber nur, wenn Ihr sie zu geben bereit seid. Wir werden Euch nicht zwingen, Eure Gabe für uns zu nutzen, wenn Ihr nicht freiwillig dazu bereit seid. Ihr könnt hier leben, so lange Ihr wollt und wenn Ihr gehen möchtet, werden Euch die Wachen vor der Tür nicht aufhalten. Ich würde es allerdings bevorzugen, wenn Ihr bleibt. Zumindest für eine Weile. Damit Ihr uns besser kennenlernen könnt und merkt, dass wir Euch nichts Böses wollen.“
Ich musterte ihn mit meinem durchdringenden Blick. Er war anders als ich und trug seine Gefühle offen zur Schau, sodass ich nicht einmal meine Gabe brauchte, um ihn zu lesen – es stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, was er dachte. „Warum sollte ich Euch vertrauen?“, fragte ich.
Er seufzte, bevor er nach etwas griff, dass er um den Hals trug. Es war eine Kette mit einem kleinen weißen Stein. Er trat auf mich zu, hielt aber zwei Schritte vor mir an, als wollte er mich nicht bedrängen. Oder als würde er sich noch lebhaft an meinen Überfall im Kerker erinnern. „Weil ich Euch auch vertraue“, meinte er und hielt mir die Kette hin. Ich verstand nicht, was er damit ausdrücken wollte. „Diese Kette hat meiner Mutter gehört und sie bedeutet mir viel. Ich vertraue sie Euch an. Gebt gut darauf Acht. Und wenn Ihr mir bedingungslos vertraut, gebt Ihr sie mir zurück.“
„Und wenn das niemals der Fall sein sollte?“
„Darauf lasse ich es ankommen“, meinte er. Er griff nach meiner Hand und legte die Kette hinein, bevor er sie darum schloss. Seine Finger waren warm und leicht rau. Er war sicher keiner dieser Prinzen, die sich nur im Schloss aufhielten. Er war ein Kämpfer. Der Prinz wandte sich ab und ging zur Tür. Dort angekommen drehte er sich noch einmal zu mir herum. „Im Übrigen: Mein Name ist Emery.“
„Meroë“, stellte ich mich vor.
„Ein schöner Name“, lächelte er und ich erwiderte das Lächeln zaghaft.
Die Zeit zog ins Land und langsam begann ich mich in der Stadt der Sonne einzuleben. Die Leute waren freundlich zu mir, aber ich war immer misstrauisch und hielt Abstand. Der Einzige, der sich nicht dauerhaft von meiner kühlen Fassade hatte abschrecken lassen, war Prinz Emery gewesen. Anfangs war er jeden Tag in mein Gemach gekommen und hatte mit mir geredet, selbst wenn ich selbst nicht viel sprach, weil ich nicht wusste, was er wirklich wollte und ich damit beschäftigt war, seine Absichten zu ergründen. Entweder verbarg er sie so gut, dass sie sich sogar meinem Seher-Blick entzogen, oder er wollte mir wirklich nur Freundlichkeit entgegenbringen.
Irgendwann gingen wir dazu über, jeden Tag gemeinsam durch die Stadt zu gehen. Und irgendwann begann ich damit, auch von mir zu erzählen. Und irgendwann war er mein bester Freund geworden – und ich seine beste Freundin. Doch mittlerweile war mir das nicht mehr genug. Da war diese Wärme in mir, wenn er bei mir war, und die Sehnsucht, wenn er es nicht war. Ich wusste, dass es bedeutete, dass er für mich nicht bloß ein Freund war, sondern so viel mehr, aber ich sperrte diese Gefühle tief in mir weg. Ich durfte ihm nicht bedingungslos vertrauen und war nicht bereit, ihm mein tiefstes Inneres zu öffnen. Dennoch kam ich nicht gegen die Eifersucht an, wenn er anderen Frauen schöne Augen machte. Zwischen uns würde ohnehin niemals etwas sein, da er einer Fürstentochter aus dem Mondreich versprochen war. Die Verbindung war wichtig - als erster Schritt in Richtung eines dauerhaften Friedens und ein Ende des endlosen Krieges zwischen Mond und Sonne. Das war wichtiger als meine lächerlichen Gefühle für ihn.
