Die Sonne versank in der Ferne am Horizont, tauchte die Welt für einige wenige letzte Momente in leuchtendes Rot. Ein wunderschöner Anblick, der mich oft an Blut erinnerte, als Mahnung daran, dass in jeder Schönheit auch Grausamkeit steckt. Die Schönheit war nichts weiter als eine Fassade, hinter der sich die wirkliche Welt versteckte. Doch ich musste erst Jasper kennenlernen, bevor ich begriff.
Der Wind spielte mit meinen Haaren, ließ sie tanzen, fliegen, frei sein, doch sie blieben gefesselt an meine Haut. Schönheit, die gefangen ist. Von dem Dach des alten Zuges aus konnte man über die weite Ebene sehen, die vor uns lag, eine Weite, die es zu entdecken galt, die Ferne voller Geheimnisse, voller unbekannter Schönheit und versteckter Hässlichkeit.
Ich wandte meinen Blick von dem blutroten Sand ab, der mit der untergehenden Sonne ein letztes Mal Wärme in sich aufnahm, bevor die Kälte der Nacht sie ihm rauben würde. Ich schaute zu dem Mann, der neben mir auf dem Dach saß. In seinen Haaren tanzte der Lichtschein der Sonne, ließ sie ebenso blutrot leuchten wie den Sand. Seine Augen waren gen Boden gerichtet, als könnte er den Anblick des Sonnenuntergangs nicht ertragen, weil er genau um die Dunkelheit wusste, die in ihm steckte. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen, in Gedanken versunken war er in Momenten und Erinnerungen gefangen, die ihm zu diesem Lächeln verholfen hätte.
In der normalen Welt wäre er anders. So würden die ‚normalen‘ Menschen es sehen, Menschen wie ich, die nicht weiter auffielen, sondern in der Masse verschwanden. In der zunehmenden Dunkelheit konnte ich weder seinen Ohrring noch sein Piercing am Mundwinkel geschweige denn seine Tattoos sehen, bei denen ich bei kaum der Hälfte um ihre Bedeutung wusste, obwohl es mich brennend interessierte. Sie erzählten eine Geschichte, eine Geschichte, die sich mir noch nicht erschloss und die ich vermutlich niemals kennenlernen würde, denn es war seine Geschichte.
Er war anders. In der normalen Welt würde er auffallen, die Leute würden ihn anstarren, ihn verurteilen, weil sie ihn nicht kannten, aber weil er aus der Masse herausstach. Doch hier war alles anders. Hier war ich diejenige, die nicht in das Gesamtbild passte, weil hier jeder anders war. Dies hier war seine Welt, eine Welt, die ich kaum verstand und in die ich nicht gehörte, weil ich wie alle anderen in der Welt dort draußen war.
Die Sonne versank am Horizont und nahm das letzte Licht mit sich. Vereinzelte Lampen vermochten es nicht, die Dunkelheit zu durchdringen. Aber ich musste ohnehin nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie alle in der Dunkelheit herauskamen, weil sie keine Angst mehr hatten, sich nicht mehr verstecken zu müssen glaubten. Dabei sahen die Menschen ohnehin nie genau hin.
Sie sahen eine Frau mit meerblauen Augen, eine Schönheit, so überirdisch, dass es nicht normal sein konnte. Sie sahen nicht, wie sich diese Frau in den Nächten in eine Meerjungfrau verwandelte. Sie glaubten, es sei ein Trick, eine Täuschung.
Sie sahen einen Mann, dessen Gesicht vollkommen behaart war und wandten sich angewidert ab. Sie sahen nicht, dass dieser Mann sich bei Vollmond in einen Wolf verwandelte.
Sie alle waren hierhergekommen in der Hoffnung, normal zu sein, denn auch wenn nie etwas Falsches an ihnen war, wurde es ihnen glauben gemacht.
Die Menschen hielten den Zirkus für einen romantischen Ort, sie sahen nicht die Welt hinter der Fassade. Eine Welt, in der die Menschen Gefangene ihrer selbst waren, weil sie nicht in meine Welt gehörten und sonst keinen Platz hatten. Eine Welt, in der sie langsam zugrunde gingen und niemanden kümmerte es. Niemand machte sich je die Mühe, hinter die Fassade zu blicken. Eine schöne Fassade, die das wahre Wesen der Menschen hinter sich verbirgt.
Sie sind Gefangene und trotzdem bleiben sie. Weil sie eine Familie sind. Eine Familie, die miteinander verbunden ist, weil sie alle etwas Besonderes sind und keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können.
Ich warf einen Blick auf den Mann an meiner Seite. Welches Geheimnis mochte wohl hinter seinem traurigen Lächeln stecken?