Doch in manchen Momenten vergaß ich all diese Vorsätze. Wenn Emery mich ansah, als wäre ich das Wertvollste in seinem Leben, wenn er mir sagte, dass er sich ohne mich kein Leben mehr vorstellen könnte, dann wollte ich glauben, dass er meine Gefühle teilte. Auch wenn es verboten war.
Und dann kam der Tag, an dem die Mondfürstin den Hof erreichte. Ihr silbernes Haar leuchtete und ihre blauen Augen strahlten. Sie war eine Schönheit, der sofort alle Männer am Hof verfallen waren.
Und in dieser Nacht begannen die Albträume.
„Sie ist wirklich wunderschön“, bemerkte ich, als Emery mich am Tag nach der Ankunft besuchen kam. Ich schaffte es, die Traurigkeit aus meiner Stimme zu verbannen. Gestern hatten wir uns nicht wirklich gesehen außer bei dem offiziellen Empfang und ich hatte mich heute auch nur auf meinem Zimmer verkriechen wollen, aber Emery hatte sich nicht abwimmeln lassen. Er konnte wirklich stur sein, wenn er etwas wollte und gab niemals auf. So hatte er auch um unsere Freundschaft gekämpft.
„Ja, das ist sie wirklich“, murmelte er nachdenklich und versetzte mir damit einen Stich. „Aber Schönheit sagt noch nichts über den Charakter aus.“
„Ist sie nicht nett?“
Er zuckte mit den Schultern. „Da ist etwas an ihr…“ Seine Miene verriet sein Misstrauen. Spürte nicht nur er es? Ich wollte ihm von meinen Träumen erzählen, aber als er aufsah und mich mit seinen goldenen Augen direkt ansah, war alles vergessen. „Na ja, ich habe keine Wahl als sie zu heiraten.“
„Freust du dich denn gar nicht?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort nicht wissen wollte. Ich wich seinem Blick aus und strich über die Maserung eines kleinen Tisches, als wäre sie hochinteressant. Es würde mir das Herz brechen, wenn ihn die Heirat glücklich machen würde, aber ich wollte auch nicht, dass er unglücklich war, auch wenn es bedeutete, dass es mir wehtun würde.
„Wie könnte ich? Ich will sie nicht heiraten. Und du weißt das.“
Ich drehte mich zu ihm herum. „Woher sollte ich das wissen?“
Er erhob sich von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und trat auf mich zu. Ich widerstand dem Drang, zurückzuweichen, als er direkt vor mir anhielt. Er strich mir eine Strähne meines blonden Haares aus dem Gesicht und seine Finger hinterließen eine kribbelnde Spur auf meiner Wange. „Weil es eine andere Frau in meinem Leben gibt, die ich liebe.“
„Davon hast du mir nie etwas gesagt“, brachte ich heraus, während mein streikendes Gehirn noch versuchte, die neue Nachricht zu verarbeiten. Wer war ihm auf diese Weise aufgefallen? Und warum hatte ich nie etwas bemerkt?
„Ich dachte, es wäre dir aufgefallen. Du siehst mehr als andere, aber wenn es um die Liebe geht, sind wir wohl alle blind. Wie könnte ich irgendeine Prinzessin lieben, wenn es für mich doch nur dich gibt?“ Und mit diesen Worten küsste er mich.
Es war, als würde die Welt aus den Angeln gehoben werden, um sich am richtigen Platz wieder zusammenzufügen. Ich fühlte mich leicht wie eine Feder, als das Feuer des Kusses durch meine Adern rann.
Erst als er den Kuss löste, kam ich wieder zur Vernunft und wich einen Schritt zurück. „Nein“, keuchte ich, „Du kannst mich nicht lieben.“
„Warum nicht?“
„Ich bin bloß ein einfacher Mensch. Eine Bürgerliche. In einem anderen Leben wäre ich wohl nur eine Dienerin gewesen.“
„Und selbst dann wärst du mir sicherlich aufgefallen, denn du bist so viel mehr als das. Auch ohne deine Gabe. Du musst nicht durch Zeit und Raum sehen können, um besonders zu sein.“ Er folgte mir und sein Blick hielt mich gefangen. „Du siehst mehr, weil du mit deinem Herzen siehst. Und dein gutes Herz ist Teil von dir, nicht von deiner Gabe. Und deshalb liebe ich dich.“ Wieder küsste er mich. Und dieses Mal machte er nicht den Eindruck, als wollte er ihn enden lassen. Und ich wünschte mir, er würde wirklich für die Ewigkeit dauern.
Dieser Tag war der Anfang vom Ende.
Am nächsten Tag war Emery wie verändert. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte, war aber nach der letzten Nacht nicht besonders wach. Ich hatte wieder geträumt. Vor meinen Augen waren die Stadt und der Palast in Flammen aufgegangen. Alle Bewohner waren getötet worden oder hatten fliehen müssen. Blut war durch die Straßen geflossen, während Asche vom Himmel regnete, bis schließlich nichts mehr übrigblieb als Staub. Ich zitterte, als ich am Morgen erwachte. Das durfte nicht passieren! Die Dinge, die ich gesehen hatte, durften nicht wahr werden.
Ich musste unbedingt mit Emery darüber sprechen. Aber an diesem Tag kam er nicht. Und als ich am nächsten zu ihm gehen wollte, wollte er mich nicht sehen. Am dritten Tag sah ich ihn dann mit der Prinzessin, deren Namen ich nicht einmal kannte und der mir auch nichts bedeutete, durch den Park schlendern. Sie lachten und küssten sich wie Frischverliebte und es brach mir das Herz. War ich nur ein Spiel gewesen?
Ich versuchte meine Gefühle hintenan zu stellen. Ich musste diese Stadt retten, das war erst einmal das Wichtigste. Doch als ich mit Emery darüber sprach, schickte er mich fort, vor allem als ich erzählte, dass die Träume mit der Ankunft der Prinzessin verbunden gewesen waren. Er warf mir Eifersucht vor und schickte mich fort. Die Hochzeit war bereits für den nächsten Tag angesetzt worden.
Ich hielt es hier keine Sekunde länger mehr aus. Ich verließ den Palast. Aeric, Emerys Bruder und der Thronfolger, begleitete mich. Er war in der langen Zeit im Schloss auch zu einem Freund geworden, auch wenn er mir nicht das bedeutete, was Emery mir bedeutete.
Er brachte mich an einen sicheren Ort. Einem Kloster, das im Grenzgebiet zwischen Sonne und Mond lag und in dem besondere Kinder, Kinder mit Gaben wie ich, ein Zuhause fanden. Dort würde ich auch ein neues Zuhause finden können.
An dem Tag, an dem meine große Liebe eine andere Frau heiratete, legte ich ein Gelübde ab, dass mich für immer an einen Ort binden würde, der sich dem Schutz der beiden Reiche verschworen hatte. Ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte.
Ein Jahr verging. Ich versuchte nicht zu viel an Emery zu denken und an das, was ich verloren hatte, aber es fiel mir schwer. Meine Klosterschwestern und -brüder waren sehr freundlich. Wir alle bildeten eine Familie, die zusammenhielt und sich unterstützte. Ich lernte besser mit meiner Gabe umzugehen und lernte, besser zu erkennen, was etwas bedeutete, dass ich sah. Ich lernte zu helfen und dass ich nicht alleine war.
Dann sah ich, wie der Mondkönig ermordet wurde. Von einem Mann mit weißem Haar und blauen Augen. Die Ähnlichkeit zu seiner Schwester war verblüffend.
Wir baten den Sonnenkönig um Hilfe. Aber er glaubte uns nicht. Er glaubte mir nicht. Ich konnte mich irren. Und was ging ihn das Mondreich letztlich schon an? Wir waren alleine. Wir waren alleine, als der neue Mondkönig mit seinen Truppen vor unseren Toren stand.
Wir entzündeten die Leuchtfeuer, um den Sonnenkönig zu warnen. Hilfe würden wir keine mehr erhalten, aber vielleicht konnten sie sich besser vorbereiten. Die Stadt hatte einen breiten Verteidigungsring und viele Soldaten. Aber es gab eine falsche Prinzessin in ihren Reihen und ich hatte die Stadt brennen sehen. Ich hatte nicht viel Hoffnung. Aber nichts davon würde ich noch erleben müssen. Dies würde mein letzter Tag sein.
Wir wurden vollkommen überrannt, so unterlegen wie wir waren. Alle wurden getötet. Meine Familie. Meine Freunde. Nur mich ließ er am Leben. Er wollte sich meiner bedienen, aber ich weigerte mich. Er ließ mich in sein Zelt bringen und versuchte alles, um mich zu überzeugen, aber ich dachte nicht daran, ihm meine Kräfte zur Verfügung zu stellen.
In einem unachtsamen Augenblick schaffte ich es, ihm seinen Dolch zu entwinden. Völlig furchtlos blickte er mir entgegen, als ich ihm die scharfe Klinge an den Hals hielt. Er schien sich seiner Sache absolut sicher zu sein und vermutlich hatte er Recht. Seine Wachen würden mich aufhalten. Sie würden mich nicht töten, weil er mich brauchte, aber sie würden mich quälen. Doch ich konnte nicht zulassen, dass er das Sonnenreich zerstörte. Ich stach ihm den Dolch mitten ins Herz. Er lachte nur, als ich ihn wieder herauszog und fassungslos zusah, wie sich die Wunde schloss. Er war ein Unsterblicher.
„Was du eben mit mir getan hast, werde ich mit deinem kleinen Prinzen machen. Und du wirst zusehen dürfen. Und eines kann ich dir sagen: Er wird es sicher nicht so gut überstehen wie ich.“ Sein grausames Lachen hallte in meinen Ohren wider. „Glaubst du wirklich, er hätte dich geliebt?“, höhnte er und traf mich damit zielsicher ins Herz.
„Nein, aber das ändert nichts an meinen Gefühlen für ihn“, gab ich zurück. Mit diesen Worten rammte ich mir den Dolch in die Brust. Er würde mich nicht bekommen. Er würde meine Kräfte nicht bekommen. Mit dem Tod war ich sicher vor ihm.
„Die Stadt ist verloren! Wir müssen fort von hier!“, schrie ihm sein Bruder Aeric über das Tosen der Flammen und dem Kampflärm zu.
„Nein, wir können die Stadt nicht einfach aufgeben!“, rief Emery zurück. Das alles war seine Schuld, er hatte sich blenden lassen von der Schönheit der Mondfürstin, war ihr verfallen und hatte nicht bemerkt, wie sie hinter seinem Rücken Intrigen schmiedete.
Er hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen. Und nun war sein Vater tot, sein Volk wurde abgeschlachtet und seine Stadt stand in Flammen.
„Wir müssen die Überlebenden in Sicherheit bringen, bevor es zu spät ist!“, hielt Aeric dagegen.
Widerwillig nickte Emery, weil er seinem Bruder Recht geben musste. Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten retten, was zu retten war.
Über einen geheimen Gang entkamen sie dem Inferno, das nur wenige überlebt hatten.
Der Weg zum Kloster, wo sie hofften, in Sicherheit zu sein, war beschwerlich. Sie hatten keinerlei Vorräte und zahlreiche Verletzte. Als das Kloster endlich in Sichtweite kam, bot sich ihnen ein erschreckendes Bild: Nur noch rauchende Ruinen waren von dem einst mächtigen Bau übrig. „Nein“, flüsterte Emery hilflos, während der Schmerz in seinem Herz explodierte. Während der letzten Tage hatte ihn die Hoffnung am Leben gehalten, hatte ihn weitermachen lassen, obwohl die Trauer und das Gewicht der Schuld auf seinen Schultern drückten. Er hatte gehofft, dass wenigstens Meroë fernab der Stadt verschont geblieben war. Er hatte gewusst, wie sinnlos diese Hoffnung war, aber dennoch hatte sie sich in seinem Herzen breit gemacht und ein kleines Flämmchen entfacht, das ihm die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte.
„Wir müssen in den Ruinen nach Vorräten suchen“, murmelte Aeric, der neben ihn getreten war und mit starrem Blick auf die Ruinen schaute. Auch ihn hatten die letzten Tage mitgenommen und auch wenn es ihr Reich nicht mehr gab, so war er doch ihr Anführer. Er ließ sich nicht von seinen Gefühlen übermannen, sondern bewahrte einen klaren Kopf und Emery wusste, dass er ihn unterstützen musste, wo er nur konnte. Die Brüder mussten jetzt zusammenhalten.
„Du hast Recht“, nickte er und setzte sich wieder in Bewegung. Mit jedem Schritt den Hügel hinab, von dem aus sie auf das Kloster geblickt hatten, wurde sein Herz schwerer, aber er zwang sich, einen Schritt vor den anderen zu machen, bis sie schließlich die Ruinen erreicht hatten.
Ihre wenigen Begleiter suchten sich einen halbwegs geschützten Raum, um dort ein Feuer zu entzünden und den Verletzten eine Möglichkeit zum Ausruhen zu geben, während die Gesunden nach Vorräten suchten. Emery schloss sich ihnen an. Sie fanden ein wenig Essen, aber lange würde es nicht reichen. Sie brauchten einen Ort, an dem sie alle sicher waren.
Ein schwaches Glitzern in den Trümmern erregte seine Aufmerksamkeit und er griff nach dem Gegenstand. Es war eine Kette. Die Kette, die er Meroë vor all den Jahren geschenkt hatte. Fest schloss er seine Hand darum, als er nicht länger gegen die Tränen ankam. Er hatte sie verloren. Seine große Liebe. Vor einem Jahr hatte sie ihn verlassen, weil er sich von einer falschen Prinzessin verführen lassen hatte, und nun war sie endgültig fort und er würde sie nie wiedersehen.
„Ist alles in Ordnung?“ Besorgt musterte Aeric ihn, als er die Überreste des Raumes betreten hatte.
Hastig wischte sich Emery die Tränen weg. Er musste stark sein. Er war der Prinz. Alle sahen zu ihm auf, er musste Stärke demonstrieren. „Ja, alles gut.“
Aeric trat näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich vermisse sie auch. Und alle anderen, die wir in den letzten Tagen verloren haben. Und ja, wir müssen stark sein. Aber in diesem Moment ist niemand hier. Niemand kann dich sehen. Es ist in Ordnung, wenn du deine Gefühle einen Moment zulässt.“
„Sie fehlt mir“, schluchzte Emery, der durch die Worte seines Bruders bestärkt nicht länger an sich halten konnte.
„Ich weiß“, murmelte Aeric und in dessen Augen spiegelte sich seine eigene Trauer. Emery wusste, dass Aeric in den letzten Tagen ebenso viel verloren hatte, wie er selbst. Sie hatten ihren Vater verloren – und ihre große Liebe. Aeric hatte ein Mädchen aus der untersten Schicht geliebt, das hatte er Emery eines Tages erzählt, aber sein Vater hätte die Hochzeit niemals zugelassen. Und nun hatte er auch sie verloren.
„Es tut mir leid. Das alles ist meine Schuld. Ich habe mich täuschen lassen.“
„Wir alle haben uns täuschen lassen. Es ist zu spät, um sich Vorwürfe zu machen. Wir müssen weitermachen und das Beste aus der Situation machen, das ist alles, was uns übrigbleibt.“
„Ich weiß“, murmelte Emery. Er steckte die Kette in die Tasche seiner Hose. Vor all den Jahren war sie ein Geschenk gewesen, um ihr sein Vertrauen zu beweisen. Und als sie ihm die Kette an ihrem letzten Tag zurückgeben wollte, hatte er sie ihr endgültig geschenkt. Ein Zeichen ihrer Verbundenheit.
In dieser Nacht träumte er von einem Raben. Der silberne Schimmer in seinen schwarzen Augen erinnerte ihn an Meroë. Der Rabe schaute ihn einfach nur an, bevor er sich umdrehte und in einem Nebel verschwand. Emery folgte ihm, er hatte keine Angst, er wusste instinktiv, dass der Rabe ihn beschützen würde. Er wollte ihm offenbar etwas zeigen. Als sich der Nebel lichtete, erschien ein riesiges Gebäude vor ihm, das aus purem Licht gebaut zu sein schien. Er hatte in Geschichten von diesem Ort gehört. Der Wohnort der Götter. Des Gottes der Sonne und des Mondes an einem gemeinsamen Ort.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß der Rabe aus seinen Träumen auf einer der zerstörten Mauern des Klosters und schaute ihn erwartungsvoll an. Der Vollmond prangte hoch am Himmel.
Es war schwer gewesen, Aeric zu überzeugen, dass der Rabe sie an einen Ort führen würde, wo sie mit den Göttern sprechen könnten und sie um Gnade oder Hilfe bitten konnten. Um einen sicheren Ort für die Menschen, die ihrer Verantwortung unterstanden. Aeric hatte ihm nicht geglaubt, als er gesagt hatte, dass er fest davon überzeugt war, dass Meroë ihnen den Raben gesandt hatte, an welchem Ort auch immer sie jetzt sein mochte. Doch schließlich hatte er sich bereiterklärt, den Versuch zu wagen. Die Menschen würden weiterziehen und in nahe gelegenen Dörfern Zuflucht suchen, bis die Prinzen zurück waren.
Und so waren sie losgezogen. Der Rabe hatte ihnen den Weg gewiesen und sie waren ihm gefolgt, tagelang, wochenlang. Und schließlich erreichten sie den Ort, den er in seinen Träumen gesehen hatte. Ein Schloss aus purem Licht. Ein Mann erwartete sie bereits auf den Stufen vor dem Tor, auf dessen ausgestrecktem Arm sich der Rabe niederließ. „Ich danke dir“, meinte der Mann mit melodischer Stimme und strich dem Raben über das seidene Gefieder. „Willkommen in meinem Reich. Ich habe euch bereits erwartet.“
„Seid Ihr der Gott des Mondes?“, wollte Emery wissen. Jeder wusste, dass der Rabe ein Zeichen der Nacht war, ein Diener des Mondgottes.
„Ich bin der Gott des Mondes. Ich bin der Gott der Sonne. Wir sind eins.“
„Aber der Mond und die Sonne sind zwei verschiedene Dinge!“, protestierte Aeric, der seinen Glauben und den seiner Vorfahren in Frage gestellt sah. Seit Jahrhunderten führten die Anhänger der Sonne und die Anhänger des Mondes Krieg und nun sollten sie eins sein?
„Sind sie das wirklich? Sie sind Licht, sie sind Dunkelheit. Sie sind Gegensätze und sie sind gleich.“
„Warum wolltet Ihr, dass wir zu Euch kommen?“, fragte Emery.
„Weil du dafür ausgewählt wurdest, die Wahrheit zu erkennen und sie den Menschen zu erzählen. Damit der Krieg ein Ende hat.“
„Ich? Warum ich?“
Der Gott lächelte. „Weil du das Herz meiner Tochter besitzt.“
Der Rabe auf seinem Arm schwang sich mit einem Flügelschlag in die Luft, bevor er sich in Licht auflöste. Als das Licht verschwand, stand eine junge Frau neben dem Gott auf der Treppe. Ihr einst blondes Haar war schwarz, aber ihre silbernen Augen, die blasse Haut und die Gesichtszüge waren unverkennbar dieselben. „Meroë“, keuchte er.
Sie neigte lächelnd den Kopf und sprach kein Wort. Sie war hier und doch wieder nicht. Sie war wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Sie trafen sich im Garten des Lichtschlosses, in dem die wunderlichsten Blumen blühten, die ebenso wie alles aus reinstem Licht zu bestehen schienen. „Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen“, begann er.
Sie lächelte ihn an. „Ich bin nicht mehr die, die du kanntest.“
„Du hast eine andere Haarfarbe, aber du bist es.“
Ihr Lächeln war undurchsichtig. „Du missverstehst mich. Ich bin gestorben, aber tot bin ich nicht. Ich bin ein Dazwischen. Ich bin ein Rabe. Und auch wieder nicht. Manchmal weiß ich kaum noch, wie es ist, ein Mensch zu sein. Selbst meinen Namen vergesse ich immer öfter.“
„Dann werde ich ihn dich nicht vergessen lassen, Meroë. Ich werde einen Weg finden, dich aus diesem Dazwischen zu befreien, ich werde mit dem Gott reden. Und dann werde ich dich heiraten. Etwas, das ich gleich hätte tun sollen.“
Noch immer lächelte sie. „Du hast vergessen zu fragen, ob ich auch möchte.“
„Würdest du mich abweisen?“
„Das spielt keine Rolle“, war die einzige Antwort, die er bekam, als sie sich erneut in Licht auflöste und mit wenigen Flügelschlägen im Nichts verschwand.
Er hatte versagt. Seine Anwesenheit im Lichtschloss war eine Prüfung gewesen und er hatte sie nicht bestanden. Er wusste nicht, was geprüft worden war und wann, aber der Gott hatte ihn verurteilt. Zum Tod. Sollte so sein Schicksal aussehen?
„Nein, Vater“, erklang ihre Stimme, „Lass ihn am Leben.“
„Warum sollte ich das tun? Ich weiß, du liebst ihn, aber er hat versagt. Er hat sein Volk im Stich gelassen, er hat sich täuschen lassen.“
„Menschen machen Fehler. Aber sie stehen für sie ein und versuchen sie zu ändern, sie können bereuen. Selbst die Götter sind nicht unfehlbar, also lass ihn am Leben, bevor du merkst, dass es ein Fehler ist.“
„Du weißt, dass sein Leben ein Opfer verlangt.“
„Mein Schicksal wurde besiegelt in dem Moment unserer ersten Begegnung.“
Er verstand nicht, wovon sie sprachen. Der Gott legte eine Hand auf die Stirn seiner Tochter und berührte mit der anderen Emerys Stirn. Alles löste sich in Licht auf und eine Macht durchfuhr ihn, wie er sie noch nie verspürt hatte.
Er fühlte sich stärker und lebendiger als jemals zuvor. Als er aufwachte, war das Lichtschloss verschwunden. Aeric lag neben ihm an einem Lagerfeuer, wie in der Nacht, bevor sie das Schloss erreicht hatten. Als wäre alles nie geschehen und doch spürte er in sich eine Kraft, die vorher nicht dort gewesen war.
In der Nacht träumte er von ihr.
Er hatte geglaubt, sie ein zweites Mal verloren zu haben und doch stand sie ihm nun so lebendig vor Augen. Sie stand in einem Boot, das auf einem dunklen Meer schwamm, ein Boot, das leuchtete wie die Mondsichel. Und da wusste er, dass sie fortan über den Himmel reisen würde, ein Blick hinauf zum Mond und er könnte sie sehen. Sie war so fern und doch so nah.
War es nur ein Traum? Es war bedeutungslos. Wenn ihnen nur die Nächte, nur die Träume gehörten, dann war es ihr Schicksal. Sie war das Kind des Mondes, er war das Kind der Sonne und zusammen waren sie das Licht der Welt.